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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Stammprovinzen ersichtliche Tendenz zur Entgliederung in zahllose kleine
Herrengebiete. Es ist sehr bezeichnend, daß bei dem Abfalle der Lothringer
von Ludwig dem Kinde zu Karl dem Einfältigen 911 Friesland und das
Elsaß sich nicht betheiligten. Jenes ward isolirt, dies auf's innigste dem
übrigen Schwaben angeschlossen; beide sicherten dadurch für die Dauer ihr
stammkräftiges Deutschthum.

Das übrige Lothringen, nun noch ungünstiger für unsere Nationalität
gemischt, ward freilich, so wie sich unter der norddeutschen Führung König
Heinrich's I. die reindeutschen Stämme zum Bundesreiche zusammenschlossen,
dem kraftlosen Frankreich wieder entrissen. Es entsprach dann einem längst
vorhandenen inneren Gegensatze in dem einheitslosen Lande, daß es unter
Otto dem Großen in zwei Herzogthümer zerlegt ward, das nördliche Ripu¬
arier,, auch wohl Niederlothringen, das unsere Rheinprovinz außer Trier und
den größten Theil Belgiens umfaßte, das südliche Oberlothringen oder Mo-
sellanien in dem Umfange der heutigen französischen Lorraine sammt Luxem-
burg und dem Trierischen. Die Südhälfte, der in der Folgezeit, als Trier
und Luxemburg wieder zum Norden geschlagen worden waren, der Name
Lothringen vorzugsweise verblieb, bestand damals ungefähr aus den kirchlichen
Sprengeln von Trier, Metz, Toul und Verdun und war ohne Zweifel in
den beiden letztgenannten, d. h. im Moselthal bis Pont-a-Moussou hinunter
und im Gebiete der Maas, des Ornain und der Aisne französischer Natio¬
nalität. Aber was wollte das besagen, seitdem gleich darauf durch Otto's
Kaiserkrönung der junge deutsche Staat in die verhängnißvolle Bahn zur
Weltherrschaft gerissen ward? Das Reich, wie wir es nun überkamen, war
antinational, noch ganz andere Stücke französischer wie provenzalischer Zunge
hat es sich im arelatischen Königreiche zugelegt. Daß sich hiergegen in Frank¬
reich nicht alsbald das nationale Gefühl zum Kampfe erhob, lag einmal an
der Anerkennung, welche die kirchliche Idee des Kaiserthums auch bei den
anderen abendländischen Nationen wie bei uns selber fand, zweitens aber
stießen die Gegensätze des Germanen- und Romanenthums, die auch im
Mittelalter keineswegs schlummerten, auf anderen Wahlstätten zusammen:
Deutschland focht mit Italien, Frankreich mit England. Wir mußten erst
über die Alpen zurückgewiesen, die überseeische Macht der Engländer erst ge¬
brochen sein, eh' es an den Grenzen des Rheingebieies zu ernstlichem natio¬
nalen Hader oder auch nur zu feindseligem Unterschiedsbewußtsein kommen
konnte.

Um so schlimmere Blutspuren hat der deutsch-französische Zwist in der
neueren Geschichte hinterlassen, eins ihrer Hauptthemata ist es geworden,
dessen letzte donnernde Variation uns leider noch heute umdröhnt. Noch ein¬
mal freilich sah es beim Anbruche der modernen Zeit so aus, als sollten


Stammprovinzen ersichtliche Tendenz zur Entgliederung in zahllose kleine
Herrengebiete. Es ist sehr bezeichnend, daß bei dem Abfalle der Lothringer
von Ludwig dem Kinde zu Karl dem Einfältigen 911 Friesland und das
Elsaß sich nicht betheiligten. Jenes ward isolirt, dies auf's innigste dem
übrigen Schwaben angeschlossen; beide sicherten dadurch für die Dauer ihr
stammkräftiges Deutschthum.

Das übrige Lothringen, nun noch ungünstiger für unsere Nationalität
gemischt, ward freilich, so wie sich unter der norddeutschen Führung König
Heinrich's I. die reindeutschen Stämme zum Bundesreiche zusammenschlossen,
dem kraftlosen Frankreich wieder entrissen. Es entsprach dann einem längst
vorhandenen inneren Gegensatze in dem einheitslosen Lande, daß es unter
Otto dem Großen in zwei Herzogthümer zerlegt ward, das nördliche Ripu¬
arier,, auch wohl Niederlothringen, das unsere Rheinprovinz außer Trier und
den größten Theil Belgiens umfaßte, das südliche Oberlothringen oder Mo-
sellanien in dem Umfange der heutigen französischen Lorraine sammt Luxem-
burg und dem Trierischen. Die Südhälfte, der in der Folgezeit, als Trier
und Luxemburg wieder zum Norden geschlagen worden waren, der Name
Lothringen vorzugsweise verblieb, bestand damals ungefähr aus den kirchlichen
Sprengeln von Trier, Metz, Toul und Verdun und war ohne Zweifel in
den beiden letztgenannten, d. h. im Moselthal bis Pont-a-Moussou hinunter
und im Gebiete der Maas, des Ornain und der Aisne französischer Natio¬
nalität. Aber was wollte das besagen, seitdem gleich darauf durch Otto's
Kaiserkrönung der junge deutsche Staat in die verhängnißvolle Bahn zur
Weltherrschaft gerissen ward? Das Reich, wie wir es nun überkamen, war
antinational, noch ganz andere Stücke französischer wie provenzalischer Zunge
hat es sich im arelatischen Königreiche zugelegt. Daß sich hiergegen in Frank¬
reich nicht alsbald das nationale Gefühl zum Kampfe erhob, lag einmal an
der Anerkennung, welche die kirchliche Idee des Kaiserthums auch bei den
anderen abendländischen Nationen wie bei uns selber fand, zweitens aber
stießen die Gegensätze des Germanen- und Romanenthums, die auch im
Mittelalter keineswegs schlummerten, auf anderen Wahlstätten zusammen:
Deutschland focht mit Italien, Frankreich mit England. Wir mußten erst
über die Alpen zurückgewiesen, die überseeische Macht der Engländer erst ge¬
brochen sein, eh' es an den Grenzen des Rheingebieies zu ernstlichem natio¬
nalen Hader oder auch nur zu feindseligem Unterschiedsbewußtsein kommen
konnte.

Um so schlimmere Blutspuren hat der deutsch-französische Zwist in der
neueren Geschichte hinterlassen, eins ihrer Hauptthemata ist es geworden,
dessen letzte donnernde Variation uns leider noch heute umdröhnt. Noch ein¬
mal freilich sah es beim Anbruche der modernen Zeit so aus, als sollten


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[0438] Stammprovinzen ersichtliche Tendenz zur Entgliederung in zahllose kleine Herrengebiete. Es ist sehr bezeichnend, daß bei dem Abfalle der Lothringer von Ludwig dem Kinde zu Karl dem Einfältigen 911 Friesland und das Elsaß sich nicht betheiligten. Jenes ward isolirt, dies auf's innigste dem übrigen Schwaben angeschlossen; beide sicherten dadurch für die Dauer ihr stammkräftiges Deutschthum. Das übrige Lothringen, nun noch ungünstiger für unsere Nationalität gemischt, ward freilich, so wie sich unter der norddeutschen Führung König Heinrich's I. die reindeutschen Stämme zum Bundesreiche zusammenschlossen, dem kraftlosen Frankreich wieder entrissen. Es entsprach dann einem längst vorhandenen inneren Gegensatze in dem einheitslosen Lande, daß es unter Otto dem Großen in zwei Herzogthümer zerlegt ward, das nördliche Ripu¬ arier,, auch wohl Niederlothringen, das unsere Rheinprovinz außer Trier und den größten Theil Belgiens umfaßte, das südliche Oberlothringen oder Mo- sellanien in dem Umfange der heutigen französischen Lorraine sammt Luxem- burg und dem Trierischen. Die Südhälfte, der in der Folgezeit, als Trier und Luxemburg wieder zum Norden geschlagen worden waren, der Name Lothringen vorzugsweise verblieb, bestand damals ungefähr aus den kirchlichen Sprengeln von Trier, Metz, Toul und Verdun und war ohne Zweifel in den beiden letztgenannten, d. h. im Moselthal bis Pont-a-Moussou hinunter und im Gebiete der Maas, des Ornain und der Aisne französischer Natio¬ nalität. Aber was wollte das besagen, seitdem gleich darauf durch Otto's Kaiserkrönung der junge deutsche Staat in die verhängnißvolle Bahn zur Weltherrschaft gerissen ward? Das Reich, wie wir es nun überkamen, war antinational, noch ganz andere Stücke französischer wie provenzalischer Zunge hat es sich im arelatischen Königreiche zugelegt. Daß sich hiergegen in Frank¬ reich nicht alsbald das nationale Gefühl zum Kampfe erhob, lag einmal an der Anerkennung, welche die kirchliche Idee des Kaiserthums auch bei den anderen abendländischen Nationen wie bei uns selber fand, zweitens aber stießen die Gegensätze des Germanen- und Romanenthums, die auch im Mittelalter keineswegs schlummerten, auf anderen Wahlstätten zusammen: Deutschland focht mit Italien, Frankreich mit England. Wir mußten erst über die Alpen zurückgewiesen, die überseeische Macht der Engländer erst ge¬ brochen sein, eh' es an den Grenzen des Rheingebieies zu ernstlichem natio¬ nalen Hader oder auch nur zu feindseligem Unterschiedsbewußtsein kommen konnte. Um so schlimmere Blutspuren hat der deutsch-französische Zwist in der neueren Geschichte hinterlassen, eins ihrer Hauptthemata ist es geworden, dessen letzte donnernde Variation uns leider noch heute umdröhnt. Noch ein¬ mal freilich sah es beim Anbruche der modernen Zeit so aus, als sollten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/438>, abgerufen am 29.06.2024.