Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sreiungskrieg und auf den Wiener Congreß, im sechsten nach Hannover und
Göttingen, wo wir die Zeit der Restauration, der Karlsbader Beschlüsse und
der Demagogenfängerei (welcher in der deutschen Rechtsgeschichte nur die
Hexenprocesse würdig an die Seite gestellt werden können), darin die Juli¬
revolution und die tragikomische "Göttinger Revolution" und endlich das
hundertjährige Universitätsjubiläum erleben; der sechste Band schildert uns
die Zeit vor Achtundvierzig, den Verfassungsbruch des Königs Ernst August,
die erbitterten, aufreibenden und resultatlosen Kämpfe dagegen; der siebente
und achte erzählt den Aufschwung, die Hoffnungen, die Täuschungen von
Achtundvierzig in Berlin, in Frankfurt und in Hannover, dessen politische
Capacitäten, wie namentlich der geistreiche Cyniker und Preußenfeind Det-
mold, uns sehr anschaulich geschildert werden; endlich der neunte und letzte
Band hat zum Gegenstand "das jähe Ende welsischer und den Anfang neuer
Dinge", er bringt sehr interessante Enthüllungen über das "Schwindeljahr"
und den "Gaunerbund" in Hannover und ist in der That mehr Geschichts¬
und Memoirenwerk, als Roman. Neben diesen deutschen Geschichten lau¬
fen immer die amerikanischen parallel. Letztere schließen mit der Vollen¬
dung der, einen Welttheil überbrückenden und die Atlantis mit dem stillen
Ocean verbindenden Pacific-Bahn, welche am 10. Mai l869 in Wa¬
shington, unter Kanonendonner und Entfaltung des Sternenbanners ge¬
feiert wird.

Ich wiederhole: Als Kunstwerk hat der Roman große Schwächen. Er
occupirt zu viel Zeit und zu viel Raum, er verbraucht zu viel Personen und
zu viel Dinge, um eine einheitliche Idee siegreich über all diese Massen von
Material zum Durchbruch zu bringen. Ja, es wird uns manchmal beinahe
etwas wirr, wenn wir diese Reihen von Generationen rastlos an uns vorüber¬
rauschen sehen und hören.

Aber auf der anderen Seite bietet uns dieser Roman in Hülle und
Fülle das, was wir in den meisten anderen vermissen, nämlich die sorgfältig¬
sten und erfolgreichsten Detailstudien, deren Mangel die glänzendste Schreibart
und die fruchtbarste Phantasie nie zu ersetzen vermögen. Wir haben hier ein
mit niederländischen Realismus gemaltes Bild, -- ein ehrliches und treues
Spiegelbild unserer Vergangenheit, aus welchem Jeder, der lernen will, auch
lernen kann für die Zukunft.

Man kennt die farbenreichen Gemälde, welche uns Jean Paul in seinem
"Titan" vom Lago maggiore und den borromäischen Inseln gibt und die man
so sehr bewundert hat. Es ist wahr, sie sind reizend. Aber es ist zugleich
auch reizend, daß sie nicht wahr sind.

Oppermann's culturhistoristische Tableaur sind das directe Gegentheil.
Sie sind etwas trocken und hart gemalt, aber sie sind wahr; und das ist eine


sreiungskrieg und auf den Wiener Congreß, im sechsten nach Hannover und
Göttingen, wo wir die Zeit der Restauration, der Karlsbader Beschlüsse und
der Demagogenfängerei (welcher in der deutschen Rechtsgeschichte nur die
Hexenprocesse würdig an die Seite gestellt werden können), darin die Juli¬
revolution und die tragikomische „Göttinger Revolution" und endlich das
hundertjährige Universitätsjubiläum erleben; der sechste Band schildert uns
die Zeit vor Achtundvierzig, den Verfassungsbruch des Königs Ernst August,
die erbitterten, aufreibenden und resultatlosen Kämpfe dagegen; der siebente
und achte erzählt den Aufschwung, die Hoffnungen, die Täuschungen von
Achtundvierzig in Berlin, in Frankfurt und in Hannover, dessen politische
Capacitäten, wie namentlich der geistreiche Cyniker und Preußenfeind Det-
mold, uns sehr anschaulich geschildert werden; endlich der neunte und letzte
Band hat zum Gegenstand „das jähe Ende welsischer und den Anfang neuer
Dinge", er bringt sehr interessante Enthüllungen über das „Schwindeljahr"
und den „Gaunerbund" in Hannover und ist in der That mehr Geschichts¬
und Memoirenwerk, als Roman. Neben diesen deutschen Geschichten lau¬
fen immer die amerikanischen parallel. Letztere schließen mit der Vollen¬
dung der, einen Welttheil überbrückenden und die Atlantis mit dem stillen
Ocean verbindenden Pacific-Bahn, welche am 10. Mai l869 in Wa¬
shington, unter Kanonendonner und Entfaltung des Sternenbanners ge¬
feiert wird.

Ich wiederhole: Als Kunstwerk hat der Roman große Schwächen. Er
occupirt zu viel Zeit und zu viel Raum, er verbraucht zu viel Personen und
zu viel Dinge, um eine einheitliche Idee siegreich über all diese Massen von
Material zum Durchbruch zu bringen. Ja, es wird uns manchmal beinahe
etwas wirr, wenn wir diese Reihen von Generationen rastlos an uns vorüber¬
rauschen sehen und hören.

Aber auf der anderen Seite bietet uns dieser Roman in Hülle und
Fülle das, was wir in den meisten anderen vermissen, nämlich die sorgfältig¬
sten und erfolgreichsten Detailstudien, deren Mangel die glänzendste Schreibart
und die fruchtbarste Phantasie nie zu ersetzen vermögen. Wir haben hier ein
mit niederländischen Realismus gemaltes Bild, — ein ehrliches und treues
Spiegelbild unserer Vergangenheit, aus welchem Jeder, der lernen will, auch
lernen kann für die Zukunft.

Man kennt die farbenreichen Gemälde, welche uns Jean Paul in seinem
„Titan" vom Lago maggiore und den borromäischen Inseln gibt und die man
so sehr bewundert hat. Es ist wahr, sie sind reizend. Aber es ist zugleich
auch reizend, daß sie nicht wahr sind.

Oppermann's culturhistoristische Tableaur sind das directe Gegentheil.
Sie sind etwas trocken und hart gemalt, aber sie sind wahr; und das ist eine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125345"/>
          <p xml:id="ID_378" prev="#ID_377"> sreiungskrieg und auf den Wiener Congreß, im sechsten nach Hannover und<lb/>
Göttingen, wo wir die Zeit der Restauration, der Karlsbader Beschlüsse und<lb/>
der Demagogenfängerei (welcher in der deutschen Rechtsgeschichte nur die<lb/>
Hexenprocesse würdig an die Seite gestellt werden können), darin die Juli¬<lb/>
revolution und die tragikomische &#x201E;Göttinger Revolution" und endlich das<lb/>
hundertjährige Universitätsjubiläum erleben; der sechste Band schildert uns<lb/>
die Zeit vor Achtundvierzig, den Verfassungsbruch des Königs Ernst August,<lb/>
die erbitterten, aufreibenden und resultatlosen Kämpfe dagegen; der siebente<lb/>
und achte erzählt den Aufschwung, die Hoffnungen, die Täuschungen von<lb/>
Achtundvierzig in Berlin, in Frankfurt und in Hannover, dessen politische<lb/>
Capacitäten, wie namentlich der geistreiche Cyniker und Preußenfeind Det-<lb/>
mold, uns sehr anschaulich geschildert werden; endlich der neunte und letzte<lb/>
Band hat zum Gegenstand &#x201E;das jähe Ende welsischer und den Anfang neuer<lb/>
Dinge", er bringt sehr interessante Enthüllungen über das &#x201E;Schwindeljahr"<lb/>
und den &#x201E;Gaunerbund" in Hannover und ist in der That mehr Geschichts¬<lb/>
und Memoirenwerk, als Roman. Neben diesen deutschen Geschichten lau¬<lb/>
fen immer die amerikanischen parallel. Letztere schließen mit der Vollen¬<lb/>
dung der, einen Welttheil überbrückenden und die Atlantis mit dem stillen<lb/>
Ocean verbindenden Pacific-Bahn, welche am 10. Mai l869 in Wa¬<lb/>
shington, unter Kanonendonner und Entfaltung des Sternenbanners ge¬<lb/>
feiert wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_379"> Ich wiederhole: Als Kunstwerk hat der Roman große Schwächen. Er<lb/>
occupirt zu viel Zeit und zu viel Raum, er verbraucht zu viel Personen und<lb/>
zu viel Dinge, um eine einheitliche Idee siegreich über all diese Massen von<lb/>
Material zum Durchbruch zu bringen. Ja, es wird uns manchmal beinahe<lb/>
etwas wirr, wenn wir diese Reihen von Generationen rastlos an uns vorüber¬<lb/>
rauschen sehen und hören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_380"> Aber auf der anderen Seite bietet uns dieser Roman in Hülle und<lb/>
Fülle das, was wir in den meisten anderen vermissen, nämlich die sorgfältig¬<lb/>
sten und erfolgreichsten Detailstudien, deren Mangel die glänzendste Schreibart<lb/>
und die fruchtbarste Phantasie nie zu ersetzen vermögen. Wir haben hier ein<lb/>
mit niederländischen Realismus gemaltes Bild, &#x2014; ein ehrliches und treues<lb/>
Spiegelbild unserer Vergangenheit, aus welchem Jeder, der lernen will, auch<lb/>
lernen kann für die Zukunft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_381"> Man kennt die farbenreichen Gemälde, welche uns Jean Paul in seinem<lb/>
&#x201E;Titan" vom Lago maggiore und den borromäischen Inseln gibt und die man<lb/>
so sehr bewundert hat. Es ist wahr, sie sind reizend. Aber es ist zugleich<lb/>
auch reizend, daß sie nicht wahr sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_382" next="#ID_383"> Oppermann's culturhistoristische Tableaur sind das directe Gegentheil.<lb/>
Sie sind etwas trocken und hart gemalt, aber sie sind wahr; und das ist eine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] sreiungskrieg und auf den Wiener Congreß, im sechsten nach Hannover und Göttingen, wo wir die Zeit der Restauration, der Karlsbader Beschlüsse und der Demagogenfängerei (welcher in der deutschen Rechtsgeschichte nur die Hexenprocesse würdig an die Seite gestellt werden können), darin die Juli¬ revolution und die tragikomische „Göttinger Revolution" und endlich das hundertjährige Universitätsjubiläum erleben; der sechste Band schildert uns die Zeit vor Achtundvierzig, den Verfassungsbruch des Königs Ernst August, die erbitterten, aufreibenden und resultatlosen Kämpfe dagegen; der siebente und achte erzählt den Aufschwung, die Hoffnungen, die Täuschungen von Achtundvierzig in Berlin, in Frankfurt und in Hannover, dessen politische Capacitäten, wie namentlich der geistreiche Cyniker und Preußenfeind Det- mold, uns sehr anschaulich geschildert werden; endlich der neunte und letzte Band hat zum Gegenstand „das jähe Ende welsischer und den Anfang neuer Dinge", er bringt sehr interessante Enthüllungen über das „Schwindeljahr" und den „Gaunerbund" in Hannover und ist in der That mehr Geschichts¬ und Memoirenwerk, als Roman. Neben diesen deutschen Geschichten lau¬ fen immer die amerikanischen parallel. Letztere schließen mit der Vollen¬ dung der, einen Welttheil überbrückenden und die Atlantis mit dem stillen Ocean verbindenden Pacific-Bahn, welche am 10. Mai l869 in Wa¬ shington, unter Kanonendonner und Entfaltung des Sternenbanners ge¬ feiert wird. Ich wiederhole: Als Kunstwerk hat der Roman große Schwächen. Er occupirt zu viel Zeit und zu viel Raum, er verbraucht zu viel Personen und zu viel Dinge, um eine einheitliche Idee siegreich über all diese Massen von Material zum Durchbruch zu bringen. Ja, es wird uns manchmal beinahe etwas wirr, wenn wir diese Reihen von Generationen rastlos an uns vorüber¬ rauschen sehen und hören. Aber auf der anderen Seite bietet uns dieser Roman in Hülle und Fülle das, was wir in den meisten anderen vermissen, nämlich die sorgfältig¬ sten und erfolgreichsten Detailstudien, deren Mangel die glänzendste Schreibart und die fruchtbarste Phantasie nie zu ersetzen vermögen. Wir haben hier ein mit niederländischen Realismus gemaltes Bild, — ein ehrliches und treues Spiegelbild unserer Vergangenheit, aus welchem Jeder, der lernen will, auch lernen kann für die Zukunft. Man kennt die farbenreichen Gemälde, welche uns Jean Paul in seinem „Titan" vom Lago maggiore und den borromäischen Inseln gibt und die man so sehr bewundert hat. Es ist wahr, sie sind reizend. Aber es ist zugleich auch reizend, daß sie nicht wahr sind. Oppermann's culturhistoristische Tableaur sind das directe Gegentheil. Sie sind etwas trocken und hart gemalt, aber sie sind wahr; und das ist eine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/101>, abgerufen am 01.07.2024.