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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Ich lasse hier bei Seite, was ich vor einem halben Jahr in einem
Schriftchen über die provenzalische Poesie der Gegenwart ausgeführt habe,
wo die hervorragendsten Dichter derselben, namentlich Roumanille und
Mistral, etwas näher besprochen sind. Während aber dort die Gediegenheit
der oceitanischen Leistungen vornehmlich vom ästhetischen Standpunkt aus
ins Licht gestellt wurde, halten wir hier vom politischen noch eine kleine
Umschau, die einige dort nur angedeutete oder unberücksichtigt gebliebene Er¬
scheinungen in den Vordergrund treten läßt.

Es ist wahr, ich rede fast nur von Poesie. Aber in der Natur der
Verhältnisse liegt es ja, daß das oceitanische Nationalgefühl sich bisher darauf
beschränkt fand, sich in poetischen Ergüssen und in den unter ihrem Einfluß
stehenden Volksfesten Ausdruck zu geben. Und sind es doch überall die
Dichter gewesen, welche am längsten eine unterdrückte Nationalität noch im
Glimmen erhalten und wieder zu neuer Gluth angefeuert haben.

Wie leidenschaftlich es hie und da in Südfrankreich unter der Asche
glüht, dafür ist der sprechendste Beweis das Gedicht von Mistral: "die
Gräfin", das in dem seit 1835 jährlich heraufkommenden provenzalischen Al¬
manach im Jahrgang 1867 erschien. Gewidmet ist es "dem Katalanen Don
Victor Balaguer". der selbst einer der Führer der catalonischen National¬
bewegung ist, als Dichter und als Cortesdeputirter; ein Wort von ihm dient
Mistral hier als Motto: Todt sagt man sie, aber ich glaube: sie lebt. "Die
Ode Mistral's", schreibt ein Freund desselben, I. B. Gaut, an der Universität
zu Aix in Provence, in einer Etude über die provenzalische Literatur, "ist
ein Glaubensbekenntniß, eine durchsichtige Allegorie und eine poetische Pro-
clamation". Die schöne Gräfin nämlich sei die Provence. Sagen wir lieber
Occitanien. Das Gedicht ist in Prosaübersetzung folgendes. Den nach jeder
Strophe wiederkehrenden Refrain: "Ach wenn sie mich zu verstehen wüßten!
Ach wenn sie mir folgen wollten!" genügt es dabei nur anzudeuten.

"Ich weiß eine Gräfin, die aus kaiserlichem Blute stammt; an Schön¬
heit wie an Hohheit fürchtet sie keinen, in Ferne oder in Nähe; und dennoch
trübet Traurigkeit den Blitz ihrer Augen. Ach, wenn sie mich zu verstehen
wüßten! Ach wenn sie mir folgen wollten! Sie hatte hundert feste Städte,
sie hatte zwanzig Seehäfen; der Oelbaum vor ihrer Thür schaltete süß und
klar; und alle Frucht, die die Mrde trägt, war in Blüthe in ihrem GeHäge.
Ach --. Für Karst und Pflug hatte sie ein Gottesland, und wolkenbedeckte
Berge, sich zu erfrischen im Sommer, eines großen Stromes Wellen, eines
großen Windes lebendigen Hauch. Ach --. Sie hatte für ihre Krone Ge-
treide, Oliven und Trauben; hatte wilde Stiere und sarazenische Pferde, und
konnte als stolze Baronin ihre Nachbarn entbehren. Ach --. Stets sang sie
auf dem Balkon ihre heitere Laute, und Jeder schmachtete danach, einige


Ich lasse hier bei Seite, was ich vor einem halben Jahr in einem
Schriftchen über die provenzalische Poesie der Gegenwart ausgeführt habe,
wo die hervorragendsten Dichter derselben, namentlich Roumanille und
Mistral, etwas näher besprochen sind. Während aber dort die Gediegenheit
der oceitanischen Leistungen vornehmlich vom ästhetischen Standpunkt aus
ins Licht gestellt wurde, halten wir hier vom politischen noch eine kleine
Umschau, die einige dort nur angedeutete oder unberücksichtigt gebliebene Er¬
scheinungen in den Vordergrund treten läßt.

Es ist wahr, ich rede fast nur von Poesie. Aber in der Natur der
Verhältnisse liegt es ja, daß das oceitanische Nationalgefühl sich bisher darauf
beschränkt fand, sich in poetischen Ergüssen und in den unter ihrem Einfluß
stehenden Volksfesten Ausdruck zu geben. Und sind es doch überall die
Dichter gewesen, welche am längsten eine unterdrückte Nationalität noch im
Glimmen erhalten und wieder zu neuer Gluth angefeuert haben.

Wie leidenschaftlich es hie und da in Südfrankreich unter der Asche
glüht, dafür ist der sprechendste Beweis das Gedicht von Mistral: „die
Gräfin", das in dem seit 1835 jährlich heraufkommenden provenzalischen Al¬
manach im Jahrgang 1867 erschien. Gewidmet ist es „dem Katalanen Don
Victor Balaguer". der selbst einer der Führer der catalonischen National¬
bewegung ist, als Dichter und als Cortesdeputirter; ein Wort von ihm dient
Mistral hier als Motto: Todt sagt man sie, aber ich glaube: sie lebt. „Die
Ode Mistral's", schreibt ein Freund desselben, I. B. Gaut, an der Universität
zu Aix in Provence, in einer Etude über die provenzalische Literatur, „ist
ein Glaubensbekenntniß, eine durchsichtige Allegorie und eine poetische Pro-
clamation". Die schöne Gräfin nämlich sei die Provence. Sagen wir lieber
Occitanien. Das Gedicht ist in Prosaübersetzung folgendes. Den nach jeder
Strophe wiederkehrenden Refrain: „Ach wenn sie mich zu verstehen wüßten!
Ach wenn sie mir folgen wollten!" genügt es dabei nur anzudeuten.

„Ich weiß eine Gräfin, die aus kaiserlichem Blute stammt; an Schön¬
heit wie an Hohheit fürchtet sie keinen, in Ferne oder in Nähe; und dennoch
trübet Traurigkeit den Blitz ihrer Augen. Ach, wenn sie mich zu verstehen
wüßten! Ach wenn sie mir folgen wollten! Sie hatte hundert feste Städte,
sie hatte zwanzig Seehäfen; der Oelbaum vor ihrer Thür schaltete süß und
klar; und alle Frucht, die die Mrde trägt, war in Blüthe in ihrem GeHäge.
Ach —. Für Karst und Pflug hatte sie ein Gottesland, und wolkenbedeckte
Berge, sich zu erfrischen im Sommer, eines großen Stromes Wellen, eines
großen Windes lebendigen Hauch. Ach —. Sie hatte für ihre Krone Ge-
treide, Oliven und Trauben; hatte wilde Stiere und sarazenische Pferde, und
konnte als stolze Baronin ihre Nachbarn entbehren. Ach —. Stets sang sie
auf dem Balkon ihre heitere Laute, und Jeder schmachtete danach, einige


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[0425] Ich lasse hier bei Seite, was ich vor einem halben Jahr in einem Schriftchen über die provenzalische Poesie der Gegenwart ausgeführt habe, wo die hervorragendsten Dichter derselben, namentlich Roumanille und Mistral, etwas näher besprochen sind. Während aber dort die Gediegenheit der oceitanischen Leistungen vornehmlich vom ästhetischen Standpunkt aus ins Licht gestellt wurde, halten wir hier vom politischen noch eine kleine Umschau, die einige dort nur angedeutete oder unberücksichtigt gebliebene Er¬ scheinungen in den Vordergrund treten läßt. Es ist wahr, ich rede fast nur von Poesie. Aber in der Natur der Verhältnisse liegt es ja, daß das oceitanische Nationalgefühl sich bisher darauf beschränkt fand, sich in poetischen Ergüssen und in den unter ihrem Einfluß stehenden Volksfesten Ausdruck zu geben. Und sind es doch überall die Dichter gewesen, welche am längsten eine unterdrückte Nationalität noch im Glimmen erhalten und wieder zu neuer Gluth angefeuert haben. Wie leidenschaftlich es hie und da in Südfrankreich unter der Asche glüht, dafür ist der sprechendste Beweis das Gedicht von Mistral: „die Gräfin", das in dem seit 1835 jährlich heraufkommenden provenzalischen Al¬ manach im Jahrgang 1867 erschien. Gewidmet ist es „dem Katalanen Don Victor Balaguer". der selbst einer der Führer der catalonischen National¬ bewegung ist, als Dichter und als Cortesdeputirter; ein Wort von ihm dient Mistral hier als Motto: Todt sagt man sie, aber ich glaube: sie lebt. „Die Ode Mistral's", schreibt ein Freund desselben, I. B. Gaut, an der Universität zu Aix in Provence, in einer Etude über die provenzalische Literatur, „ist ein Glaubensbekenntniß, eine durchsichtige Allegorie und eine poetische Pro- clamation". Die schöne Gräfin nämlich sei die Provence. Sagen wir lieber Occitanien. Das Gedicht ist in Prosaübersetzung folgendes. Den nach jeder Strophe wiederkehrenden Refrain: „Ach wenn sie mich zu verstehen wüßten! Ach wenn sie mir folgen wollten!" genügt es dabei nur anzudeuten. „Ich weiß eine Gräfin, die aus kaiserlichem Blute stammt; an Schön¬ heit wie an Hohheit fürchtet sie keinen, in Ferne oder in Nähe; und dennoch trübet Traurigkeit den Blitz ihrer Augen. Ach, wenn sie mich zu verstehen wüßten! Ach wenn sie mir folgen wollten! Sie hatte hundert feste Städte, sie hatte zwanzig Seehäfen; der Oelbaum vor ihrer Thür schaltete süß und klar; und alle Frucht, die die Mrde trägt, war in Blüthe in ihrem GeHäge. Ach —. Für Karst und Pflug hatte sie ein Gottesland, und wolkenbedeckte Berge, sich zu erfrischen im Sommer, eines großen Stromes Wellen, eines großen Windes lebendigen Hauch. Ach —. Sie hatte für ihre Krone Ge- treide, Oliven und Trauben; hatte wilde Stiere und sarazenische Pferde, und konnte als stolze Baronin ihre Nachbarn entbehren. Ach —. Stets sang sie auf dem Balkon ihre heitere Laute, und Jeder schmachtete danach, einige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/425>, abgerufen am 29.06.2024.