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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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sanfte Vertheidigungsmittel gegen diesen drohenden Angriff, die Waffen der
polnischen Sache, nicht aus der Hand geben. Der steigende Grimm der alt¬
russischen Partei auf die emporkommende Großmacht Deutschland wird nach
dem Frieden um so mehr dahin drängen, die russischen Ziele im Orient und
g/gen Oestreich, zu verfolgen und nur vom Wiener Kabinet hängt es ab, sich
den einzigen Alliirten gegen diese Gefahr zu sichern, den es finden kann.
Auch Deutschland hat ein Interesse, der slavischen Propaganda entgegenzu¬
treten, aber es ist kein Lebensinteresse für uns wie für Oestreich. Will man
in Wien fortfahren, gegen Berlin zu intriguiren, so zwingt man uns, dem
Vordringen Rußlands ruhig zuzusehen; kann man sich aber zu einer großen
Vorurtheilsfreien Zukunftspolitik erheben und die Eisersucht der Vergangen¬
heit vergessen, so schafft Oestreich sich den mächtigsten Rückhalt, auf den ge¬
stützt es dem drohenden Angriff von Osten ruhig entgegensehen und der
Feindseligkeit der slavischen Propaganda mit Nachdruck begegnen kann.




Nachschrift der Redaction.

Die Zeichen mehren sich, daß die
Kriegsvelleitäten Oestreichs ernster waren und sind, als die auf der Ober¬
fläche spielenden Stimmungen der Presse verrathen. Aber auch in Ungarn hat
es gerade in den leitenden Kreisen Heißsporne genug gegeben, die drauf und
dran waren, sich der Kriegspolitik anzuschließen. Da kamen die Nachrichten
von Weißenburg und Wörth -- und diese ungeahnte Ernüchterung rettete
Oestreich-Ungarn vor der selbstmörderischen Thorheit activer Feindschaft gegen
die deutsche Sache. Wie aber die Vorstellungen beschaffen sind, auf Grund
deren Politik getrieben wird, lehrt eine hübsche Geschichte, die wir hier
mittheilen. Sie wird von einem namhaften ungarischen Parteimanne in einem
Privatbrief aus Pesth erzählt, der uns freundlichst mitgetheilt worden ist:

"Vorgestern fuhr ich ins Stadtwäldchen. Im Pferdebahnwagen saß
mein alter Freund T. mit einem Buche in der Hand, und klagte mir über
das Unglück eines deutschen Sieges, der uns zu Grunde richten muß; seine
Sympathien seien für Frankreich, ein definitiver Sieg Preußens sei ein
furchtbarer Stoß für die Civilisation :c. Ich fragte ihn was er lese?"

""Einen Classiker. was könnte es anders sein.""

"Tacitus oder Horaz? (Ich kenne den Geschmack meiner Landsleute.)"

""Tacitus würde mich aufregen, Horaz ist mir zu zahm, nein, es ist der
Schriftsteller, bei dem ich in jedem öffentlichen oder Privatunglück wie dieses
gegenwärtige meinen Trost finde: Goethe."" --

"Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, das er anfangs gar
nicht begriff. So ist die Welt!"




sanfte Vertheidigungsmittel gegen diesen drohenden Angriff, die Waffen der
polnischen Sache, nicht aus der Hand geben. Der steigende Grimm der alt¬
russischen Partei auf die emporkommende Großmacht Deutschland wird nach
dem Frieden um so mehr dahin drängen, die russischen Ziele im Orient und
g/gen Oestreich, zu verfolgen und nur vom Wiener Kabinet hängt es ab, sich
den einzigen Alliirten gegen diese Gefahr zu sichern, den es finden kann.
Auch Deutschland hat ein Interesse, der slavischen Propaganda entgegenzu¬
treten, aber es ist kein Lebensinteresse für uns wie für Oestreich. Will man
in Wien fortfahren, gegen Berlin zu intriguiren, so zwingt man uns, dem
Vordringen Rußlands ruhig zuzusehen; kann man sich aber zu einer großen
Vorurtheilsfreien Zukunftspolitik erheben und die Eisersucht der Vergangen¬
heit vergessen, so schafft Oestreich sich den mächtigsten Rückhalt, auf den ge¬
stützt es dem drohenden Angriff von Osten ruhig entgegensehen und der
Feindseligkeit der slavischen Propaganda mit Nachdruck begegnen kann.




Nachschrift der Redaction.

Die Zeichen mehren sich, daß die
Kriegsvelleitäten Oestreichs ernster waren und sind, als die auf der Ober¬
fläche spielenden Stimmungen der Presse verrathen. Aber auch in Ungarn hat
es gerade in den leitenden Kreisen Heißsporne genug gegeben, die drauf und
dran waren, sich der Kriegspolitik anzuschließen. Da kamen die Nachrichten
von Weißenburg und Wörth — und diese ungeahnte Ernüchterung rettete
Oestreich-Ungarn vor der selbstmörderischen Thorheit activer Feindschaft gegen
die deutsche Sache. Wie aber die Vorstellungen beschaffen sind, auf Grund
deren Politik getrieben wird, lehrt eine hübsche Geschichte, die wir hier
mittheilen. Sie wird von einem namhaften ungarischen Parteimanne in einem
Privatbrief aus Pesth erzählt, der uns freundlichst mitgetheilt worden ist:

„Vorgestern fuhr ich ins Stadtwäldchen. Im Pferdebahnwagen saß
mein alter Freund T. mit einem Buche in der Hand, und klagte mir über
das Unglück eines deutschen Sieges, der uns zu Grunde richten muß; seine
Sympathien seien für Frankreich, ein definitiver Sieg Preußens sei ein
furchtbarer Stoß für die Civilisation :c. Ich fragte ihn was er lese?"

„„Einen Classiker. was könnte es anders sein.""

„Tacitus oder Horaz? (Ich kenne den Geschmack meiner Landsleute.)"

„„Tacitus würde mich aufregen, Horaz ist mir zu zahm, nein, es ist der
Schriftsteller, bei dem ich in jedem öffentlichen oder Privatunglück wie dieses
gegenwärtige meinen Trost finde: Goethe."" —

„Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, das er anfangs gar
nicht begriff. So ist die Welt!"




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[0406] sanfte Vertheidigungsmittel gegen diesen drohenden Angriff, die Waffen der polnischen Sache, nicht aus der Hand geben. Der steigende Grimm der alt¬ russischen Partei auf die emporkommende Großmacht Deutschland wird nach dem Frieden um so mehr dahin drängen, die russischen Ziele im Orient und g/gen Oestreich, zu verfolgen und nur vom Wiener Kabinet hängt es ab, sich den einzigen Alliirten gegen diese Gefahr zu sichern, den es finden kann. Auch Deutschland hat ein Interesse, der slavischen Propaganda entgegenzu¬ treten, aber es ist kein Lebensinteresse für uns wie für Oestreich. Will man in Wien fortfahren, gegen Berlin zu intriguiren, so zwingt man uns, dem Vordringen Rußlands ruhig zuzusehen; kann man sich aber zu einer großen Vorurtheilsfreien Zukunftspolitik erheben und die Eisersucht der Vergangen¬ heit vergessen, so schafft Oestreich sich den mächtigsten Rückhalt, auf den ge¬ stützt es dem drohenden Angriff von Osten ruhig entgegensehen und der Feindseligkeit der slavischen Propaganda mit Nachdruck begegnen kann. Nachschrift der Redaction. Die Zeichen mehren sich, daß die Kriegsvelleitäten Oestreichs ernster waren und sind, als die auf der Ober¬ fläche spielenden Stimmungen der Presse verrathen. Aber auch in Ungarn hat es gerade in den leitenden Kreisen Heißsporne genug gegeben, die drauf und dran waren, sich der Kriegspolitik anzuschließen. Da kamen die Nachrichten von Weißenburg und Wörth — und diese ungeahnte Ernüchterung rettete Oestreich-Ungarn vor der selbstmörderischen Thorheit activer Feindschaft gegen die deutsche Sache. Wie aber die Vorstellungen beschaffen sind, auf Grund deren Politik getrieben wird, lehrt eine hübsche Geschichte, die wir hier mittheilen. Sie wird von einem namhaften ungarischen Parteimanne in einem Privatbrief aus Pesth erzählt, der uns freundlichst mitgetheilt worden ist: „Vorgestern fuhr ich ins Stadtwäldchen. Im Pferdebahnwagen saß mein alter Freund T. mit einem Buche in der Hand, und klagte mir über das Unglück eines deutschen Sieges, der uns zu Grunde richten muß; seine Sympathien seien für Frankreich, ein definitiver Sieg Preußens sei ein furchtbarer Stoß für die Civilisation :c. Ich fragte ihn was er lese?" „„Einen Classiker. was könnte es anders sein."" „Tacitus oder Horaz? (Ich kenne den Geschmack meiner Landsleute.)" „„Tacitus würde mich aufregen, Horaz ist mir zu zahm, nein, es ist der Schriftsteller, bei dem ich in jedem öffentlichen oder Privatunglück wie dieses gegenwärtige meinen Trost finde: Goethe."" — „Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, das er anfangs gar nicht begriff. So ist die Welt!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/406>, abgerufen am 29.06.2024.