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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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im preußischen Staate sieht es schon besser aus; der Anblick ihres Sprachge¬
biets auf der großen Böckh'schen Karte erinnert an ein langsam zurücktreten¬
des, hier und da lachenweise austrocknendes Gewässer. Doch wie gesagt, die
Sprachgrenzen sind nicht schuld an unserer Ohnmacht gewesen, auch nicht die
schlechte Vertheilung unserer nationalen über die Naturgebiete des Bodens, daß
im Norden der nordöstliche Drang unseres Volkes den nordwestlichen Lauf
unserer Ströme immer näher der Mündung geschnitten hat, oder daß im
Süden wegen der mächtigen Erhebung dieses Bodens über alles Amiant
unsere Rede umgekehrt nur den oberen Gang der großen Flüsse begleitet.
Nein, nichts anderes, als unsere politische Zersplitterung hat die geringe Gel¬
tung unseres Nationalwesens verursacht.

Wie griffen und greifen fremde Herrschaftsgebiete in unsere Sprachgrenzen
herein! Die dritthalbhunderttausend Deutsche Schleswigs, meist in fester sprach¬
licher Verbindung mit dem Hauptgebiete der Nation, waren der Willkür der
Dänen überliefert; die anderthalb Millionen Deutscher in Elsaß-Lothringen
sollen eben erst wiedergewonnen werden. Von der noch größeren Anzahl in
der Eidgenossenschaft will ich nicht reden, denn sie genießen der Sprachfcei-
heit, die dagegen in Belgien den dritthalb Millionen Vlaemen noch so un¬
würdig verkümmert wird. Die mehr als drei Millionen niederländischer
Deutscher wieder, die Niemand drückt noch plante, werden gar ungeberdig,
wenn ihnen die Wissenschaft sagt, daß sie einfach Deutsche sind und
nichts anderes. Ueber sechs Millionen unserer Landsleute endlich leben in
gleichfalls geschlossenem Gebiete unter dem östreichischen Scepter, dessen
balancirende Politik ihnen zum mindesten Muth und Kraft zum fried¬
lichen, doch energischen Vordringen gegen die Fremden geschwächt hat; sie
sind lässig und schüchtern geworden und weichen z. B. in den Alpen vor
den rührigen, sich fühlenden Italienern sichtlich zurück. Weit schlimmer sind
in derselben Monarchie aus denselben Gründen die zahl- und umfangreichen
deutschen Sprachinseln dran, von denen die Wellen der magyarischen, czechi-
schen, slovenischen Bewegung leider mit Erfolg Stück für Stück wegzu¬
spülen streben. Und was soll man endlich von den über die lettischen, esth¬
nischen und polnischen Gebiete des Czarenreiches hingesprengten Deutschen
sagen? Die evangelische Kirche betet wohl für ihre zerstreuten Glaubens¬
genossen, die draußen unter Andersgläubigen "dermalen noch in vieler Ge¬
fahr, Noth und Trübsal schweben." Unsere Nation hat lange leider für ihre
Sprachgenossen in der Diaspora sich auch auf fromme Wünsche beschränken
müssen; wohl uns, die Zeit ist nun vorüber I

Deutschland hat lange Unrecht erduldet, "weil es nicht wußte, wie stark
es war", wie König Wilhelm treffend vorm Kriege sagte. Jetzt nach der
Einigung der in den echtdeutschen Staaten lebenden Deutschen ist das anders


Grenzboten IV. 187". 24

im preußischen Staate sieht es schon besser aus; der Anblick ihres Sprachge¬
biets auf der großen Böckh'schen Karte erinnert an ein langsam zurücktreten¬
des, hier und da lachenweise austrocknendes Gewässer. Doch wie gesagt, die
Sprachgrenzen sind nicht schuld an unserer Ohnmacht gewesen, auch nicht die
schlechte Vertheilung unserer nationalen über die Naturgebiete des Bodens, daß
im Norden der nordöstliche Drang unseres Volkes den nordwestlichen Lauf
unserer Ströme immer näher der Mündung geschnitten hat, oder daß im
Süden wegen der mächtigen Erhebung dieses Bodens über alles Amiant
unsere Rede umgekehrt nur den oberen Gang der großen Flüsse begleitet.
Nein, nichts anderes, als unsere politische Zersplitterung hat die geringe Gel¬
tung unseres Nationalwesens verursacht.

Wie griffen und greifen fremde Herrschaftsgebiete in unsere Sprachgrenzen
herein! Die dritthalbhunderttausend Deutsche Schleswigs, meist in fester sprach¬
licher Verbindung mit dem Hauptgebiete der Nation, waren der Willkür der
Dänen überliefert; die anderthalb Millionen Deutscher in Elsaß-Lothringen
sollen eben erst wiedergewonnen werden. Von der noch größeren Anzahl in
der Eidgenossenschaft will ich nicht reden, denn sie genießen der Sprachfcei-
heit, die dagegen in Belgien den dritthalb Millionen Vlaemen noch so un¬
würdig verkümmert wird. Die mehr als drei Millionen niederländischer
Deutscher wieder, die Niemand drückt noch plante, werden gar ungeberdig,
wenn ihnen die Wissenschaft sagt, daß sie einfach Deutsche sind und
nichts anderes. Ueber sechs Millionen unserer Landsleute endlich leben in
gleichfalls geschlossenem Gebiete unter dem östreichischen Scepter, dessen
balancirende Politik ihnen zum mindesten Muth und Kraft zum fried¬
lichen, doch energischen Vordringen gegen die Fremden geschwächt hat; sie
sind lässig und schüchtern geworden und weichen z. B. in den Alpen vor
den rührigen, sich fühlenden Italienern sichtlich zurück. Weit schlimmer sind
in derselben Monarchie aus denselben Gründen die zahl- und umfangreichen
deutschen Sprachinseln dran, von denen die Wellen der magyarischen, czechi-
schen, slovenischen Bewegung leider mit Erfolg Stück für Stück wegzu¬
spülen streben. Und was soll man endlich von den über die lettischen, esth¬
nischen und polnischen Gebiete des Czarenreiches hingesprengten Deutschen
sagen? Die evangelische Kirche betet wohl für ihre zerstreuten Glaubens¬
genossen, die draußen unter Andersgläubigen „dermalen noch in vieler Ge¬
fahr, Noth und Trübsal schweben." Unsere Nation hat lange leider für ihre
Sprachgenossen in der Diaspora sich auch auf fromme Wünsche beschränken
müssen; wohl uns, die Zeit ist nun vorüber I

Deutschland hat lange Unrecht erduldet, „weil es nicht wußte, wie stark
es war", wie König Wilhelm treffend vorm Kriege sagte. Jetzt nach der
Einigung der in den echtdeutschen Staaten lebenden Deutschen ist das anders


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[0193] im preußischen Staate sieht es schon besser aus; der Anblick ihres Sprachge¬ biets auf der großen Böckh'schen Karte erinnert an ein langsam zurücktreten¬ des, hier und da lachenweise austrocknendes Gewässer. Doch wie gesagt, die Sprachgrenzen sind nicht schuld an unserer Ohnmacht gewesen, auch nicht die schlechte Vertheilung unserer nationalen über die Naturgebiete des Bodens, daß im Norden der nordöstliche Drang unseres Volkes den nordwestlichen Lauf unserer Ströme immer näher der Mündung geschnitten hat, oder daß im Süden wegen der mächtigen Erhebung dieses Bodens über alles Amiant unsere Rede umgekehrt nur den oberen Gang der großen Flüsse begleitet. Nein, nichts anderes, als unsere politische Zersplitterung hat die geringe Gel¬ tung unseres Nationalwesens verursacht. Wie griffen und greifen fremde Herrschaftsgebiete in unsere Sprachgrenzen herein! Die dritthalbhunderttausend Deutsche Schleswigs, meist in fester sprach¬ licher Verbindung mit dem Hauptgebiete der Nation, waren der Willkür der Dänen überliefert; die anderthalb Millionen Deutscher in Elsaß-Lothringen sollen eben erst wiedergewonnen werden. Von der noch größeren Anzahl in der Eidgenossenschaft will ich nicht reden, denn sie genießen der Sprachfcei- heit, die dagegen in Belgien den dritthalb Millionen Vlaemen noch so un¬ würdig verkümmert wird. Die mehr als drei Millionen niederländischer Deutscher wieder, die Niemand drückt noch plante, werden gar ungeberdig, wenn ihnen die Wissenschaft sagt, daß sie einfach Deutsche sind und nichts anderes. Ueber sechs Millionen unserer Landsleute endlich leben in gleichfalls geschlossenem Gebiete unter dem östreichischen Scepter, dessen balancirende Politik ihnen zum mindesten Muth und Kraft zum fried¬ lichen, doch energischen Vordringen gegen die Fremden geschwächt hat; sie sind lässig und schüchtern geworden und weichen z. B. in den Alpen vor den rührigen, sich fühlenden Italienern sichtlich zurück. Weit schlimmer sind in derselben Monarchie aus denselben Gründen die zahl- und umfangreichen deutschen Sprachinseln dran, von denen die Wellen der magyarischen, czechi- schen, slovenischen Bewegung leider mit Erfolg Stück für Stück wegzu¬ spülen streben. Und was soll man endlich von den über die lettischen, esth¬ nischen und polnischen Gebiete des Czarenreiches hingesprengten Deutschen sagen? Die evangelische Kirche betet wohl für ihre zerstreuten Glaubens¬ genossen, die draußen unter Andersgläubigen „dermalen noch in vieler Ge¬ fahr, Noth und Trübsal schweben." Unsere Nation hat lange leider für ihre Sprachgenossen in der Diaspora sich auch auf fromme Wünsche beschränken müssen; wohl uns, die Zeit ist nun vorüber I Deutschland hat lange Unrecht erduldet, „weil es nicht wußte, wie stark es war", wie König Wilhelm treffend vorm Kriege sagte. Jetzt nach der Einigung der in den echtdeutschen Staaten lebenden Deutschen ist das anders Grenzboten IV. 187«. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/193>, abgerufen am 22.12.2024.