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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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und erhält täglich ihr Quantum Schüsse. Auf der Höhe des Gebirges lagerte
am Ulm und 12ten August das Hauptquartier in Petersbach über breiter
Hochebene, hinter sich auf der linken Seite die Schanze Petitepierre, welche einst
Lützelstein hieß, und unvertheidigt den Deutschen überlassen wurde, vor den
Augen des Beschauers die sanstgeschwungenen Linien der Berge, welche in die
Ebene Frankreichs abfallen. Grade gegenüber auf den Bergen erhob sich
zuweilen eine kleine weiße Rauchwolke wie Wasserdampf, der um die Höhen
schwebt, und der dumpfe Ton eines fernen Kanonenschußes bestätigte, daß
dort Pfalzburg liegt und mit den Geschützen der Schlesier blutige Grüße
wechselte. Aber unmittelbar vor dem Beschauer schwang sich in sanfter Nei¬
gung eine grüne Wiesenfläche, abwärts eingefaßt von einem Waldesstreif,
Kühe weideten darauf, und nach einem Regentage warf die Abendsonne ihr
goldenes Licht über Halm und Blatt und über die blauen Höhen der Berg¬
landschaft. Zwar längs der guten Bergstraße rasselten Geschütze und Pro-
viantcolonnen, wer aber dem Kriegstreiben darauf den Rücken kehrte, konnte
träumen, daßHder Mensch so sicher im sonnigen Frieden ausruhe wie die
Natur, welche ihn umgab.'

Allen Deutschen, welche damals im Kriegskleid um ihren Führer lager¬
ten, haftete eine Reihe von Eindrücken fest im Sinn, die in den letzten Marsch¬
tagen gekommen waren, und sie verhandelten darüber in lebendigem Aus¬
tausch der Gedanken. Sie waren hier auf der Grenze deutscher Sprache und
Sitte. Sie waren bis hierher durch ein deutsches Land gezogen, so urdeutsch
in Sprache und Lebensgewohnheiten der Landleute, wie Schwaben oder Bayern,
hier deutsche Dorfhäuser, deutsche Wirthschaften, deutsch die Flachshaare
und großen blauen Augen der Kinder, das Spinnrad, das Ehebett, das
treuherzige, innige Wesen der Leute, wenn sie erst den Fremden ihr Herz
öffneten. Das war der Elsaß, ein verlorenes Gebiet, einst weitgefeierte kräf¬
tige Landschaft des deutschen Reiches, in jedem Jahrhundert unserer Geschichte
^erthvolle Heimath deutscher Cultur, die Heimath rühmlicher Minnesänger,
das Hausgebiet des ersten Habsburgers, die Stätte kräftigen deutschen
Bürgersinns und kluger Erfindungen, das Vaterland hochgebildeter Refor¬
matoren und Humanisten, beim Beginn des dreißigjährigen Krieges das
Heimathland der höchsten und freiesten deutschen Bildung jener Zeit. Und
seitdem verkommen, verloren, mit französischen Gesetzen und fremdem Firniß
überdeckt, in den Städten zur Hälfte französisch, aber auf dem Lande, in den
Bergen noch immer ein deutscher Volksstamm, der zäh an der Sprache und
dem Lebensbrauch der Väter festhält, ein Wesen still, wie im Halbschlaf, in
Vielem alterthümlich und naiv abseit der Zeitbildung wie kaum ein anderer
deutscher Stamm. Seit sechs Generationen erfuhren die Landleute jetzt bei
dem Einmarsch der Deutschen zum erstenmal, daß sie nicht zu Frankreich


und erhält täglich ihr Quantum Schüsse. Auf der Höhe des Gebirges lagerte
am Ulm und 12ten August das Hauptquartier in Petersbach über breiter
Hochebene, hinter sich auf der linken Seite die Schanze Petitepierre, welche einst
Lützelstein hieß, und unvertheidigt den Deutschen überlassen wurde, vor den
Augen des Beschauers die sanstgeschwungenen Linien der Berge, welche in die
Ebene Frankreichs abfallen. Grade gegenüber auf den Bergen erhob sich
zuweilen eine kleine weiße Rauchwolke wie Wasserdampf, der um die Höhen
schwebt, und der dumpfe Ton eines fernen Kanonenschußes bestätigte, daß
dort Pfalzburg liegt und mit den Geschützen der Schlesier blutige Grüße
wechselte. Aber unmittelbar vor dem Beschauer schwang sich in sanfter Nei¬
gung eine grüne Wiesenfläche, abwärts eingefaßt von einem Waldesstreif,
Kühe weideten darauf, und nach einem Regentage warf die Abendsonne ihr
goldenes Licht über Halm und Blatt und über die blauen Höhen der Berg¬
landschaft. Zwar längs der guten Bergstraße rasselten Geschütze und Pro-
viantcolonnen, wer aber dem Kriegstreiben darauf den Rücken kehrte, konnte
träumen, daßHder Mensch so sicher im sonnigen Frieden ausruhe wie die
Natur, welche ihn umgab.'

Allen Deutschen, welche damals im Kriegskleid um ihren Führer lager¬
ten, haftete eine Reihe von Eindrücken fest im Sinn, die in den letzten Marsch¬
tagen gekommen waren, und sie verhandelten darüber in lebendigem Aus¬
tausch der Gedanken. Sie waren hier auf der Grenze deutscher Sprache und
Sitte. Sie waren bis hierher durch ein deutsches Land gezogen, so urdeutsch
in Sprache und Lebensgewohnheiten der Landleute, wie Schwaben oder Bayern,
hier deutsche Dorfhäuser, deutsche Wirthschaften, deutsch die Flachshaare
und großen blauen Augen der Kinder, das Spinnrad, das Ehebett, das
treuherzige, innige Wesen der Leute, wenn sie erst den Fremden ihr Herz
öffneten. Das war der Elsaß, ein verlorenes Gebiet, einst weitgefeierte kräf¬
tige Landschaft des deutschen Reiches, in jedem Jahrhundert unserer Geschichte
^erthvolle Heimath deutscher Cultur, die Heimath rühmlicher Minnesänger,
das Hausgebiet des ersten Habsburgers, die Stätte kräftigen deutschen
Bürgersinns und kluger Erfindungen, das Vaterland hochgebildeter Refor¬
matoren und Humanisten, beim Beginn des dreißigjährigen Krieges das
Heimathland der höchsten und freiesten deutschen Bildung jener Zeit. Und
seitdem verkommen, verloren, mit französischen Gesetzen und fremdem Firniß
überdeckt, in den Städten zur Hälfte französisch, aber auf dem Lande, in den
Bergen noch immer ein deutscher Volksstamm, der zäh an der Sprache und
dem Lebensbrauch der Väter festhält, ein Wesen still, wie im Halbschlaf, in
Vielem alterthümlich und naiv abseit der Zeitbildung wie kaum ein anderer
deutscher Stamm. Seit sechs Generationen erfuhren die Landleute jetzt bei
dem Einmarsch der Deutschen zum erstenmal, daß sie nicht zu Frankreich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/374>, abgerufen am 26.06.2024.