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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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den vlaemischen Bienenkorb des Marnix ins Hochdeutsche übertrug. System
und Doctrin spielte dabei keine Rolle und es war erst Opitz vorbehalten, auf
die Niederländer als auf die nächstverwandten Muster wahrer poetischer
Kunst hinzuweisen und zu demonstriren, daß es nicht die uns sprachlich so
fern stehenden Italiener, Franzosen und Engländer allein seien, bei denen
wir in die Schule zu gehen hätten, sondern daß wir es viel näher und be¬
quemer haben könnten, wenn wir Hochdeutsche es nur nachmachen wollten,
wie es uns unsere niederdeutschen Brüder so glänzend vormachten. Es erfor¬
dert aber die historische Gerechtigkeit zu bemerken, daß der frühere Durch¬
bruch der neuen Richtung in der Literatur der Niederlande nicht blos durch
die oben erwähnten Verhältnisse begünstigt war, sondern auch noch durch
einen anderen Umstand von zweifelhaftem Werthe.

Der Masse nach überboten die Niederlande im 16. Jahrhundert unzwei¬
felhaft die anderweitige deutsche Literatur, aber an wirklichem Gehalte und
Begabung stehen ihre Producte weit hinter den besseren bei uns zurück: mit
einem Hans Sachs oder gar einem Fischart gibt es dort schlechterdings nichts
zu vergleichen. Solche Talente stützten begreiflich die untergehende mittel¬
alterliche Literatur ganz anders, als wenn sie blos über mittelmäßige Kräfte
zu gebieten gehabt hätte. Freilich konnten auch sie nicht ihr natürliches
Verhängniß abwenden, sondern nur verzögern. --

Nach dem eben Auseinandergesetzten können wir es nur sachgemäß fin¬
den, daß der erste Band von Jonckbloet's Geschichte der niederländischen Lite¬
ratur bis zu dem Eintritt der neuen gelehrten Literatur reicht, also das
ganze Mittelalter bis zu seinem völligen Ausleben umspannt. Die merk¬
würdige Erscheinung der Nederijker oder der Kammern von Rhetorik" fällt
somit noch in seinen Bereich. Im Allgemeinen ist darüber nicht viel Neues
zu sagen und wir sind selbst in Deutschland ziemlich gut darüber unterrichtet.
Für uns liegt eine Begleichung mit der verwandten Erscheinung der deut¬
schen Meistersinger und ihrer'Schulen sehr nahe, worauf I. keine Rücksicht
genommen hat. Das Verwandte liegt auf der Hand: einmal der durchweg
bürgerliche sociale Charakter beider, dann ihre zunftmäßige Einrichtung, end¬
lich ihre entschieden didaktische oder volkspädagogische Tendenz. Aber unsere
Meisterschulen spielen gegen jene Kammern gehalten eine ebenso bescheidene,
sast unscheinbare Figur wie etwa ein schwäbisches Neichsstädtchen, ein Jsny,
Ueberlingen oder Buchau gegen die Weltstädte Antwerpen, Brügge, Gent.
Einmal gibt es bei uns nur in einem Drittel aller deutschen Städte solche
Institute, während in den Niederlanden jede halbwegs ansehnliche Stadt
deren mehrere zählte, keine ohne eine solche war, ja selbst die bedeutenderen
Dörfer nicht ohne eine Kammer bestehen zu können glaubten. Dann be¬
schränkten sich unsere bürgerlichen Dichter auf den eigentlichen Gesang, aus


den vlaemischen Bienenkorb des Marnix ins Hochdeutsche übertrug. System
und Doctrin spielte dabei keine Rolle und es war erst Opitz vorbehalten, auf
die Niederländer als auf die nächstverwandten Muster wahrer poetischer
Kunst hinzuweisen und zu demonstriren, daß es nicht die uns sprachlich so
fern stehenden Italiener, Franzosen und Engländer allein seien, bei denen
wir in die Schule zu gehen hätten, sondern daß wir es viel näher und be¬
quemer haben könnten, wenn wir Hochdeutsche es nur nachmachen wollten,
wie es uns unsere niederdeutschen Brüder so glänzend vormachten. Es erfor¬
dert aber die historische Gerechtigkeit zu bemerken, daß der frühere Durch¬
bruch der neuen Richtung in der Literatur der Niederlande nicht blos durch
die oben erwähnten Verhältnisse begünstigt war, sondern auch noch durch
einen anderen Umstand von zweifelhaftem Werthe.

Der Masse nach überboten die Niederlande im 16. Jahrhundert unzwei¬
felhaft die anderweitige deutsche Literatur, aber an wirklichem Gehalte und
Begabung stehen ihre Producte weit hinter den besseren bei uns zurück: mit
einem Hans Sachs oder gar einem Fischart gibt es dort schlechterdings nichts
zu vergleichen. Solche Talente stützten begreiflich die untergehende mittel¬
alterliche Literatur ganz anders, als wenn sie blos über mittelmäßige Kräfte
zu gebieten gehabt hätte. Freilich konnten auch sie nicht ihr natürliches
Verhängniß abwenden, sondern nur verzögern. —

Nach dem eben Auseinandergesetzten können wir es nur sachgemäß fin¬
den, daß der erste Band von Jonckbloet's Geschichte der niederländischen Lite¬
ratur bis zu dem Eintritt der neuen gelehrten Literatur reicht, also das
ganze Mittelalter bis zu seinem völligen Ausleben umspannt. Die merk¬
würdige Erscheinung der Nederijker oder der Kammern von Rhetorik« fällt
somit noch in seinen Bereich. Im Allgemeinen ist darüber nicht viel Neues
zu sagen und wir sind selbst in Deutschland ziemlich gut darüber unterrichtet.
Für uns liegt eine Begleichung mit der verwandten Erscheinung der deut¬
schen Meistersinger und ihrer'Schulen sehr nahe, worauf I. keine Rücksicht
genommen hat. Das Verwandte liegt auf der Hand: einmal der durchweg
bürgerliche sociale Charakter beider, dann ihre zunftmäßige Einrichtung, end¬
lich ihre entschieden didaktische oder volkspädagogische Tendenz. Aber unsere
Meisterschulen spielen gegen jene Kammern gehalten eine ebenso bescheidene,
sast unscheinbare Figur wie etwa ein schwäbisches Neichsstädtchen, ein Jsny,
Ueberlingen oder Buchau gegen die Weltstädte Antwerpen, Brügge, Gent.
Einmal gibt es bei uns nur in einem Drittel aller deutschen Städte solche
Institute, während in den Niederlanden jede halbwegs ansehnliche Stadt
deren mehrere zählte, keine ohne eine solche war, ja selbst die bedeutenderen
Dörfer nicht ohne eine Kammer bestehen zu können glaubten. Dann be¬
schränkten sich unsere bürgerlichen Dichter auf den eigentlichen Gesang, aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/520>, abgerufen am 29.06.2024.