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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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scheinen sie uns mehr von der Verzweiflung als von klarer Einsicht in die Lage dik-
tirt zu sein. Moratorium, Zwangscours für die französischen Banknoten und
Verschweigung des vorhandenen Baarfonds der Bank müssen den öffentlichen
Credit rasch ruiniren. Ebensowenig können die militärischen Maßregeln zum
Ziele führen. Wenn man jetzt auf die Vorgänge der französischen Revolution
zurückgreifen will, so vergißt man vollständig die veränderte Situation.
1792 stand ein fanatisirtes Volk, mit dem die unterdrückten Klassen aller
Nationen sympathisirten, der Cabinetspolitik eines verlebten Despotismus
gegenüber, und darum waren die Heere eines Clerfait und Braunschweig nicht
der leves en inassiz gewachsen. Heute dagegen steht auf unserer Seite
ein in seinen Tiefen emportes Volk in Waffen, geleitet von dem genialsten
Strategen unserer Zeit, geführt von erprobten Feldherren, einig und sieges¬
gewiß einem conseribirten, bereits geschlagenen und demoralisirten Heere
gegenüber. Wenn das Oor^s I6Zi8laM die Organisation und Bewaffnung
der Nationalgarde nach dem plötzlich wieder hervorgesuchten Gesetze von 1831
beschließt, so vergißt es, daß solche Dinge sich nicht improvisiren lassen und
daß die deutsche Armee schwerlich so gefällig sein wird, der Nationalgarde zu
ihrer Organisation Zeit zu lassen. Während unsere siegreichen drei Armee¬
corps sich zum letzten entscheidenden Schlage sammeln, der, wenn diese Zeilen
im Druck erscheinen, aller menschlichen Berechnung zufolge, schon gefallen
sein kann, ziehen in unübersehbaren Schaaren neue deutsche Legionen herbei,
welche offenbar die Bestimmung haben, den größten Theil Frankreichs zu
besetzen und jede militärische Reorganisation im Keime zu ersticken. Ist die
französische Hauptarmee geschlagen, so kann nichts mehr den Marsch auf
Paris hindern, und eine Stadt von 2 Millionen Menschen kann sich, einmal
ccrnirt, trotz aller Befestigungen wegen der Unmöglichkeit der Verprovian-
tirung nur wenige Tage halten.

Was die nächsten Tage in Paris bringen werden, ist unberechenbar,
gegen eine eigentliche Jnsurrection wird der Trieb der Selbsterhaltung wirken,
außerdem wird sich die Regierung jeder Forderung des Oorxs logislatit'fügen.
Dasselbe ist übrigens bereits in einer Verfassung, welche beweist, wie voll¬
ständig man in Paris den Kopf verloren; Jules Favre's Antrag, daß ein
Ausschuß von Is Stimmen die Leitung der Geschäfte in die Hand nehmen
solle, ist zwar noch abgewiesen, aber jeder Tag kann uns die Nachricht von
der Einsetzung eines (lomitv Zu salut publie bringen.

Für uns ist nur eins von Wichtigkeit, daß eine Regierung stehen bleibe,
mit der wir unterhandeln und Frieden schließen können; welcher Art dieselbe
übrigens sein wird, mag uns billig gleichgültig erscheinen. Wir werden nicht
die Fehler der heil. Allianz wiederholen und im mißverstandenen Eifer für
ein Princip, den Franzosen eine Dynastie oder irgend eine Regierungsform


scheinen sie uns mehr von der Verzweiflung als von klarer Einsicht in die Lage dik-
tirt zu sein. Moratorium, Zwangscours für die französischen Banknoten und
Verschweigung des vorhandenen Baarfonds der Bank müssen den öffentlichen
Credit rasch ruiniren. Ebensowenig können die militärischen Maßregeln zum
Ziele führen. Wenn man jetzt auf die Vorgänge der französischen Revolution
zurückgreifen will, so vergißt man vollständig die veränderte Situation.
1792 stand ein fanatisirtes Volk, mit dem die unterdrückten Klassen aller
Nationen sympathisirten, der Cabinetspolitik eines verlebten Despotismus
gegenüber, und darum waren die Heere eines Clerfait und Braunschweig nicht
der leves en inassiz gewachsen. Heute dagegen steht auf unserer Seite
ein in seinen Tiefen emportes Volk in Waffen, geleitet von dem genialsten
Strategen unserer Zeit, geführt von erprobten Feldherren, einig und sieges¬
gewiß einem conseribirten, bereits geschlagenen und demoralisirten Heere
gegenüber. Wenn das Oor^s I6Zi8laM die Organisation und Bewaffnung
der Nationalgarde nach dem plötzlich wieder hervorgesuchten Gesetze von 1831
beschließt, so vergißt es, daß solche Dinge sich nicht improvisiren lassen und
daß die deutsche Armee schwerlich so gefällig sein wird, der Nationalgarde zu
ihrer Organisation Zeit zu lassen. Während unsere siegreichen drei Armee¬
corps sich zum letzten entscheidenden Schlage sammeln, der, wenn diese Zeilen
im Druck erscheinen, aller menschlichen Berechnung zufolge, schon gefallen
sein kann, ziehen in unübersehbaren Schaaren neue deutsche Legionen herbei,
welche offenbar die Bestimmung haben, den größten Theil Frankreichs zu
besetzen und jede militärische Reorganisation im Keime zu ersticken. Ist die
französische Hauptarmee geschlagen, so kann nichts mehr den Marsch auf
Paris hindern, und eine Stadt von 2 Millionen Menschen kann sich, einmal
ccrnirt, trotz aller Befestigungen wegen der Unmöglichkeit der Verprovian-
tirung nur wenige Tage halten.

Was die nächsten Tage in Paris bringen werden, ist unberechenbar,
gegen eine eigentliche Jnsurrection wird der Trieb der Selbsterhaltung wirken,
außerdem wird sich die Regierung jeder Forderung des Oorxs logislatit'fügen.
Dasselbe ist übrigens bereits in einer Verfassung, welche beweist, wie voll¬
ständig man in Paris den Kopf verloren; Jules Favre's Antrag, daß ein
Ausschuß von Is Stimmen die Leitung der Geschäfte in die Hand nehmen
solle, ist zwar noch abgewiesen, aber jeder Tag kann uns die Nachricht von
der Einsetzung eines (lomitv Zu salut publie bringen.

Für uns ist nur eins von Wichtigkeit, daß eine Regierung stehen bleibe,
mit der wir unterhandeln und Frieden schließen können; welcher Art dieselbe
übrigens sein wird, mag uns billig gleichgültig erscheinen. Wir werden nicht
die Fehler der heil. Allianz wiederholen und im mißverstandenen Eifer für
ein Princip, den Franzosen eine Dynastie oder irgend eine Regierungsform


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/300>, abgerufen am 26.06.2024.