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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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schlagenden Beweis geliefert, daß in der süddeutschen Politik des Grafen
Bismarck auch noch am 20. September die Rücksicht aus Bayern das oberste
Gesetz war. In dieser Disposition Preußens, in der gesammten hundertfach
bewiesenen Stimmung des Nordens mußte Bayern die wahre Garantie sei¬
ner Zukunft erblicken. Es mußte erkennen, daß unter diesen Umständen jede
mögliche Concession an den bayrischen Particularismus, mehr noch thatsäch¬
lich als in den Buchstaben eines Vertrags, werde gewährt werden; es mußte
aus der vierjährigen eigenen und sächsischen Erfahrung die völlige Beruhi¬
gung über die preußische Loyalität schöpfen und die Einsicht gewinnen, daß
die vernünftige bayrische Selbständigkeit keinen besseren Freund habe, als
Graf Bismarck, wobei allerdings nicht übersehen werden durfte, daß auch die
Freundschaft des Grafen ihre Grenze habe und daß, wenn ihn Bayern an
dieselbe dränge, die ganze Situation sich plötzlich in eine ebenso ungünstige
verwandeln könne, als sie seit vier Jahren günstig gewesen.

Wenn wir über den Verlauf der Münchener Besprechungen nicht ganz
falsch berichtet sind, so haben die bayrischen Minister entweder diese Lage der
Dinge nicht erkannt, oder ihrer Einsicht keine praktische Haltung zu ver¬
schaffen vermocht. Sie haben gemeint, den Eintritt Bayerns an Bedingungen
knüpfen zu müssen, deren Gewährung das ganze 1866 geschaffene Werk um¬
gestoßen, uns einigermaßen in die Confusion des Bundestages zurückversetzt
haben würde. Sollte selbst,, was jedoch unglaublich ist, der Bundeskanzler
auf derartige Prätensionen einzugehen Willens sein, so würden sie nichts¬
destoweniger an anderen Mächten scheitern, vor Allem an der Macht der
großen Wirklichkeit deutschen Lebens, wie sie in diesen Monaten geboren
ist. Das deutsche Volk kann sich seine einzigen kriegerischen Erfolge nicht
durch eine eigensinnige oder beschränkte Politik verkümmern lassen, der von
ferne kein irgendwie berechtigtes bayrisches Sonderinteresse zu Grunde liegt,
sondern unklare Reminiscenzen für immer vergangener Zeiten und das Un¬
vermögen, die ungeheure Tragweite der Ereignisse des vergangenen Sommers
zu bemessen. Denn über die wahre Lage und das wahre Bedürfniß Bayerns
kann in der That kein Zweifel bestehen. In dem Augenblicke, wo sich
Preußen genöthigt sieht das deutsche Interesse gegen die bayrischen Hoff¬
nungen zu wahren und den natürlichen Lauf der Dinge gewähren zu lassen,
sieht sich Bayern in die peinlichste Verlegenheit versetzt. Minister Delbrück
ist auf den Wunsch der bayerischen Regirrung nach München gegangen, um
zunächst und vor Allem den bayrischen Standpunkt zur Geltung kommen zu
lassen. Da derselbe in dem Augenblicke, wo der Wunsch Bayerns geäußert
wurde, sich im Hauptquartier befand, hätte es sehr nahe gelegen, die Reise
nach München über Carlsruhe und Stuttgart zu machen. In Carls¬
ruhe wäre der norddeutsche Staatsmann sicher nicht lange und in Stuttgart


schlagenden Beweis geliefert, daß in der süddeutschen Politik des Grafen
Bismarck auch noch am 20. September die Rücksicht aus Bayern das oberste
Gesetz war. In dieser Disposition Preußens, in der gesammten hundertfach
bewiesenen Stimmung des Nordens mußte Bayern die wahre Garantie sei¬
ner Zukunft erblicken. Es mußte erkennen, daß unter diesen Umständen jede
mögliche Concession an den bayrischen Particularismus, mehr noch thatsäch¬
lich als in den Buchstaben eines Vertrags, werde gewährt werden; es mußte
aus der vierjährigen eigenen und sächsischen Erfahrung die völlige Beruhi¬
gung über die preußische Loyalität schöpfen und die Einsicht gewinnen, daß
die vernünftige bayrische Selbständigkeit keinen besseren Freund habe, als
Graf Bismarck, wobei allerdings nicht übersehen werden durfte, daß auch die
Freundschaft des Grafen ihre Grenze habe und daß, wenn ihn Bayern an
dieselbe dränge, die ganze Situation sich plötzlich in eine ebenso ungünstige
verwandeln könne, als sie seit vier Jahren günstig gewesen.

Wenn wir über den Verlauf der Münchener Besprechungen nicht ganz
falsch berichtet sind, so haben die bayrischen Minister entweder diese Lage der
Dinge nicht erkannt, oder ihrer Einsicht keine praktische Haltung zu ver¬
schaffen vermocht. Sie haben gemeint, den Eintritt Bayerns an Bedingungen
knüpfen zu müssen, deren Gewährung das ganze 1866 geschaffene Werk um¬
gestoßen, uns einigermaßen in die Confusion des Bundestages zurückversetzt
haben würde. Sollte selbst,, was jedoch unglaublich ist, der Bundeskanzler
auf derartige Prätensionen einzugehen Willens sein, so würden sie nichts¬
destoweniger an anderen Mächten scheitern, vor Allem an der Macht der
großen Wirklichkeit deutschen Lebens, wie sie in diesen Monaten geboren
ist. Das deutsche Volk kann sich seine einzigen kriegerischen Erfolge nicht
durch eine eigensinnige oder beschränkte Politik verkümmern lassen, der von
ferne kein irgendwie berechtigtes bayrisches Sonderinteresse zu Grunde liegt,
sondern unklare Reminiscenzen für immer vergangener Zeiten und das Un¬
vermögen, die ungeheure Tragweite der Ereignisse des vergangenen Sommers
zu bemessen. Denn über die wahre Lage und das wahre Bedürfniß Bayerns
kann in der That kein Zweifel bestehen. In dem Augenblicke, wo sich
Preußen genöthigt sieht das deutsche Interesse gegen die bayrischen Hoff¬
nungen zu wahren und den natürlichen Lauf der Dinge gewähren zu lassen,
sieht sich Bayern in die peinlichste Verlegenheit versetzt. Minister Delbrück
ist auf den Wunsch der bayerischen Regirrung nach München gegangen, um
zunächst und vor Allem den bayrischen Standpunkt zur Geltung kommen zu
lassen. Da derselbe in dem Augenblicke, wo der Wunsch Bayerns geäußert
wurde, sich im Hauptquartier befand, hätte es sehr nahe gelegen, die Reise
nach München über Carlsruhe und Stuttgart zu machen. In Carls¬
ruhe wäre der norddeutsche Staatsmann sicher nicht lange und in Stuttgart


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/76>, abgerufen am 22.12.2024.