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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Berichte eines mit den Verhältnissen jener Länder vertrauten Herrn L. Aras-
sanski entnehmen wir die Bemerkung, daß dort ein sehr ungeschickter Ver-
such gemacht worden sei, die an die Verwaltung ihrer Sultane und Häupt-
linge gewohnten Kirgisen unter eine ganze Armee russischer Beamten zu
stellen, welche weder mit dem Charakter noch mit den Gewohnheiten und
Traditionen des Volkes bekannt seien und dasselbe grundfalsch behandelten.
Der Verfasser schildert den panischen Schrecken der Kirgisen, als sie erfuhren,
sie würden fortan unter nicht weniger als neun russischen Generalen und
einem Halb-Czaren, dem Gouverneur von Turkestan stehen. Nach einer
Schilderung des nomadischen Charakters und der wirthschaftlichen Einrich¬
tungen bespricht der Verfasser die von einer besonderen Commission vor eini¬
gen Jahren ausgearbeitete und von dem Generalgouvemeur von Turkestan
versuchsweise eingeführte Reorganisation der Steppenverwaltung und ver¬
wirft die mit den Sitten und Anschauungen der Nomadenstämme nicht ver¬
einbaren neuen Einrichtungen. Nach anderen Mittheilungen soll die soge-
nannte Kibitkensteuer (die wandernden Filzzelte der Kirgisen heißen Kivitken)
gleichzeitig erhöht worden sein und dies für einen Hauptgrund der Unzufrie¬
denheit gelten.

Der Regierungs-Anzeiger hat die Nachricht gebracht, daß der Aufstand
so gut wie beigelegt sei. Die beiden Hauptstämme, aus 11 und 9 Tausend
Gliedern bestehend, sollen sich freiwillig unterworfen haben. Im großen
Publikum finden solche Mittheilungen keinen rechten Glauben, weil sie schon
zweimal verfrüht gegeben und hinterher durch die Ereignisse Lügen gestraft
worden waren. Noch in neuester Zeit haben Kämpfe stattgefunden. Es ist
auch mehrfach behauptet, aber ebenso oft wiederrufen worden, daß die Kal-
mukenstämme am Asow'schen Meere und Dorische Kosaken im Aufruhr stän¬
den und sich mit den Kirgisen durch Uebergang über die Wolga verbunden
hätten. Es wird aber versichert, diese Unruhen seien übertrieben und nicht
Besorgniß erregend, auch bereits unterdrückt, sonst würde die russische Re¬
gierung nicht Abtheilungen von der Kaukasus-Armee entfernen, um sie am
Pruth aufzustellen, wo eine Armee von 80 Tausend Mann zusammengezogen
wird. Ebenso hat Großfürst Michael, Bruder des Kaisers, der seit 6 Jahren
dort Statthalter war, seine Abberufung gewünscht und ist, da das Kommando
jetzt, nachdem die Verhältnisse geordnet sind, nicht mehr so schwierig als
früher, bereits durch den bisherigen Kriegsminister General Miljutin ersetzt
worden, der früher dort war und seine Carriere dieser Zeit verdankt. --

Wo die russische Regierung keine Feinde hatte, schafft sie sich solche.
Schritt für Schritt sind diese Bl. der russischen Politik gegen die Ostsee-
Provinzen gefolgt, die fast schon dahin gelangt ist, die baltischen Länder
völlig auf gleiches Verwaltungs-Niveau mit den altrussischen Gouvernements


Berichte eines mit den Verhältnissen jener Länder vertrauten Herrn L. Aras-
sanski entnehmen wir die Bemerkung, daß dort ein sehr ungeschickter Ver-
such gemacht worden sei, die an die Verwaltung ihrer Sultane und Häupt-
linge gewohnten Kirgisen unter eine ganze Armee russischer Beamten zu
stellen, welche weder mit dem Charakter noch mit den Gewohnheiten und
Traditionen des Volkes bekannt seien und dasselbe grundfalsch behandelten.
Der Verfasser schildert den panischen Schrecken der Kirgisen, als sie erfuhren,
sie würden fortan unter nicht weniger als neun russischen Generalen und
einem Halb-Czaren, dem Gouverneur von Turkestan stehen. Nach einer
Schilderung des nomadischen Charakters und der wirthschaftlichen Einrich¬
tungen bespricht der Verfasser die von einer besonderen Commission vor eini¬
gen Jahren ausgearbeitete und von dem Generalgouvemeur von Turkestan
versuchsweise eingeführte Reorganisation der Steppenverwaltung und ver¬
wirft die mit den Sitten und Anschauungen der Nomadenstämme nicht ver¬
einbaren neuen Einrichtungen. Nach anderen Mittheilungen soll die soge-
nannte Kibitkensteuer (die wandernden Filzzelte der Kirgisen heißen Kivitken)
gleichzeitig erhöht worden sein und dies für einen Hauptgrund der Unzufrie¬
denheit gelten.

Der Regierungs-Anzeiger hat die Nachricht gebracht, daß der Aufstand
so gut wie beigelegt sei. Die beiden Hauptstämme, aus 11 und 9 Tausend
Gliedern bestehend, sollen sich freiwillig unterworfen haben. Im großen
Publikum finden solche Mittheilungen keinen rechten Glauben, weil sie schon
zweimal verfrüht gegeben und hinterher durch die Ereignisse Lügen gestraft
worden waren. Noch in neuester Zeit haben Kämpfe stattgefunden. Es ist
auch mehrfach behauptet, aber ebenso oft wiederrufen worden, daß die Kal-
mukenstämme am Asow'schen Meere und Dorische Kosaken im Aufruhr stän¬
den und sich mit den Kirgisen durch Uebergang über die Wolga verbunden
hätten. Es wird aber versichert, diese Unruhen seien übertrieben und nicht
Besorgniß erregend, auch bereits unterdrückt, sonst würde die russische Re¬
gierung nicht Abtheilungen von der Kaukasus-Armee entfernen, um sie am
Pruth aufzustellen, wo eine Armee von 80 Tausend Mann zusammengezogen
wird. Ebenso hat Großfürst Michael, Bruder des Kaisers, der seit 6 Jahren
dort Statthalter war, seine Abberufung gewünscht und ist, da das Kommando
jetzt, nachdem die Verhältnisse geordnet sind, nicht mehr so schwierig als
früher, bereits durch den bisherigen Kriegsminister General Miljutin ersetzt
worden, der früher dort war und seine Carriere dieser Zeit verdankt. —

Wo die russische Regierung keine Feinde hatte, schafft sie sich solche.
Schritt für Schritt sind diese Bl. der russischen Politik gegen die Ostsee-
Provinzen gefolgt, die fast schon dahin gelangt ist, die baltischen Länder
völlig auf gleiches Verwaltungs-Niveau mit den altrussischen Gouvernements


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/30>, abgerufen am 26.06.2024.