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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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zu finden "zwischen Kassel und Weißenstein." Nirgends "Vogelbauer" oder
etwas Aehnliches! Doch halt, könnte man nicht diese Cottages als Käfige
bezeichnen?

Es finden sich nämlich sowohl auf der ersten Hälfte der Allee, als auch
auf der zweiten Strecken, auf welchen rechts und links der Straße entlang
kleine und geschmacklos gebaute Häuser, aus Holz, Lehm und Fachwerk,
stehen. Waren diese Häuschen im Jahre 1781 schon da? Antwort: Ja.
zum größten Theile. Ein großer Theil davon ist sogar unmittelbar vor
1781 und in 1781 von dem damaligen Landgrafen erbaut, welcher mit den
meisten deutschen Fürsten des 18. Jahrhunderts die Sucht, seine Residenz zu
vergrößern getheilt und Häuser gebaut hat, für die sich dann keine Bewohner
fanden. Er und sein Nachfolger Landgraf Wilhelm IX. hatten die Absicht,
die ganze Straße zwischen Kassel und Wilhelmshöhe auf beiden Seiten mit
solchen Cottages zu besetzen. Der Plan liegt vollständig vor. Man hatte
diese Ansiedelung auch schon als Commune constituirt unter dem Titel
"Wilhelmshöher Allee". Als aber zuletzt Niemand mehr kam, der sich hier
niederlassen wollte, so löste man diese Gemeinde wieder auf und theilte die
Häuschen auf der ersten Strecke dem links gelegenen Dorfe Wehlheiden und
die auf der zweiten Strecke dem rechts gelegenen Dorfe Woylershausen zu,
wozu sie auch jetzt noch gehören. Man ist wohl berechtigt, diese Häuschen
scherzweise Käfige zu nennen.

Damals also baute der Landgraf diese Häuser und zugleich entvölkerte
er seine kleine Landgrafschaft durch den Menschenhandel. In dem Gedichte,
wovon wir reden, preist Goethe das Wachsthum Plundersweilern's und dann
kommt die Eingangs erwähnte, durch Herrn Schöll vervollständigte Stelle.
Es heißt also da: Plundersweilern vergrößert sich; die Häuser mehren sich;
aber nicht so wie zwischen Kassel und Weißenstein, wo der Landgraf Häuser
(Vogelbauer) baut, aber die Menschen (Vögel), welche sie bewohnen sollen,
w die weite Welt hinausjagt.

Diese Auslegung würde auf sicherer historisch-topographischer Grundlage
ruhen; und das Bild wäre correct durchgeführt.

Da der Witz etwas bitter ist. so hätte denn der höfliche Altmeister der
Dichtkunst, der zugleich auch kleinfürstlicher Minister war, bei der Publication
die Worte "Kassel" und "Weißenstein" gestrichen und damit dem Publicum
eine Nuß vorgelegt, welche zu knacken wir beinahe ein ganzes Jahrhundert
Zeit nöthig hatten.'

Ich habe die Schöllsche Vervollständigung mit Freuden begrüßt und
seine Auslegung öffentlich besprochen. Habe ich dadurch einen Irrthum ver¬
brettet, so halte ich mich verpflichtet, denselben auch öffentlich zu berichtigen.

Jedenfalls aber wollte ich unter allen Umständen meine Zweifel nicht
zurückhalten. Mögen Sachkundige urtheilen, wer Recht hat.


Dr. Karl Braun-Wiesbaden.




Verantwortlicher Redacteur ^ Gustav Drehtag.
Verlas, vo" F. L. Hevbig. -- Druck von Hüthel " Legler in Leipzig.

zu finden „zwischen Kassel und Weißenstein." Nirgends „Vogelbauer" oder
etwas Aehnliches! Doch halt, könnte man nicht diese Cottages als Käfige
bezeichnen?

Es finden sich nämlich sowohl auf der ersten Hälfte der Allee, als auch
auf der zweiten Strecken, auf welchen rechts und links der Straße entlang
kleine und geschmacklos gebaute Häuser, aus Holz, Lehm und Fachwerk,
stehen. Waren diese Häuschen im Jahre 1781 schon da? Antwort: Ja.
zum größten Theile. Ein großer Theil davon ist sogar unmittelbar vor
1781 und in 1781 von dem damaligen Landgrafen erbaut, welcher mit den
meisten deutschen Fürsten des 18. Jahrhunderts die Sucht, seine Residenz zu
vergrößern getheilt und Häuser gebaut hat, für die sich dann keine Bewohner
fanden. Er und sein Nachfolger Landgraf Wilhelm IX. hatten die Absicht,
die ganze Straße zwischen Kassel und Wilhelmshöhe auf beiden Seiten mit
solchen Cottages zu besetzen. Der Plan liegt vollständig vor. Man hatte
diese Ansiedelung auch schon als Commune constituirt unter dem Titel
„Wilhelmshöher Allee". Als aber zuletzt Niemand mehr kam, der sich hier
niederlassen wollte, so löste man diese Gemeinde wieder auf und theilte die
Häuschen auf der ersten Strecke dem links gelegenen Dorfe Wehlheiden und
die auf der zweiten Strecke dem rechts gelegenen Dorfe Woylershausen zu,
wozu sie auch jetzt noch gehören. Man ist wohl berechtigt, diese Häuschen
scherzweise Käfige zu nennen.

Damals also baute der Landgraf diese Häuser und zugleich entvölkerte
er seine kleine Landgrafschaft durch den Menschenhandel. In dem Gedichte,
wovon wir reden, preist Goethe das Wachsthum Plundersweilern's und dann
kommt die Eingangs erwähnte, durch Herrn Schöll vervollständigte Stelle.
Es heißt also da: Plundersweilern vergrößert sich; die Häuser mehren sich;
aber nicht so wie zwischen Kassel und Weißenstein, wo der Landgraf Häuser
(Vogelbauer) baut, aber die Menschen (Vögel), welche sie bewohnen sollen,
w die weite Welt hinausjagt.

Diese Auslegung würde auf sicherer historisch-topographischer Grundlage
ruhen; und das Bild wäre correct durchgeführt.

Da der Witz etwas bitter ist. so hätte denn der höfliche Altmeister der
Dichtkunst, der zugleich auch kleinfürstlicher Minister war, bei der Publication
die Worte „Kassel" und „Weißenstein" gestrichen und damit dem Publicum
eine Nuß vorgelegt, welche zu knacken wir beinahe ein ganzes Jahrhundert
Zeit nöthig hatten.'

Ich habe die Schöllsche Vervollständigung mit Freuden begrüßt und
seine Auslegung öffentlich besprochen. Habe ich dadurch einen Irrthum ver¬
brettet, so halte ich mich verpflichtet, denselben auch öffentlich zu berichtigen.

Jedenfalls aber wollte ich unter allen Umständen meine Zweifel nicht
zurückhalten. Mögen Sachkundige urtheilen, wer Recht hat.


Dr. Karl Braun-Wiesbaden.




Verantwortlicher Redacteur ^ Gustav Drehtag.
Verlas, vo» F. L. Hevbig. — Druck von Hüthel » Legler in Leipzig.
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[0048] zu finden „zwischen Kassel und Weißenstein." Nirgends „Vogelbauer" oder etwas Aehnliches! Doch halt, könnte man nicht diese Cottages als Käfige bezeichnen? Es finden sich nämlich sowohl auf der ersten Hälfte der Allee, als auch auf der zweiten Strecken, auf welchen rechts und links der Straße entlang kleine und geschmacklos gebaute Häuser, aus Holz, Lehm und Fachwerk, stehen. Waren diese Häuschen im Jahre 1781 schon da? Antwort: Ja. zum größten Theile. Ein großer Theil davon ist sogar unmittelbar vor 1781 und in 1781 von dem damaligen Landgrafen erbaut, welcher mit den meisten deutschen Fürsten des 18. Jahrhunderts die Sucht, seine Residenz zu vergrößern getheilt und Häuser gebaut hat, für die sich dann keine Bewohner fanden. Er und sein Nachfolger Landgraf Wilhelm IX. hatten die Absicht, die ganze Straße zwischen Kassel und Wilhelmshöhe auf beiden Seiten mit solchen Cottages zu besetzen. Der Plan liegt vollständig vor. Man hatte diese Ansiedelung auch schon als Commune constituirt unter dem Titel „Wilhelmshöher Allee". Als aber zuletzt Niemand mehr kam, der sich hier niederlassen wollte, so löste man diese Gemeinde wieder auf und theilte die Häuschen auf der ersten Strecke dem links gelegenen Dorfe Wehlheiden und die auf der zweiten Strecke dem rechts gelegenen Dorfe Woylershausen zu, wozu sie auch jetzt noch gehören. Man ist wohl berechtigt, diese Häuschen scherzweise Käfige zu nennen. Damals also baute der Landgraf diese Häuser und zugleich entvölkerte er seine kleine Landgrafschaft durch den Menschenhandel. In dem Gedichte, wovon wir reden, preist Goethe das Wachsthum Plundersweilern's und dann kommt die Eingangs erwähnte, durch Herrn Schöll vervollständigte Stelle. Es heißt also da: Plundersweilern vergrößert sich; die Häuser mehren sich; aber nicht so wie zwischen Kassel und Weißenstein, wo der Landgraf Häuser (Vogelbauer) baut, aber die Menschen (Vögel), welche sie bewohnen sollen, w die weite Welt hinausjagt. Diese Auslegung würde auf sicherer historisch-topographischer Grundlage ruhen; und das Bild wäre correct durchgeführt. Da der Witz etwas bitter ist. so hätte denn der höfliche Altmeister der Dichtkunst, der zugleich auch kleinfürstlicher Minister war, bei der Publication die Worte „Kassel" und „Weißenstein" gestrichen und damit dem Publicum eine Nuß vorgelegt, welche zu knacken wir beinahe ein ganzes Jahrhundert Zeit nöthig hatten.' Ich habe die Schöllsche Vervollständigung mit Freuden begrüßt und seine Auslegung öffentlich besprochen. Habe ich dadurch einen Irrthum ver¬ brettet, so halte ich mich verpflichtet, denselben auch öffentlich zu berichtigen. Jedenfalls aber wollte ich unter allen Umständen meine Zweifel nicht zurückhalten. Mögen Sachkundige urtheilen, wer Recht hat. Dr. Karl Braun-Wiesbaden. Verantwortlicher Redacteur ^ Gustav Drehtag. Verlas, vo» F. L. Hevbig. — Druck von Hüthel » Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/48>, abgerufen am 22.12.2024.