Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gerathen. Wir haben die deutsche Verfassung erkauft um, den Preis des
Verzichts auf die Herstellung eines wahren deutschen Bundesstaats. Das
neue Reich -- obschon der bundesstaatliche Charakter bei demselben vor¬
wiegt -- ist ein Mittelding zwischen Bundesstaat und Staatenbund.

Zu solchem Urtheil veranlaßt uns nicht die privilegirte Stellung Bayerns
im Bundesrathe, nicht das Reservatrecht eigener Bier- und Branntwein-
besteuerutig der süddeutschen Staaten, auch nicht der Bundesrathsausschuß
für auswärtige Angelegenheiten. Diese Institution enthält vielmehr in der
Tb>t eine Weiterentwickelung des föderativem Princips und ist in eminenter
Weise geeignet, dem deutschen Reiche einen defensiven Charakter aufzuprägen.
Ja selbst das Veto jedes Einzelstaats bezüglich seiner Reservatrechte, das
Veto der drei Königreiche gegen Verfassungsänderungen würde ein solches
Urtheil noch nicht rechtfertigen, wenn nur im Uebrigen die bereits vorhan¬
denen Verfassungsbestimmungen dem deutschen Reiche in Wirklichkeit
bundesstaatlichen Charakter verliehen. Aber dies ist eben leider nicht der Fall.

Denn vor Allem ist die Leitung der großen Verkehrsanstalten, welche
der Natur der Sache nach ein Attribut einer wirklichen Bundesstaatsgewalt
bildet, keine einheitliche. Neben dem deutschen Eisenbahn-, Post- und Tele¬
graphenwesen wird ein königlich bayrisches und ein königlich würtembergi-
sches fortbestehen. Für diesen Fortbestand ist weder die Spur eines gesammt-
deutschen Interesses erfindlich, noch ist die Sache so gleichgiltig. wie es nach
den Retchstagsverhandlungen vielleicht Manchem scheinen mag. Denn abge¬
sehen von allen anderen reichlich vorhandenen Bedenken wäre es für die Er¬
ziehung des süddeutschen Volkes im nationalen Geiste gar nicht gleichgiltig
gewesen, wenn der Gebrauch jeder Briefmarke und jeder Telegraphenkarte
dem Oberpfälzer und Niederbayer, dem Bürger von Bodungen und von
Künzelsau zu Gemüthe geführt hätte, daß er sich wirklich in einem Bundes¬
staat befinde. Ferner: was von den Verkehrsanstalten gilt, gilt auch von
dem Kriegswesen, dessen einheitlich-deutsche Organisation und Leitung durch¬
brochen wird durch die bayrische Sonderstellung. Was würde man wohl zu
einer besonderen Militärhoheit des Staates Texas oder des Cantons Genf
sagen? Aber es ist dies eine spinöse Frage und, wie die Dinge einmal lie¬
gen, wird der Realpolitiker eine Ausnahme auf diesem Gebiete sich noch am
ersten gefallen lassen können.

Die bisher erwähnten Bestimmungen alteriren den bundesstaatlichen
Charakter des deutschen Reiches insofern, als sie diesen Charakter aus einem
Theil des deutschen Gebietes, nicht zur vollen Entfaltung kommen lassen.
Aber es sind Ausnahmsbestimmungen zu Gunsten Bayerns getroffen, deren
Wirksamkeit sich nicht allein auf Bayern beschränkt, sondern welche den
bundesstaatlichen Charakter des neuen Reiches für uns Deutsche insgesammt


gerathen. Wir haben die deutsche Verfassung erkauft um, den Preis des
Verzichts auf die Herstellung eines wahren deutschen Bundesstaats. Das
neue Reich — obschon der bundesstaatliche Charakter bei demselben vor¬
wiegt — ist ein Mittelding zwischen Bundesstaat und Staatenbund.

Zu solchem Urtheil veranlaßt uns nicht die privilegirte Stellung Bayerns
im Bundesrathe, nicht das Reservatrecht eigener Bier- und Branntwein-
besteuerutig der süddeutschen Staaten, auch nicht der Bundesrathsausschuß
für auswärtige Angelegenheiten. Diese Institution enthält vielmehr in der
Tb>t eine Weiterentwickelung des föderativem Princips und ist in eminenter
Weise geeignet, dem deutschen Reiche einen defensiven Charakter aufzuprägen.
Ja selbst das Veto jedes Einzelstaats bezüglich seiner Reservatrechte, das
Veto der drei Königreiche gegen Verfassungsänderungen würde ein solches
Urtheil noch nicht rechtfertigen, wenn nur im Uebrigen die bereits vorhan¬
denen Verfassungsbestimmungen dem deutschen Reiche in Wirklichkeit
bundesstaatlichen Charakter verliehen. Aber dies ist eben leider nicht der Fall.

Denn vor Allem ist die Leitung der großen Verkehrsanstalten, welche
der Natur der Sache nach ein Attribut einer wirklichen Bundesstaatsgewalt
bildet, keine einheitliche. Neben dem deutschen Eisenbahn-, Post- und Tele¬
graphenwesen wird ein königlich bayrisches und ein königlich würtembergi-
sches fortbestehen. Für diesen Fortbestand ist weder die Spur eines gesammt-
deutschen Interesses erfindlich, noch ist die Sache so gleichgiltig. wie es nach
den Retchstagsverhandlungen vielleicht Manchem scheinen mag. Denn abge¬
sehen von allen anderen reichlich vorhandenen Bedenken wäre es für die Er¬
ziehung des süddeutschen Volkes im nationalen Geiste gar nicht gleichgiltig
gewesen, wenn der Gebrauch jeder Briefmarke und jeder Telegraphenkarte
dem Oberpfälzer und Niederbayer, dem Bürger von Bodungen und von
Künzelsau zu Gemüthe geführt hätte, daß er sich wirklich in einem Bundes¬
staat befinde. Ferner: was von den Verkehrsanstalten gilt, gilt auch von
dem Kriegswesen, dessen einheitlich-deutsche Organisation und Leitung durch¬
brochen wird durch die bayrische Sonderstellung. Was würde man wohl zu
einer besonderen Militärhoheit des Staates Texas oder des Cantons Genf
sagen? Aber es ist dies eine spinöse Frage und, wie die Dinge einmal lie¬
gen, wird der Realpolitiker eine Ausnahme auf diesem Gebiete sich noch am
ersten gefallen lassen können.

Die bisher erwähnten Bestimmungen alteriren den bundesstaatlichen
Charakter des deutschen Reiches insofern, als sie diesen Charakter aus einem
Theil des deutschen Gebietes, nicht zur vollen Entfaltung kommen lassen.
Aber es sind Ausnahmsbestimmungen zu Gunsten Bayerns getroffen, deren
Wirksamkeit sich nicht allein auf Bayern beschränkt, sondern welche den
bundesstaatlichen Charakter des neuen Reiches für uns Deutsche insgesammt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125210"/>
          <p xml:id="ID_1536" prev="#ID_1535"> gerathen. Wir haben die deutsche Verfassung erkauft um, den Preis des<lb/>
Verzichts auf die Herstellung eines wahren deutschen Bundesstaats. Das<lb/>
neue Reich &#x2014; obschon der bundesstaatliche Charakter bei demselben vor¬<lb/>
wiegt &#x2014; ist ein Mittelding zwischen Bundesstaat und Staatenbund.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1537"> Zu solchem Urtheil veranlaßt uns nicht die privilegirte Stellung Bayerns<lb/>
im Bundesrathe, nicht das Reservatrecht eigener Bier- und Branntwein-<lb/>
besteuerutig der süddeutschen Staaten, auch nicht der Bundesrathsausschuß<lb/>
für auswärtige Angelegenheiten. Diese Institution enthält vielmehr in der<lb/>
Tb&gt;t eine Weiterentwickelung des föderativem Princips und ist in eminenter<lb/>
Weise geeignet, dem deutschen Reiche einen defensiven Charakter aufzuprägen.<lb/>
Ja selbst das Veto jedes Einzelstaats bezüglich seiner Reservatrechte, das<lb/>
Veto der drei Königreiche gegen Verfassungsänderungen würde ein solches<lb/>
Urtheil noch nicht rechtfertigen, wenn nur im Uebrigen die bereits vorhan¬<lb/>
denen Verfassungsbestimmungen dem deutschen Reiche in Wirklichkeit<lb/>
bundesstaatlichen Charakter verliehen. Aber dies ist eben leider nicht der Fall.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1538"> Denn vor Allem ist die Leitung der großen Verkehrsanstalten, welche<lb/>
der Natur der Sache nach ein Attribut einer wirklichen Bundesstaatsgewalt<lb/>
bildet, keine einheitliche. Neben dem deutschen Eisenbahn-, Post- und Tele¬<lb/>
graphenwesen wird ein königlich bayrisches und ein königlich würtembergi-<lb/>
sches fortbestehen. Für diesen Fortbestand ist weder die Spur eines gesammt-<lb/>
deutschen Interesses erfindlich, noch ist die Sache so gleichgiltig. wie es nach<lb/>
den Retchstagsverhandlungen vielleicht Manchem scheinen mag. Denn abge¬<lb/>
sehen von allen anderen reichlich vorhandenen Bedenken wäre es für die Er¬<lb/>
ziehung des süddeutschen Volkes im nationalen Geiste gar nicht gleichgiltig<lb/>
gewesen, wenn der Gebrauch jeder Briefmarke und jeder Telegraphenkarte<lb/>
dem Oberpfälzer und Niederbayer, dem Bürger von Bodungen und von<lb/>
Künzelsau zu Gemüthe geführt hätte, daß er sich wirklich in einem Bundes¬<lb/>
staat befinde. Ferner: was von den Verkehrsanstalten gilt, gilt auch von<lb/>
dem Kriegswesen, dessen einheitlich-deutsche Organisation und Leitung durch¬<lb/>
brochen wird durch die bayrische Sonderstellung. Was würde man wohl zu<lb/>
einer besonderen Militärhoheit des Staates Texas oder des Cantons Genf<lb/>
sagen? Aber es ist dies eine spinöse Frage und, wie die Dinge einmal lie¬<lb/>
gen, wird der Realpolitiker eine Ausnahme auf diesem Gebiete sich noch am<lb/>
ersten gefallen lassen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1539" next="#ID_1540"> Die bisher erwähnten Bestimmungen alteriren den bundesstaatlichen<lb/>
Charakter des deutschen Reiches insofern, als sie diesen Charakter aus einem<lb/>
Theil des deutschen Gebietes, nicht zur vollen Entfaltung kommen lassen.<lb/>
Aber es sind Ausnahmsbestimmungen zu Gunsten Bayerns getroffen, deren<lb/>
Wirksamkeit sich nicht allein auf Bayern beschränkt, sondern welche den<lb/>
bundesstaatlichen Charakter des neuen Reiches für uns Deutsche insgesammt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0504] gerathen. Wir haben die deutsche Verfassung erkauft um, den Preis des Verzichts auf die Herstellung eines wahren deutschen Bundesstaats. Das neue Reich — obschon der bundesstaatliche Charakter bei demselben vor¬ wiegt — ist ein Mittelding zwischen Bundesstaat und Staatenbund. Zu solchem Urtheil veranlaßt uns nicht die privilegirte Stellung Bayerns im Bundesrathe, nicht das Reservatrecht eigener Bier- und Branntwein- besteuerutig der süddeutschen Staaten, auch nicht der Bundesrathsausschuß für auswärtige Angelegenheiten. Diese Institution enthält vielmehr in der Tb>t eine Weiterentwickelung des föderativem Princips und ist in eminenter Weise geeignet, dem deutschen Reiche einen defensiven Charakter aufzuprägen. Ja selbst das Veto jedes Einzelstaats bezüglich seiner Reservatrechte, das Veto der drei Königreiche gegen Verfassungsänderungen würde ein solches Urtheil noch nicht rechtfertigen, wenn nur im Uebrigen die bereits vorhan¬ denen Verfassungsbestimmungen dem deutschen Reiche in Wirklichkeit bundesstaatlichen Charakter verliehen. Aber dies ist eben leider nicht der Fall. Denn vor Allem ist die Leitung der großen Verkehrsanstalten, welche der Natur der Sache nach ein Attribut einer wirklichen Bundesstaatsgewalt bildet, keine einheitliche. Neben dem deutschen Eisenbahn-, Post- und Tele¬ graphenwesen wird ein königlich bayrisches und ein königlich würtembergi- sches fortbestehen. Für diesen Fortbestand ist weder die Spur eines gesammt- deutschen Interesses erfindlich, noch ist die Sache so gleichgiltig. wie es nach den Retchstagsverhandlungen vielleicht Manchem scheinen mag. Denn abge¬ sehen von allen anderen reichlich vorhandenen Bedenken wäre es für die Er¬ ziehung des süddeutschen Volkes im nationalen Geiste gar nicht gleichgiltig gewesen, wenn der Gebrauch jeder Briefmarke und jeder Telegraphenkarte dem Oberpfälzer und Niederbayer, dem Bürger von Bodungen und von Künzelsau zu Gemüthe geführt hätte, daß er sich wirklich in einem Bundes¬ staat befinde. Ferner: was von den Verkehrsanstalten gilt, gilt auch von dem Kriegswesen, dessen einheitlich-deutsche Organisation und Leitung durch¬ brochen wird durch die bayrische Sonderstellung. Was würde man wohl zu einer besonderen Militärhoheit des Staates Texas oder des Cantons Genf sagen? Aber es ist dies eine spinöse Frage und, wie die Dinge einmal lie¬ gen, wird der Realpolitiker eine Ausnahme auf diesem Gebiete sich noch am ersten gefallen lassen können. Die bisher erwähnten Bestimmungen alteriren den bundesstaatlichen Charakter des deutschen Reiches insofern, als sie diesen Charakter aus einem Theil des deutschen Gebietes, nicht zur vollen Entfaltung kommen lassen. Aber es sind Ausnahmsbestimmungen zu Gunsten Bayerns getroffen, deren Wirksamkeit sich nicht allein auf Bayern beschränkt, sondern welche den bundesstaatlichen Charakter des neuen Reiches für uns Deutsche insgesammt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/504
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/504>, abgerufen am 22.12.2024.