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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Kriegsbericht.
Militärische und politische Resultate der Septemberkämpfe;
Napoleon und die Pariser.

Als König Wilhelm am Abend des 1. September, nach der Schlacht
bei Sedan auf der Säbeltasche eines Husarenlieutenants jenen dreizeiligen
Brief an den Kaiser Napoleon schrieb, in welchem er den angebotenen Degen
desselben annahm und die Uebergabe des französischen Heeres forderte,
da merkten die Anwesenden, daß dieses Schreiben des Königs wohl der
eigenhändige Brief sein mochte, welchen der französische Minister wenige
Wochen vorher so beleidigend gefordert hatte. Was zwischen jener frechen
Forderung und diesem Briefe lag, eine ununterbrochene Folge von Siegen
über das bewährteste Kriegsheer der Welt, ein Triumph deutscher Feldherren¬
kunst, den die kühnste Phantasie sich nicht größer und vollständiger denken
kann, das war zugleich eine Vernichtung des zweiten Kaiserreichs, eine Auf¬
lösung des französischen Staates in führerlose Volksmassen geworden. Die
Sieger selbst standen am Abend des großen Schlachtentages überrascht und
fast befangen vor der Größe ihrer Erfolge. Der Kaiser gefangen und von
dem Volk, das ihn kurz vorher mit ungeheuerer Majorität als seinen Herrn
bestätigt hatte, gleichgiltig aufgegeben und abgelegt wie ein abgenutztes Kleid,
das halbe Heer mit dem ganzen massenhafter, Kriegsmaterial gefangen, die
andere Hälfte in eine Festung gedrückt und dort fest umschlossen, jede Kraft
zu dauerndem Widerstande in dieser verkommenen Nation zerschlagen, und
zugleich jede Autorität geschwunden, mit welcher der Sieger zu verhandeln
im Stande wäre. Aus den größten militärischen Erfolgen gingen für unsere
Diplomatie seltsame, noch niemals dagewesene Aufgaben hervor. Deshalb
war. als am Abend des 1. September die Sonne sank, auch ein großer Ab¬
schnitt in dem deutschen Krieg gegen Frankreich eingetreten, der eigentlich
militärische Theil, den General von Moltke disponirt hatte, ging zu Ende.
In dem neuen Abschnitte, der jetzt begann, tritt die Politik, welche Graf
Bismarck leitet, als maßgebende Macht ein. --

Kaiser Napoleon hatte für das französische Heer Alles gethan, was ein
gescheuter und erfinderischer Mann schaffen kann, der gerade nicht selbst ein
Feldherr ist, durch ihn ist jedenfalls unvergleichlich mehr für das Heer geschehen,
als unter Bourbonen und Orleans. Seit dem Jahr 1866 ist das Heer
der Zahl nach fast verdoppelt, gut geschult, sorglich gewöhnt, das Feuergefecht
und die Terrainvortheile auszunutzen; da man das stürmische Feuer als nationale
Tugend der Franzosen zu betrachten gewöhnt war, hatte der Kaiser sich beson¬
dere Mühe gegeben, der Infanterie auch die Dauer in der Defensive zu festigen.
Die Ausrüstung der Soldaten war im Ganzen vortrefflich, in Manchem weit besser


Grenzboten III. 1870. 65
Kriegsbericht.
Militärische und politische Resultate der Septemberkämpfe;
Napoleon und die Pariser.

Als König Wilhelm am Abend des 1. September, nach der Schlacht
bei Sedan auf der Säbeltasche eines Husarenlieutenants jenen dreizeiligen
Brief an den Kaiser Napoleon schrieb, in welchem er den angebotenen Degen
desselben annahm und die Uebergabe des französischen Heeres forderte,
da merkten die Anwesenden, daß dieses Schreiben des Königs wohl der
eigenhändige Brief sein mochte, welchen der französische Minister wenige
Wochen vorher so beleidigend gefordert hatte. Was zwischen jener frechen
Forderung und diesem Briefe lag, eine ununterbrochene Folge von Siegen
über das bewährteste Kriegsheer der Welt, ein Triumph deutscher Feldherren¬
kunst, den die kühnste Phantasie sich nicht größer und vollständiger denken
kann, das war zugleich eine Vernichtung des zweiten Kaiserreichs, eine Auf¬
lösung des französischen Staates in führerlose Volksmassen geworden. Die
Sieger selbst standen am Abend des großen Schlachtentages überrascht und
fast befangen vor der Größe ihrer Erfolge. Der Kaiser gefangen und von
dem Volk, das ihn kurz vorher mit ungeheuerer Majorität als seinen Herrn
bestätigt hatte, gleichgiltig aufgegeben und abgelegt wie ein abgenutztes Kleid,
das halbe Heer mit dem ganzen massenhafter, Kriegsmaterial gefangen, die
andere Hälfte in eine Festung gedrückt und dort fest umschlossen, jede Kraft
zu dauerndem Widerstande in dieser verkommenen Nation zerschlagen, und
zugleich jede Autorität geschwunden, mit welcher der Sieger zu verhandeln
im Stande wäre. Aus den größten militärischen Erfolgen gingen für unsere
Diplomatie seltsame, noch niemals dagewesene Aufgaben hervor. Deshalb
war. als am Abend des 1. September die Sonne sank, auch ein großer Ab¬
schnitt in dem deutschen Krieg gegen Frankreich eingetreten, der eigentlich
militärische Theil, den General von Moltke disponirt hatte, ging zu Ende.
In dem neuen Abschnitte, der jetzt begann, tritt die Politik, welche Graf
Bismarck leitet, als maßgebende Macht ein. —

Kaiser Napoleon hatte für das französische Heer Alles gethan, was ein
gescheuter und erfinderischer Mann schaffen kann, der gerade nicht selbst ein
Feldherr ist, durch ihn ist jedenfalls unvergleichlich mehr für das Heer geschehen,
als unter Bourbonen und Orleans. Seit dem Jahr 1866 ist das Heer
der Zahl nach fast verdoppelt, gut geschult, sorglich gewöhnt, das Feuergefecht
und die Terrainvortheile auszunutzen; da man das stürmische Feuer als nationale
Tugend der Franzosen zu betrachten gewöhnt war, hatte der Kaiser sich beson¬
dere Mühe gegeben, der Infanterie auch die Dauer in der Defensive zu festigen.
Die Ausrüstung der Soldaten war im Ganzen vortrefflich, in Manchem weit besser


Grenzboten III. 1870. 65
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[0509] Kriegsbericht. Militärische und politische Resultate der Septemberkämpfe; Napoleon und die Pariser. Als König Wilhelm am Abend des 1. September, nach der Schlacht bei Sedan auf der Säbeltasche eines Husarenlieutenants jenen dreizeiligen Brief an den Kaiser Napoleon schrieb, in welchem er den angebotenen Degen desselben annahm und die Uebergabe des französischen Heeres forderte, da merkten die Anwesenden, daß dieses Schreiben des Königs wohl der eigenhändige Brief sein mochte, welchen der französische Minister wenige Wochen vorher so beleidigend gefordert hatte. Was zwischen jener frechen Forderung und diesem Briefe lag, eine ununterbrochene Folge von Siegen über das bewährteste Kriegsheer der Welt, ein Triumph deutscher Feldherren¬ kunst, den die kühnste Phantasie sich nicht größer und vollständiger denken kann, das war zugleich eine Vernichtung des zweiten Kaiserreichs, eine Auf¬ lösung des französischen Staates in führerlose Volksmassen geworden. Die Sieger selbst standen am Abend des großen Schlachtentages überrascht und fast befangen vor der Größe ihrer Erfolge. Der Kaiser gefangen und von dem Volk, das ihn kurz vorher mit ungeheuerer Majorität als seinen Herrn bestätigt hatte, gleichgiltig aufgegeben und abgelegt wie ein abgenutztes Kleid, das halbe Heer mit dem ganzen massenhafter, Kriegsmaterial gefangen, die andere Hälfte in eine Festung gedrückt und dort fest umschlossen, jede Kraft zu dauerndem Widerstande in dieser verkommenen Nation zerschlagen, und zugleich jede Autorität geschwunden, mit welcher der Sieger zu verhandeln im Stande wäre. Aus den größten militärischen Erfolgen gingen für unsere Diplomatie seltsame, noch niemals dagewesene Aufgaben hervor. Deshalb war. als am Abend des 1. September die Sonne sank, auch ein großer Ab¬ schnitt in dem deutschen Krieg gegen Frankreich eingetreten, der eigentlich militärische Theil, den General von Moltke disponirt hatte, ging zu Ende. In dem neuen Abschnitte, der jetzt begann, tritt die Politik, welche Graf Bismarck leitet, als maßgebende Macht ein. — Kaiser Napoleon hatte für das französische Heer Alles gethan, was ein gescheuter und erfinderischer Mann schaffen kann, der gerade nicht selbst ein Feldherr ist, durch ihn ist jedenfalls unvergleichlich mehr für das Heer geschehen, als unter Bourbonen und Orleans. Seit dem Jahr 1866 ist das Heer der Zahl nach fast verdoppelt, gut geschult, sorglich gewöhnt, das Feuergefecht und die Terrainvortheile auszunutzen; da man das stürmische Feuer als nationale Tugend der Franzosen zu betrachten gewöhnt war, hatte der Kaiser sich beson¬ dere Mühe gegeben, der Infanterie auch die Dauer in der Defensive zu festigen. Die Ausrüstung der Soldaten war im Ganzen vortrefflich, in Manchem weit besser Grenzboten III. 1870. 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/509>, abgerufen am 29.06.2024.