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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Sendung dem Chef der dritten Abtheilung der kaiserlichen Kanzlei (geheime
Polizei) Grafen Schuwaloff, der sofort mit dem Justizminister Grafen von
der Pahlen in Beziehung trat und in der Stille die Untersuchung anordnete.
Es stellte sich heraus, daß der Petersburger Friedensrichter Tscherkesso zu den
Häuptern einer geheimen Gesellschaft gehörte, welche namentlich unter jüngeren
Gelehrten, Beamten u. s. w. zahlreiche Anhänger zählte und viele Personen
umfaßte, welche früher im Verdachte gestanden hatten, zu jenem Bunde zu
gehören, in dessen Austrage Wladimir Karakoso das berüchtigte Attentat
gegen den Kaiser unternommen. Eine bei Tscherkesso vorgenommene
Haussuchung blieb Anfangs erfolglos, als aber nach Zuziehung von
Justizbeamten seine amtlichen Papiere mit Beschlag belegt wurden, ergab sich,
daß dieser einen Theil des Bundesarchivs in den Akten versteckt hatte. Seit-
dem sind an 150 Personen als muthmaßliche Theilnehmer festgenommen wor¬
den. Die sehr geheim gehaltenen Nachforschungen sollen herausgestellt haben,
daß die in Petersburg und Moskau eingezogenen Personen in die letzten
Zwecke des Complotts nicht eingeweiht gewesen seien und nicht einmal das
Oberhaupt hätten angeben können. So haben viele von den Verhafteten be¬
reits nach kurzer Zeit entlassen werden müssen, mehrere davon mußten aber
schriftlich die Verpflichtung eingehen, den Sitz der Untersuchung".Commission
sofort zu verlassen. Besonders auf Netschajeff wird gefahndet. Einmal
glaubte ihn die Polizei gefangen zu haben, es scheint aber eine Verwechselung
gewesen zu sein. Das aus einer geheimen Druckerei hervorgegangene revo¬
lutionäre Organ bringt (nach der Ostseezeitung) einen ziemlich apokryphen
Bericht, welcher besagt, daß Netschajeff's Doppelgänger, ein junger Bauern¬
bursche in Tambow, verhaftet, in eine Waldeinsamkeit abgeführt und dort von
den Gensdarmen umgebracht worden sei. Der Befehl zu dieser barbarischen
Execution soll von einem hohen Polizeibeamten in Petersburg, dessen Name
auch genannt wird, ertheilt worden sein. Seit !jener Zeit hatte sich unter
den Studenten das Gerücht verbreitet, Netschajeff sei ohne Urtheil und Recht
von der Polizei erdrosselt worden.

Das revolutionäre Organ, von dem mehrere Nummern erschienen sind,
bringt außer solchen Mittheilungen auch belehrende Artikel über die politi¬
schen und socialen Bestrebungen der russischen Umsturzpartei. Es gibt sich
darin ein wüthender Haß gegen die gebildete und besitzende Klasse kund, und
ganz offen werden die blutgierigen Pläne aufgedeckt, welche in Ausführung
gebracht werden sollen. Es wird ferner darin nicht blos mitgetheilt, was
die Polizei zur Entdeckung der Verschwörung unternommen hat, sondern auch,
was sie zu unternehmen beabsichtigt oder höheren Orts angewiesen ist. Das
Ganze gibt sich die Miene, durch intimste Spionage bedient zu sein.

Obwohl man keine wirkliche Gefahr für die bestehende Ordnung zu be-


3 *

Sendung dem Chef der dritten Abtheilung der kaiserlichen Kanzlei (geheime
Polizei) Grafen Schuwaloff, der sofort mit dem Justizminister Grafen von
der Pahlen in Beziehung trat und in der Stille die Untersuchung anordnete.
Es stellte sich heraus, daß der Petersburger Friedensrichter Tscherkesso zu den
Häuptern einer geheimen Gesellschaft gehörte, welche namentlich unter jüngeren
Gelehrten, Beamten u. s. w. zahlreiche Anhänger zählte und viele Personen
umfaßte, welche früher im Verdachte gestanden hatten, zu jenem Bunde zu
gehören, in dessen Austrage Wladimir Karakoso das berüchtigte Attentat
gegen den Kaiser unternommen. Eine bei Tscherkesso vorgenommene
Haussuchung blieb Anfangs erfolglos, als aber nach Zuziehung von
Justizbeamten seine amtlichen Papiere mit Beschlag belegt wurden, ergab sich,
daß dieser einen Theil des Bundesarchivs in den Akten versteckt hatte. Seit-
dem sind an 150 Personen als muthmaßliche Theilnehmer festgenommen wor¬
den. Die sehr geheim gehaltenen Nachforschungen sollen herausgestellt haben,
daß die in Petersburg und Moskau eingezogenen Personen in die letzten
Zwecke des Complotts nicht eingeweiht gewesen seien und nicht einmal das
Oberhaupt hätten angeben können. So haben viele von den Verhafteten be¬
reits nach kurzer Zeit entlassen werden müssen, mehrere davon mußten aber
schriftlich die Verpflichtung eingehen, den Sitz der Untersuchung«.Commission
sofort zu verlassen. Besonders auf Netschajeff wird gefahndet. Einmal
glaubte ihn die Polizei gefangen zu haben, es scheint aber eine Verwechselung
gewesen zu sein. Das aus einer geheimen Druckerei hervorgegangene revo¬
lutionäre Organ bringt (nach der Ostseezeitung) einen ziemlich apokryphen
Bericht, welcher besagt, daß Netschajeff's Doppelgänger, ein junger Bauern¬
bursche in Tambow, verhaftet, in eine Waldeinsamkeit abgeführt und dort von
den Gensdarmen umgebracht worden sei. Der Befehl zu dieser barbarischen
Execution soll von einem hohen Polizeibeamten in Petersburg, dessen Name
auch genannt wird, ertheilt worden sein. Seit !jener Zeit hatte sich unter
den Studenten das Gerücht verbreitet, Netschajeff sei ohne Urtheil und Recht
von der Polizei erdrosselt worden.

Das revolutionäre Organ, von dem mehrere Nummern erschienen sind,
bringt außer solchen Mittheilungen auch belehrende Artikel über die politi¬
schen und socialen Bestrebungen der russischen Umsturzpartei. Es gibt sich
darin ein wüthender Haß gegen die gebildete und besitzende Klasse kund, und
ganz offen werden die blutgierigen Pläne aufgedeckt, welche in Ausführung
gebracht werden sollen. Es wird ferner darin nicht blos mitgetheilt, was
die Polizei zur Entdeckung der Verschwörung unternommen hat, sondern auch,
was sie zu unternehmen beabsichtigt oder höheren Orts angewiesen ist. Das
Ganze gibt sich die Miene, durch intimste Spionage bedient zu sein.

Obwohl man keine wirkliche Gefahr für die bestehende Ordnung zu be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/27>, abgerufen am 26.06.2024.