Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.nicht mehr gewesen; es ist ein katholisches Mekka und zugleich ein Museum Sonderbar, in was für Verlegenheiten die Nationen heut gerathen! nicht mehr gewesen; es ist ein katholisches Mekka und zugleich ein Museum Sonderbar, in was für Verlegenheiten die Nationen heut gerathen! <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124745"/> <p xml:id="ID_93" prev="#ID_92"> nicht mehr gewesen; es ist ein katholisches Mekka und zugleich ein Museum<lb/> für die gebildete Menschheit, wie das Berner Oberland eine Sommerwohnung<lb/> für sie abgiebt. Wie kann ein nationales Parlament tagen inmitten einer<lb/> stumpfen Bevölkerung, die keine Zeitungen liest, bei der statt vaterländischer<lb/> Heldengeschichte nur die Legende localer Heiliger im Schwunge ist, deren<lb/> mächtigste Herzenserregungen durch die Entscheidungen der großen Zahlen¬<lb/> lotterie hervorgerufen werden? Darf eine Bürgerschaft bestimmend auf ein<lb/> großes Land einwirken, deren wichtigste Industrie aus Fremdenführung,<lb/> Modellstehen und Antikenfabrikation besteht? Italien ist an großen und<lb/> prächtigen Städten reich; Turin, Genua, Mailand, Venedig, Bologna, Flo¬<lb/> renz, Rom, Neapel und Palermo; keine ist der anderen gleich; der Begriff<lb/> Italien würde verlieren, dächte man eine von ihnen hinweg. Im französischen<lb/> Sinne ist keine unter ihnen die Hauptstadt, ja sie dünken sich, Dank ihrer<lb/> reichen Geschichte und dem edlen Munieipalstolze des Volkes, der bis in die<lb/> kleinsten Gemeinwesen hinein lebendig ist, einander so völlig ebenbürtig, daß<lb/> keine der andern den Vorrang gönnen würde, außer eben dem einzigen Rom.<lb/> In eine definitive Verlegung der Regierung nach Florenz hätten die wackeren<lb/> Turiner doch schwerlich gewilligt; trotzdem läßt sich leicht zeigen, daß Florenz<lb/> die, allein vernünftige Hauptstadt des heutigen Italiens ist. Daß von dem<lb/> verkommenen Neapel trotz seines Volksreichthums, und daß von Palermo die<lb/> Rede nicht sein kann, versteht sich von selbst. Der ganze Süden einschlie߬<lb/> lich des römischen Gebietes muß hier so gut wie bei uns oder in den Ver¬<lb/> einigten Staaten eine Zeit lang mindestens unter Obhut und Zucht des<lb/> weiter und kräftiger entwickelten Nordens gestellt werden. Nun mag Turin<lb/> mehr politische Tüchtigkeit, Mailand mehr Gewerbfleiß und Reichthum in<lb/> sich bergen, als Florenz; trotzdem spricht ihre excentrische Lage — um derent¬<lb/> willen an Venedig und Genua erst gar nicht zu denken ist — entschieden<lb/> gegen ihre Wahl. Bologna will selbst nicht mehr sein, als eine wohlhabende<lb/> und bedeutende Provinzialhauptstadt. Florenz allein ist ebenso vortrefflich<lb/> gelegen, wie voll rührigen Lebens, seit mehr als einem halben Jahrtausend<lb/> in jeder Beziehung die geistige Capitale der Halbinsel, kein Trümmerhaufe.<lb/> sondern aufrecht stehend in der rüstigen Schönheit seiner Paläste, zum Schmucke<lb/> einheimischer, nicht heranbestellter Kunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_94" next="#ID_95"> Sonderbar, in was für Verlegenheiten die Nationen heut gerathen!<lb/> Die einen fahnden auf Dynastien, die andern auf Hauptstädte. Die Italiener<lb/> aber suchen unseres Bedünkens am hellen Tage mit der Laterne; sie mi߬<lb/> achten, was sie haben und jagen nach einem Schatten; sie übersehen die ein¬<lb/> zige unüberspringliche Kluft, welche die Geschichte kennt, die zwischen der an¬<lb/> tiken und der christlich-modernen Welt, sie vergessen, daß in der letzteren</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
nicht mehr gewesen; es ist ein katholisches Mekka und zugleich ein Museum
für die gebildete Menschheit, wie das Berner Oberland eine Sommerwohnung
für sie abgiebt. Wie kann ein nationales Parlament tagen inmitten einer
stumpfen Bevölkerung, die keine Zeitungen liest, bei der statt vaterländischer
Heldengeschichte nur die Legende localer Heiliger im Schwunge ist, deren
mächtigste Herzenserregungen durch die Entscheidungen der großen Zahlen¬
lotterie hervorgerufen werden? Darf eine Bürgerschaft bestimmend auf ein
großes Land einwirken, deren wichtigste Industrie aus Fremdenführung,
Modellstehen und Antikenfabrikation besteht? Italien ist an großen und
prächtigen Städten reich; Turin, Genua, Mailand, Venedig, Bologna, Flo¬
renz, Rom, Neapel und Palermo; keine ist der anderen gleich; der Begriff
Italien würde verlieren, dächte man eine von ihnen hinweg. Im französischen
Sinne ist keine unter ihnen die Hauptstadt, ja sie dünken sich, Dank ihrer
reichen Geschichte und dem edlen Munieipalstolze des Volkes, der bis in die
kleinsten Gemeinwesen hinein lebendig ist, einander so völlig ebenbürtig, daß
keine der andern den Vorrang gönnen würde, außer eben dem einzigen Rom.
In eine definitive Verlegung der Regierung nach Florenz hätten die wackeren
Turiner doch schwerlich gewilligt; trotzdem läßt sich leicht zeigen, daß Florenz
die, allein vernünftige Hauptstadt des heutigen Italiens ist. Daß von dem
verkommenen Neapel trotz seines Volksreichthums, und daß von Palermo die
Rede nicht sein kann, versteht sich von selbst. Der ganze Süden einschlie߬
lich des römischen Gebietes muß hier so gut wie bei uns oder in den Ver¬
einigten Staaten eine Zeit lang mindestens unter Obhut und Zucht des
weiter und kräftiger entwickelten Nordens gestellt werden. Nun mag Turin
mehr politische Tüchtigkeit, Mailand mehr Gewerbfleiß und Reichthum in
sich bergen, als Florenz; trotzdem spricht ihre excentrische Lage — um derent¬
willen an Venedig und Genua erst gar nicht zu denken ist — entschieden
gegen ihre Wahl. Bologna will selbst nicht mehr sein, als eine wohlhabende
und bedeutende Provinzialhauptstadt. Florenz allein ist ebenso vortrefflich
gelegen, wie voll rührigen Lebens, seit mehr als einem halben Jahrtausend
in jeder Beziehung die geistige Capitale der Halbinsel, kein Trümmerhaufe.
sondern aufrecht stehend in der rüstigen Schönheit seiner Paläste, zum Schmucke
einheimischer, nicht heranbestellter Kunst.
Sonderbar, in was für Verlegenheiten die Nationen heut gerathen!
Die einen fahnden auf Dynastien, die andern auf Hauptstädte. Die Italiener
aber suchen unseres Bedünkens am hellen Tage mit der Laterne; sie mi߬
achten, was sie haben und jagen nach einem Schatten; sie übersehen die ein¬
zige unüberspringliche Kluft, welche die Geschichte kennt, die zwischen der an¬
tiken und der christlich-modernen Welt, sie vergessen, daß in der letzteren
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