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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band.

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denn auch im Laufe unseres Conflicts so sichtbar, daß die Kreuzzeitung
rühmend behaupten konnte, "die Entscheidungen des Ober-Tribunals tragen
jetzt sämmtlich einen streng conservativen Charakter". -- In dieser Lage
war es, in welchem das Ehrgefühl des preußischen Richters und der Zorn
des deutschen Mannes sich in der Rede vom 20. Mai 1863 (Seen. Ber. 1612)
gegen den höchsten Gerichtshof ergoß, vor allem gegen die Heuchelei der
Männer an der Spitze, welche die Mühle von Sanssouci so salbungsvoll im
Munde führen und den wohlverdienten Ruhm preußischer Richter, deren Nach¬
folger sie nicht sind. An diese Rede schloß sich dann die Eröffnung einer
Criminaluntersuchung durch Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866.
Noch einmal erkannten die Commissionen des Stadtgerichts und Kammer¬
gerichts nach der früheren Praxis des höchsten Gerichtshofes selbst auf Frei¬
sprechung. Allein es erfolgte darauf ein cassirendes Urtheil des Obertribunals
vom 26, Juni 1867, in Folge dessen eine Verurteilung auf zwei Jahre Ge¬
fängniß, in zweiter Instanz auf 300 Thlr. Geldbuße erging. -- Ob die den
Richtern vorgeworfene "Corruption" als persönlicher Vorwurf zu begründen
war, darüber wird auch die Zukunft getheilter Meinung bleiben. Aber keine
Geschichtsschreibung wird dereinst behaupten, daß im Staate Friedrichs des
Großen der Graf Lippe der rechte Justizminister, das Obertribunal der rechte
Gerichtshof für jene Krisis des preußischen Verfassungslebens gewesen. Je
Höhe?*dem deutschen Juristen der wohlerworbene Ruhm unserer Gerichtshöfe
steht, um so verständlicher wird ihm die leidenschaftliche Rede des sonst so
maßvollen Mannes bleiben.

In seltsamem Contrast mit diesen Hergängen in den preußischen Ge¬
richtshöfen steht die gleichzeitige politische Thätigkeit Twestens. Seinem patrio¬
tischen Bestreben war auch in den Zeiten der äußersten Aufregung und An¬
reizung die Opposition um ihrer selbst willen fremd. Schon bei dem Streit
über die Mililärfrage hatte er die Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit zur
Geltung gebracht, um zum Vergleich zu rathen, und ließ sich von seinen
Berliner Wahlmännern dafür einen "Verräther" schelten. Inzwischen hatte
die Regierung ihre Ziele höher genommen, um den Widerstand gegen die
budgetlose Regierung durch eine Befriedigung der höheren nationalen For¬
derungen zu überwinden. Die Ziele dieser Politik wuchsen von Jahr zu
Jahr in der Rückkehr zu dem deutschen Beruf Preußens, bis zu den ent¬
scheidenden Erfolgen vom Jahre 1866, die, wenn sie im Beginn des Reor-
ganisations- und Verfassungsstreiis gewollt und in Aussicht gestellt wären,
der Regierung König Wilhelm's jeden Conflict mit seiner Volksveitretung
erspart haben würden. In vollem Verständniß der neuen Lage entschloß sich
Tochter alsbald zu einem Zusammengehen mit dieser Regierung auf den
neuen Bahnen ihrer deutschen Politik. Als einen Hauptsührer und Stifter


denn auch im Laufe unseres Conflicts so sichtbar, daß die Kreuzzeitung
rühmend behaupten konnte, „die Entscheidungen des Ober-Tribunals tragen
jetzt sämmtlich einen streng conservativen Charakter". — In dieser Lage
war es, in welchem das Ehrgefühl des preußischen Richters und der Zorn
des deutschen Mannes sich in der Rede vom 20. Mai 1863 (Seen. Ber. 1612)
gegen den höchsten Gerichtshof ergoß, vor allem gegen die Heuchelei der
Männer an der Spitze, welche die Mühle von Sanssouci so salbungsvoll im
Munde führen und den wohlverdienten Ruhm preußischer Richter, deren Nach¬
folger sie nicht sind. An diese Rede schloß sich dann die Eröffnung einer
Criminaluntersuchung durch Beschluß des Obertribunals vom 29. Januar 1866.
Noch einmal erkannten die Commissionen des Stadtgerichts und Kammer¬
gerichts nach der früheren Praxis des höchsten Gerichtshofes selbst auf Frei¬
sprechung. Allein es erfolgte darauf ein cassirendes Urtheil des Obertribunals
vom 26, Juni 1867, in Folge dessen eine Verurteilung auf zwei Jahre Ge¬
fängniß, in zweiter Instanz auf 300 Thlr. Geldbuße erging. — Ob die den
Richtern vorgeworfene „Corruption" als persönlicher Vorwurf zu begründen
war, darüber wird auch die Zukunft getheilter Meinung bleiben. Aber keine
Geschichtsschreibung wird dereinst behaupten, daß im Staate Friedrichs des
Großen der Graf Lippe der rechte Justizminister, das Obertribunal der rechte
Gerichtshof für jene Krisis des preußischen Verfassungslebens gewesen. Je
Höhe?*dem deutschen Juristen der wohlerworbene Ruhm unserer Gerichtshöfe
steht, um so verständlicher wird ihm die leidenschaftliche Rede des sonst so
maßvollen Mannes bleiben.

In seltsamem Contrast mit diesen Hergängen in den preußischen Ge¬
richtshöfen steht die gleichzeitige politische Thätigkeit Twestens. Seinem patrio¬
tischen Bestreben war auch in den Zeiten der äußersten Aufregung und An¬
reizung die Opposition um ihrer selbst willen fremd. Schon bei dem Streit
über die Mililärfrage hatte er die Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit zur
Geltung gebracht, um zum Vergleich zu rathen, und ließ sich von seinen
Berliner Wahlmännern dafür einen „Verräther" schelten. Inzwischen hatte
die Regierung ihre Ziele höher genommen, um den Widerstand gegen die
budgetlose Regierung durch eine Befriedigung der höheren nationalen For¬
derungen zu überwinden. Die Ziele dieser Politik wuchsen von Jahr zu
Jahr in der Rückkehr zu dem deutschen Beruf Preußens, bis zu den ent¬
scheidenden Erfolgen vom Jahre 1866, die, wenn sie im Beginn des Reor-
ganisations- und Verfassungsstreiis gewollt und in Aussicht gestellt wären,
der Regierung König Wilhelm's jeden Conflict mit seiner Volksveitretung
erspart haben würden. In vollem Verständniß der neuen Lage entschloß sich
Tochter alsbald zu einem Zusammengehen mit dieser Regierung auf den
neuen Bahnen ihrer deutschen Politik. Als einen Hauptsührer und Stifter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124705/174>, abgerufen am 08.01.2025.