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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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der Religionsübung der Dissidenten in Angriff zu nehmen. So konnte denn
endlich im März d. I. der Landtag wieder berufen werden, der um so län¬
gere Debatten in Aussicht stellte, als nun doch ernstlich an die Berathung
des Budgets für die nächste Periode gedacht werden mußte. Allein es kam
anders; noch derselbe Monat März sollte auch den Schluß der Session er¬
leben. Und daran war eben der Militarismus Schuld, gegen den sich 45 Ab¬
geordnete von meist demokratischer, auch ultramontaner und sonst mißver¬
gnügter Richtung zu einer gewaltigen Verschwörung zusammengethan hatten.
Ihr Antrag, der eine vorausgegangene Landesagitation mit Adressensturm
in officieller Form zusammenfaßte, setzte gleichsam der Regierung die Pistole
auf die Brust. Er war gleichbedeutend mit der Drohung, daß die Stände
Strike machen würden, wenn die Regierung sich nicht vor Allem bereit er¬
kläre, das Militärwesen auf einen nichtswürdigen aber billigen Zustand herab¬
zusetzen. Darüber Ministerkrisis, Vertagung der Stände und theilweise Aen¬
derung des Ministeriums, welche die Volkspartei als "Schlag in's Gesicht"
empfand, und die in der That eine erste Verwarnung an das bisher die
Herrschaft führende Parteiunwesen bedeutete, ein erstes Zeichen, daß die Re¬
gierung geneigt sei, wieder in Function zu treten und die allzu übermüthig
und zudringlich gewordenen Nebenregierungen zu beseitigen, die sich im Re-
dactionsloeal des "Beobachters" und in ultramontanen Conventikeln etablirt
hatten.

Als diese Katastrophe eintrat, war natürlich in den abgehaltenen 17 Sitzun¬
gen blutwenig in Geschäften geleistet worden. Nicht einmal das Wenige,
was die Commissionen vorbereitet hatten, konnte erledigt werden. So ging
es z. B. der Maß-, Münz" und Gewichtsordnung, die zwar in der zweiten
Kammer gründlich durchberathen wurde; aber die Zeit reichte nicht mehr sie
auch von der Kammer der Standesherren behandeln zu lassen. Man dachte
deshalb daran, daß vielleicht die kurze Session der vorigen Woche dazu Ge¬
legenheit geben könnte, dieses Gesetz von der Tractandenliste endlich wegzu¬
bringen. Denn es war ja nicht anzunehmen, daß die Kammer der Standes¬
herren sich noch in eingehende Debatten über dieses Gesetz werde vertiefen
wollen. Galt es ja doch blos das im Nordbund Beschlossene auch für
unser Land einzuführen. Aber da lag eben der Haken. Diesen Charakter
trug wohl der ursprüngliche Regierungsentwurf; aber die Commission
und die Kammer der Abgeordneten hatten sich sorgfältig bemüht, ihm
idesen norddeutschen Charakter abzustreifen und ihm dafür ein schwäbisch¬
französisches Mäntelchen umzuhängen. Die Unabhängigkeit unsrer Gesetz¬
gebung sollte bei dieser Gelegenheit einmal glänzend documentirt werden,
und so erhielt das Gesetz eine Fassung, in der es heute einfach unbrauchbar
ist; denn der bevorstehende Eintritt in den Bund bringt es mit sich, daß


der Religionsübung der Dissidenten in Angriff zu nehmen. So konnte denn
endlich im März d. I. der Landtag wieder berufen werden, der um so län¬
gere Debatten in Aussicht stellte, als nun doch ernstlich an die Berathung
des Budgets für die nächste Periode gedacht werden mußte. Allein es kam
anders; noch derselbe Monat März sollte auch den Schluß der Session er¬
leben. Und daran war eben der Militarismus Schuld, gegen den sich 45 Ab¬
geordnete von meist demokratischer, auch ultramontaner und sonst mißver¬
gnügter Richtung zu einer gewaltigen Verschwörung zusammengethan hatten.
Ihr Antrag, der eine vorausgegangene Landesagitation mit Adressensturm
in officieller Form zusammenfaßte, setzte gleichsam der Regierung die Pistole
auf die Brust. Er war gleichbedeutend mit der Drohung, daß die Stände
Strike machen würden, wenn die Regierung sich nicht vor Allem bereit er¬
kläre, das Militärwesen auf einen nichtswürdigen aber billigen Zustand herab¬
zusetzen. Darüber Ministerkrisis, Vertagung der Stände und theilweise Aen¬
derung des Ministeriums, welche die Volkspartei als „Schlag in's Gesicht"
empfand, und die in der That eine erste Verwarnung an das bisher die
Herrschaft führende Parteiunwesen bedeutete, ein erstes Zeichen, daß die Re¬
gierung geneigt sei, wieder in Function zu treten und die allzu übermüthig
und zudringlich gewordenen Nebenregierungen zu beseitigen, die sich im Re-
dactionsloeal des „Beobachters" und in ultramontanen Conventikeln etablirt
hatten.

Als diese Katastrophe eintrat, war natürlich in den abgehaltenen 17 Sitzun¬
gen blutwenig in Geschäften geleistet worden. Nicht einmal das Wenige,
was die Commissionen vorbereitet hatten, konnte erledigt werden. So ging
es z. B. der Maß-, Münz« und Gewichtsordnung, die zwar in der zweiten
Kammer gründlich durchberathen wurde; aber die Zeit reichte nicht mehr sie
auch von der Kammer der Standesherren behandeln zu lassen. Man dachte
deshalb daran, daß vielleicht die kurze Session der vorigen Woche dazu Ge¬
legenheit geben könnte, dieses Gesetz von der Tractandenliste endlich wegzu¬
bringen. Denn es war ja nicht anzunehmen, daß die Kammer der Standes¬
herren sich noch in eingehende Debatten über dieses Gesetz werde vertiefen
wollen. Galt es ja doch blos das im Nordbund Beschlossene auch für
unser Land einzuführen. Aber da lag eben der Haken. Diesen Charakter
trug wohl der ursprüngliche Regierungsentwurf; aber die Commission
und die Kammer der Abgeordneten hatten sich sorgfältig bemüht, ihm
idesen norddeutschen Charakter abzustreifen und ihm dafür ein schwäbisch¬
französisches Mäntelchen umzuhängen. Die Unabhängigkeit unsrer Gesetz¬
gebung sollte bei dieser Gelegenheit einmal glänzend documentirt werden,
und so erhielt das Gesetz eine Fassung, in der es heute einfach unbrauchbar
ist; denn der bevorstehende Eintritt in den Bund bringt es mit sich, daß


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[0237] der Religionsübung der Dissidenten in Angriff zu nehmen. So konnte denn endlich im März d. I. der Landtag wieder berufen werden, der um so län¬ gere Debatten in Aussicht stellte, als nun doch ernstlich an die Berathung des Budgets für die nächste Periode gedacht werden mußte. Allein es kam anders; noch derselbe Monat März sollte auch den Schluß der Session er¬ leben. Und daran war eben der Militarismus Schuld, gegen den sich 45 Ab¬ geordnete von meist demokratischer, auch ultramontaner und sonst mißver¬ gnügter Richtung zu einer gewaltigen Verschwörung zusammengethan hatten. Ihr Antrag, der eine vorausgegangene Landesagitation mit Adressensturm in officieller Form zusammenfaßte, setzte gleichsam der Regierung die Pistole auf die Brust. Er war gleichbedeutend mit der Drohung, daß die Stände Strike machen würden, wenn die Regierung sich nicht vor Allem bereit er¬ kläre, das Militärwesen auf einen nichtswürdigen aber billigen Zustand herab¬ zusetzen. Darüber Ministerkrisis, Vertagung der Stände und theilweise Aen¬ derung des Ministeriums, welche die Volkspartei als „Schlag in's Gesicht" empfand, und die in der That eine erste Verwarnung an das bisher die Herrschaft führende Parteiunwesen bedeutete, ein erstes Zeichen, daß die Re¬ gierung geneigt sei, wieder in Function zu treten und die allzu übermüthig und zudringlich gewordenen Nebenregierungen zu beseitigen, die sich im Re- dactionsloeal des „Beobachters" und in ultramontanen Conventikeln etablirt hatten. Als diese Katastrophe eintrat, war natürlich in den abgehaltenen 17 Sitzun¬ gen blutwenig in Geschäften geleistet worden. Nicht einmal das Wenige, was die Commissionen vorbereitet hatten, konnte erledigt werden. So ging es z. B. der Maß-, Münz« und Gewichtsordnung, die zwar in der zweiten Kammer gründlich durchberathen wurde; aber die Zeit reichte nicht mehr sie auch von der Kammer der Standesherren behandeln zu lassen. Man dachte deshalb daran, daß vielleicht die kurze Session der vorigen Woche dazu Ge¬ legenheit geben könnte, dieses Gesetz von der Tractandenliste endlich wegzu¬ bringen. Denn es war ja nicht anzunehmen, daß die Kammer der Standes¬ herren sich noch in eingehende Debatten über dieses Gesetz werde vertiefen wollen. Galt es ja doch blos das im Nordbund Beschlossene auch für unser Land einzuführen. Aber da lag eben der Haken. Diesen Charakter trug wohl der ursprüngliche Regierungsentwurf; aber die Commission und die Kammer der Abgeordneten hatten sich sorgfältig bemüht, ihm idesen norddeutschen Charakter abzustreifen und ihm dafür ein schwäbisch¬ französisches Mäntelchen umzuhängen. Die Unabhängigkeit unsrer Gesetz¬ gebung sollte bei dieser Gelegenheit einmal glänzend documentirt werden, und so erhielt das Gesetz eine Fassung, in der es heute einfach unbrauchbar ist; denn der bevorstehende Eintritt in den Bund bringt es mit sich, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/237>, abgerufen am 22.12.2024.