Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zu befestigen. Den nächsten Raum um die Burg, innerhalb deren Gruben
und Mauern nahmen die steinernen Kemnaten und Bnrgfitze der Burg-
männer, der ritterlichen Beschützer der Burg ein; dann folgte, ebenfalls
mit Mauern und Thürmen umschlossen, das "Weichbild" der Stadt. Da
das Ganze auch die Bezeichnung "Burg" im weitern Sinne des Worts
führte, so hießen die Bewohner die Bürger. Sie waren fast durchgängig
Freie, in erster Zeit Adelsfamilien. Unabhängigkeit von ^geistlichen oder
weltlichen Herren, eigene Gerichtsbarkeit, Zoll-, Münz- und Marktrecht sind
diejenigen Privilegien, welche die Städte als solche kennzeichnen und in
ihnen den Boden bereiten, auf welchem allmählich die Zünfte sich entfalten.

Aber ganz andere Verhältnisse finden wir bei Liebenau; da gibt es keine
freien Bürger, kein Zoll-, kein Münz-, kein Zunftrecht, ja kaum eigene Ge¬
richtsbarkeit und erst spät ein Marktrecht. Das Auffällige dieser Erschei¬
nung erklärt sich aus der geographischen Lage der Stadt.

Die Dienet bildet an der Stelle, wo Liebenau gegründet wurde, durch
Abzweigung eines Armes, der sich bald wieder mit dem Hauptfluß vereinigt,
eine Insel, eine "Liebe-Ane", von etwa 800 Fuß Länge und 200 Fuß Breite.
Sie entbehrte mit ihrer fruchtbaren, "zur Cultur besonders geeigneten Um¬
gebung des erforderlichen Schutzes, namentlich lag die nächste Burg, die des
Desenbergs, zu entfernt, als daß ihr Besitzer zugleich des ruhigen Besitzes
jenes Flachlandes sich hätte erfreuen können, zumal zwischen den benachbar¬
ten Rittern und Grafen und dem Paderborner Bischof eine Fehde die an¬
dere ablöste. Es war daher geboten, mitten im Flachlande eine zweite
Burg zu bauen und der geeignetste Platz dazu war die Diemelinsel. Frei¬
lich war nicht wahrscheinlich, daß diese Burg ihren Zweck erfüllte, wenn sie
nicht von einem Mächtigern in Schutz genommen wurde und wenn sich nicht
zahlreiche Ansiedler um sie schaarten; auch konnte kaum erwartet werden,
daß Ritter und freie Leute aus eigenem Antriebe auf der Diemelinsel sich
niederließen. Hermann Spiegel von Desenberg, dem damals der Desenberg
und das Land ringsum gehörte, stellte deshalb 1293 die "Liebenau" unter
den Schutz des benachbarten Grafen Otto von Waldeck, eines Schwieger¬
sohnes des hessischen Landgrafen und eines Günstlings des Kaisers Rudolph
von Habsburg, indem er sie ihm "zu Lehn auftrug"; dann rief er im
Jahre daraus Leute aus der Umgegend herbet, um Ansiedler für die "Stadt"
Liebenau zu gewinnen. Dazu bedürfte es besonderer Lockung, und wem an¬
ders konnte der Ritter Hermann Spiegel solche Lockung bieten, als un¬
freien Leuten, indem er ihnen die Lasten ihrer Hörigkeit abnahm oder er¬
leichterte? Er sicherte deshalb in einer Urkunde, welche das Archiv von Lie¬
benau als die Stiftungsurkunde der Stadt noch im Originale bewahrt.
Allen, die in die Stadt Liebenau zusammenströmen und dort ihren bleiben-


zu befestigen. Den nächsten Raum um die Burg, innerhalb deren Gruben
und Mauern nahmen die steinernen Kemnaten und Bnrgfitze der Burg-
männer, der ritterlichen Beschützer der Burg ein; dann folgte, ebenfalls
mit Mauern und Thürmen umschlossen, das „Weichbild" der Stadt. Da
das Ganze auch die Bezeichnung „Burg" im weitern Sinne des Worts
führte, so hießen die Bewohner die Bürger. Sie waren fast durchgängig
Freie, in erster Zeit Adelsfamilien. Unabhängigkeit von ^geistlichen oder
weltlichen Herren, eigene Gerichtsbarkeit, Zoll-, Münz- und Marktrecht sind
diejenigen Privilegien, welche die Städte als solche kennzeichnen und in
ihnen den Boden bereiten, auf welchem allmählich die Zünfte sich entfalten.

Aber ganz andere Verhältnisse finden wir bei Liebenau; da gibt es keine
freien Bürger, kein Zoll-, kein Münz-, kein Zunftrecht, ja kaum eigene Ge¬
richtsbarkeit und erst spät ein Marktrecht. Das Auffällige dieser Erschei¬
nung erklärt sich aus der geographischen Lage der Stadt.

Die Dienet bildet an der Stelle, wo Liebenau gegründet wurde, durch
Abzweigung eines Armes, der sich bald wieder mit dem Hauptfluß vereinigt,
eine Insel, eine „Liebe-Ane", von etwa 800 Fuß Länge und 200 Fuß Breite.
Sie entbehrte mit ihrer fruchtbaren, "zur Cultur besonders geeigneten Um¬
gebung des erforderlichen Schutzes, namentlich lag die nächste Burg, die des
Desenbergs, zu entfernt, als daß ihr Besitzer zugleich des ruhigen Besitzes
jenes Flachlandes sich hätte erfreuen können, zumal zwischen den benachbar¬
ten Rittern und Grafen und dem Paderborner Bischof eine Fehde die an¬
dere ablöste. Es war daher geboten, mitten im Flachlande eine zweite
Burg zu bauen und der geeignetste Platz dazu war die Diemelinsel. Frei¬
lich war nicht wahrscheinlich, daß diese Burg ihren Zweck erfüllte, wenn sie
nicht von einem Mächtigern in Schutz genommen wurde und wenn sich nicht
zahlreiche Ansiedler um sie schaarten; auch konnte kaum erwartet werden,
daß Ritter und freie Leute aus eigenem Antriebe auf der Diemelinsel sich
niederließen. Hermann Spiegel von Desenberg, dem damals der Desenberg
und das Land ringsum gehörte, stellte deshalb 1293 die „Liebenau" unter
den Schutz des benachbarten Grafen Otto von Waldeck, eines Schwieger¬
sohnes des hessischen Landgrafen und eines Günstlings des Kaisers Rudolph
von Habsburg, indem er sie ihm „zu Lehn auftrug"; dann rief er im
Jahre daraus Leute aus der Umgegend herbet, um Ansiedler für die „Stadt"
Liebenau zu gewinnen. Dazu bedürfte es besonderer Lockung, und wem an¬
ders konnte der Ritter Hermann Spiegel solche Lockung bieten, als un¬
freien Leuten, indem er ihnen die Lasten ihrer Hörigkeit abnahm oder er¬
leichterte? Er sicherte deshalb in einer Urkunde, welche das Archiv von Lie¬
benau als die Stiftungsurkunde der Stadt noch im Originale bewahrt.
Allen, die in die Stadt Liebenau zusammenströmen und dort ihren bleiben-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125044"/>
          <p xml:id="ID_1020" prev="#ID_1019"> zu befestigen. Den nächsten Raum um die Burg, innerhalb deren Gruben<lb/>
und Mauern nahmen die steinernen Kemnaten und Bnrgfitze der Burg-<lb/>
männer, der ritterlichen Beschützer der Burg ein; dann folgte, ebenfalls<lb/>
mit Mauern und Thürmen umschlossen, das &#x201E;Weichbild" der Stadt. Da<lb/>
das Ganze auch die Bezeichnung &#x201E;Burg" im weitern Sinne des Worts<lb/>
führte, so hießen die Bewohner die Bürger. Sie waren fast durchgängig<lb/>
Freie, in erster Zeit Adelsfamilien. Unabhängigkeit von ^geistlichen oder<lb/>
weltlichen Herren, eigene Gerichtsbarkeit, Zoll-, Münz- und Marktrecht sind<lb/>
diejenigen Privilegien, welche die Städte als solche kennzeichnen und in<lb/>
ihnen den Boden bereiten, auf welchem allmählich die Zünfte sich entfalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1021"> Aber ganz andere Verhältnisse finden wir bei Liebenau; da gibt es keine<lb/>
freien Bürger, kein Zoll-, kein Münz-, kein Zunftrecht, ja kaum eigene Ge¬<lb/>
richtsbarkeit und erst spät ein Marktrecht. Das Auffällige dieser Erschei¬<lb/>
nung erklärt sich aus der geographischen Lage der Stadt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1022" next="#ID_1023"> Die Dienet bildet an der Stelle, wo Liebenau gegründet wurde, durch<lb/>
Abzweigung eines Armes, der sich bald wieder mit dem Hauptfluß vereinigt,<lb/>
eine Insel, eine &#x201E;Liebe-Ane", von etwa 800 Fuß Länge und 200 Fuß Breite.<lb/>
Sie entbehrte mit ihrer fruchtbaren, "zur Cultur besonders geeigneten Um¬<lb/>
gebung des erforderlichen Schutzes, namentlich lag die nächste Burg, die des<lb/>
Desenbergs, zu entfernt, als daß ihr Besitzer zugleich des ruhigen Besitzes<lb/>
jenes Flachlandes sich hätte erfreuen können, zumal zwischen den benachbar¬<lb/>
ten Rittern und Grafen und dem Paderborner Bischof eine Fehde die an¬<lb/>
dere ablöste. Es war daher geboten, mitten im Flachlande eine zweite<lb/>
Burg zu bauen und der geeignetste Platz dazu war die Diemelinsel. Frei¬<lb/>
lich war nicht wahrscheinlich, daß diese Burg ihren Zweck erfüllte, wenn sie<lb/>
nicht von einem Mächtigern in Schutz genommen wurde und wenn sich nicht<lb/>
zahlreiche Ansiedler um sie schaarten; auch konnte kaum erwartet werden,<lb/>
daß Ritter und freie Leute aus eigenem Antriebe auf der Diemelinsel sich<lb/>
niederließen. Hermann Spiegel von Desenberg, dem damals der Desenberg<lb/>
und das Land ringsum gehörte, stellte deshalb 1293 die &#x201E;Liebenau" unter<lb/>
den Schutz des benachbarten Grafen Otto von Waldeck, eines Schwieger¬<lb/>
sohnes des hessischen Landgrafen und eines Günstlings des Kaisers Rudolph<lb/>
von Habsburg, indem er sie ihm &#x201E;zu Lehn auftrug"; dann rief er im<lb/>
Jahre daraus Leute aus der Umgegend herbet, um Ansiedler für die &#x201E;Stadt"<lb/>
Liebenau zu gewinnen. Dazu bedürfte es besonderer Lockung, und wem an¬<lb/>
ders konnte der Ritter Hermann Spiegel solche Lockung bieten, als un¬<lb/>
freien Leuten, indem er ihnen die Lasten ihrer Hörigkeit abnahm oder er¬<lb/>
leichterte? Er sicherte deshalb in einer Urkunde, welche das Archiv von Lie¬<lb/>
benau als die Stiftungsurkunde der Stadt noch im Originale bewahrt.<lb/>
Allen, die in die Stadt Liebenau zusammenströmen und dort ihren bleiben-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0338] zu befestigen. Den nächsten Raum um die Burg, innerhalb deren Gruben und Mauern nahmen die steinernen Kemnaten und Bnrgfitze der Burg- männer, der ritterlichen Beschützer der Burg ein; dann folgte, ebenfalls mit Mauern und Thürmen umschlossen, das „Weichbild" der Stadt. Da das Ganze auch die Bezeichnung „Burg" im weitern Sinne des Worts führte, so hießen die Bewohner die Bürger. Sie waren fast durchgängig Freie, in erster Zeit Adelsfamilien. Unabhängigkeit von ^geistlichen oder weltlichen Herren, eigene Gerichtsbarkeit, Zoll-, Münz- und Marktrecht sind diejenigen Privilegien, welche die Städte als solche kennzeichnen und in ihnen den Boden bereiten, auf welchem allmählich die Zünfte sich entfalten. Aber ganz andere Verhältnisse finden wir bei Liebenau; da gibt es keine freien Bürger, kein Zoll-, kein Münz-, kein Zunftrecht, ja kaum eigene Ge¬ richtsbarkeit und erst spät ein Marktrecht. Das Auffällige dieser Erschei¬ nung erklärt sich aus der geographischen Lage der Stadt. Die Dienet bildet an der Stelle, wo Liebenau gegründet wurde, durch Abzweigung eines Armes, der sich bald wieder mit dem Hauptfluß vereinigt, eine Insel, eine „Liebe-Ane", von etwa 800 Fuß Länge und 200 Fuß Breite. Sie entbehrte mit ihrer fruchtbaren, "zur Cultur besonders geeigneten Um¬ gebung des erforderlichen Schutzes, namentlich lag die nächste Burg, die des Desenbergs, zu entfernt, als daß ihr Besitzer zugleich des ruhigen Besitzes jenes Flachlandes sich hätte erfreuen können, zumal zwischen den benachbar¬ ten Rittern und Grafen und dem Paderborner Bischof eine Fehde die an¬ dere ablöste. Es war daher geboten, mitten im Flachlande eine zweite Burg zu bauen und der geeignetste Platz dazu war die Diemelinsel. Frei¬ lich war nicht wahrscheinlich, daß diese Burg ihren Zweck erfüllte, wenn sie nicht von einem Mächtigern in Schutz genommen wurde und wenn sich nicht zahlreiche Ansiedler um sie schaarten; auch konnte kaum erwartet werden, daß Ritter und freie Leute aus eigenem Antriebe auf der Diemelinsel sich niederließen. Hermann Spiegel von Desenberg, dem damals der Desenberg und das Land ringsum gehörte, stellte deshalb 1293 die „Liebenau" unter den Schutz des benachbarten Grafen Otto von Waldeck, eines Schwieger¬ sohnes des hessischen Landgrafen und eines Günstlings des Kaisers Rudolph von Habsburg, indem er sie ihm „zu Lehn auftrug"; dann rief er im Jahre daraus Leute aus der Umgegend herbet, um Ansiedler für die „Stadt" Liebenau zu gewinnen. Dazu bedürfte es besonderer Lockung, und wem an¬ ders konnte der Ritter Hermann Spiegel solche Lockung bieten, als un¬ freien Leuten, indem er ihnen die Lasten ihrer Hörigkeit abnahm oder er¬ leichterte? Er sicherte deshalb in einer Urkunde, welche das Archiv von Lie¬ benau als die Stiftungsurkunde der Stadt noch im Originale bewahrt. Allen, die in die Stadt Liebenau zusammenströmen und dort ihren bleiben-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/338
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/338>, abgerufen am 22.12.2024.