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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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von dessen vorgeschobenen oder abgetrennten Gliedern noch des Schutzes
bedarf.

In der That ein erhebendes und doch zugleich ein niederschlagendes Bild
vom Gesammtstande unserer Nation gewinnen wir aus den Forschungen
Böckh's. Wir sind das zahlreichste Volk Europa's; das geschlossene Gebiet un.
Serer Sprache ist ausgedehnt und doch nickt undicht bevölkert; im Innern
birgt es nur wenige abgetrennte Vertreter fremder Zungen. Um so massen¬
hafter sind unsere eigenen Sprachgenossen über die Länder Europas verbrei¬
tet, deutscher Bauernfleiß, deutsches Handwerkergeschick, deutsche Kauf¬
mannsredlichkeit werden überall gesucht und benutzt, wenn auch nicht immer
geachtet. Hält man im Geiste dazu die unzählbaren Schaaren, die wir Jahr
für Jahr in die fremden Welttheile schicken -- an diese letzteren darf sich
leider der besonnene Statistiker noch nicht wagen -- so kommt einem wohl
die alte Vorstellung der Südvölker von der vagins. Aeutium im Norden in
den Sinn, aus der >die frischen Stämme hervorbrechen, unerschöpflich;
oder die Betrachtung Macchiavell's am Eingange seiner florentinischen
Geschichte, daß das arme aber an Volk überreiche Germanenland von
Zeit zu Zeit seinen Ueberschuß an Männern zur Heimsuchung der ro¬
manischen Welt äusserte. Man begreift zugleich, daß das Angstgeschret der
heutigen lateinischen Völker von dem drohenden Niedergang ihrer Rasse so
ganz ohne thatsächliche Begründung doch nicht ist. Aber was können wir
dafür, daß sie aus eigener Bedürftigkeit eine zweite deutsche Völkerwande¬
rung, diesmal aber der Cultur, über sich ergehen lassen müssen? Die ein¬
sichtigeren unter ihnen wissen es auch wohl zu schätzen, was sie an unserer
Einwanderung haben. Stellt sich uns so der Umfang unseres Volksthums,
wie sein Inhalt, in großer Mächtigkeit vor Augen und berechtigen uns auch
die sittlichen und wirthschaftlichen Zustände der Nation an ihr gleichmäßiges
Wachsthum in die Zukunft hinein zu glauben, so drängt sich uns unab¬
weisbar dabei die Frage auf: wie kommt es, daß dies große Volksthum
bisher so wenig bedeutet hat in den Geschicken Europas? Dieselbe Ant¬
wort wie andersher erhalten wir dafür auch bei Böckh. Die Grenzen un¬
seres geschlossenen Sprachgebiets, so wunderlich sie im Osten durch die pol¬
nische Bucht und namentlich durch den czechischen Keil, im Westen durch den
vorspringenden wallonischen Winkel gestaltet sind, tragen doch nicht wesent¬
lich die Schuld. Das nach beiden Seiten überragende Schirmdach des Deutsch
thums, das sich an der Küste von Dünkirchen bis Memel ausspannt, ist das
Werk der energischeren niederdeutschen Stämme, besonders des niedersächsischen.
Ihnen haben die südostdeutschen es nicht gleich gethan; es ist sehr die Frage,
ob ihnen einmal gelingen wird, eine deutsche Brücke von Brünn aus nörd¬
lich über die schmalste Stelle des Czechenthums zu schlagen. Mit den Polen


von dessen vorgeschobenen oder abgetrennten Gliedern noch des Schutzes
bedarf.

In der That ein erhebendes und doch zugleich ein niederschlagendes Bild
vom Gesammtstande unserer Nation gewinnen wir aus den Forschungen
Böckh's. Wir sind das zahlreichste Volk Europa's; das geschlossene Gebiet un.
Serer Sprache ist ausgedehnt und doch nickt undicht bevölkert; im Innern
birgt es nur wenige abgetrennte Vertreter fremder Zungen. Um so massen¬
hafter sind unsere eigenen Sprachgenossen über die Länder Europas verbrei¬
tet, deutscher Bauernfleiß, deutsches Handwerkergeschick, deutsche Kauf¬
mannsredlichkeit werden überall gesucht und benutzt, wenn auch nicht immer
geachtet. Hält man im Geiste dazu die unzählbaren Schaaren, die wir Jahr
für Jahr in die fremden Welttheile schicken — an diese letzteren darf sich
leider der besonnene Statistiker noch nicht wagen — so kommt einem wohl
die alte Vorstellung der Südvölker von der vagins. Aeutium im Norden in
den Sinn, aus der >die frischen Stämme hervorbrechen, unerschöpflich;
oder die Betrachtung Macchiavell's am Eingange seiner florentinischen
Geschichte, daß das arme aber an Volk überreiche Germanenland von
Zeit zu Zeit seinen Ueberschuß an Männern zur Heimsuchung der ro¬
manischen Welt äusserte. Man begreift zugleich, daß das Angstgeschret der
heutigen lateinischen Völker von dem drohenden Niedergang ihrer Rasse so
ganz ohne thatsächliche Begründung doch nicht ist. Aber was können wir
dafür, daß sie aus eigener Bedürftigkeit eine zweite deutsche Völkerwande¬
rung, diesmal aber der Cultur, über sich ergehen lassen müssen? Die ein¬
sichtigeren unter ihnen wissen es auch wohl zu schätzen, was sie an unserer
Einwanderung haben. Stellt sich uns so der Umfang unseres Volksthums,
wie sein Inhalt, in großer Mächtigkeit vor Augen und berechtigen uns auch
die sittlichen und wirthschaftlichen Zustände der Nation an ihr gleichmäßiges
Wachsthum in die Zukunft hinein zu glauben, so drängt sich uns unab¬
weisbar dabei die Frage auf: wie kommt es, daß dies große Volksthum
bisher so wenig bedeutet hat in den Geschicken Europas? Dieselbe Ant¬
wort wie andersher erhalten wir dafür auch bei Böckh. Die Grenzen un¬
seres geschlossenen Sprachgebiets, so wunderlich sie im Osten durch die pol¬
nische Bucht und namentlich durch den czechischen Keil, im Westen durch den
vorspringenden wallonischen Winkel gestaltet sind, tragen doch nicht wesent¬
lich die Schuld. Das nach beiden Seiten überragende Schirmdach des Deutsch
thums, das sich an der Küste von Dünkirchen bis Memel ausspannt, ist das
Werk der energischeren niederdeutschen Stämme, besonders des niedersächsischen.
Ihnen haben die südostdeutschen es nicht gleich gethan; es ist sehr die Frage,
ob ihnen einmal gelingen wird, eine deutsche Brücke von Brünn aus nörd¬
lich über die schmalste Stelle des Czechenthums zu schlagen. Mit den Polen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/192>, abgerufen am 22.12.2024.