Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lung des Gleichgewichts, sondern nur zu einer Verschiebung der bestehenden
Machtverhältnisse führte: Frankreich war die Führerrvlle zugefallen, die Ru߬
land bisher sich angemaßt, und Frankreich hatte sie erworben nicht durch
eine abenteuernde, sondern durch eine ruhige, solide und eben so feste wie
versöhnliche Politik, durch eine Politik, die in derselben Weise fortgesetzt wie
begonnen dem Kaiser Napoleon auf lange Zeit hin die im Kampfe gegen Ru߬
land mit raschem Entschluß ergriffene Führerrolle in Europa zu sichern schien.

Die Entscheidung war durch die Landmacht gefallen, das gab Frank¬
reich großen Vorsprung über seinen Verbündeten, der zu Lande geringe Ge-
schicklichkeit gezeigt hatte und dessen eigenthümliche Stärke in dem Kriege
durchaus nicht zur augenfälligen Geltung gekommen war. Deshalb, aber
auch aus einem politischen Grunde, galt der Friede in England für übereilt.
Die öffentliche Meinung in England forderte, vielleicht mit im Hinblick auf
Ostindien, die Vernichtung der russischen Macht-- Frankreich begnügte sich
mit Rußlands Demüthigung und mit einer Bürgschaft für die Sicherheit
der Türkei vermittelst Neutralisirung des schwarzen Meeres. Denn weshalb
sollte Napoleon England von einem Nebenbuhler befreien, der Frankreich
selbst vielleicht einst gegen seinen jetzigen Verbündeten gute Dienste leisten
konnte?

Und England mußte nachgeben, Palmerston's damals noch nicht ermat¬
tete Energie vermochte nicht, gut zu machen, was die Schwäche seines Vor¬
gängers Aberdeen und die Unzulänglichkeit der englischen Kriegführung ver¬
dorben hatte. Und das augenblicklich erregte Nationalgefühl beruhigte sich sehr
bald wieder. England begnügte sich mit der zweiten Rolle an Napoleons
Seite. (Wird jetzt der Kanonendonner am Rhein die Nation aus ihrem Schlafe
erwecken, und wird, während die englischen Staatsmänner bedenklich und
gravitätisch den Kopf schütteln, das Volk sich der Tage Lord Chathams und
Pitts erinnern?)

So hatte Napoleon durch die Demüthigung Rußlands seine neue Mo¬
narchie glänzend in Europa eingeführt; Frankreich konnte mit seiner Welt¬
stellung zufrieden sein, und Was konnte den Kaiser hindern, jet)t durch die
That den Beweis zu führen, daß das Kaiserthum der Friede sei. Die öffent¬
liche Meinung war ihm günstig und erwartete damals von ihm das Beste.

An einem Hofe nur konnte man diese Vertrauensseligkeit nicht theilen.
Denn schon hatte Graf Walewski einen neuen Sturm angekündigt, als er
die Aufmerksamkeit der Mächte auf Neapel, auf die Lage des Kirchenstaats,
auf die Gefahren der Occupation Italiens durch die östreichische Armee lenkte.
In Wien, mochte das Publicum im Allgemeinen auch den Eindruck dieser
Worte bald vergessen, wußte man von diesem Augenblicke an sehr genau, daß


34*

lung des Gleichgewichts, sondern nur zu einer Verschiebung der bestehenden
Machtverhältnisse führte: Frankreich war die Führerrvlle zugefallen, die Ru߬
land bisher sich angemaßt, und Frankreich hatte sie erworben nicht durch
eine abenteuernde, sondern durch eine ruhige, solide und eben so feste wie
versöhnliche Politik, durch eine Politik, die in derselben Weise fortgesetzt wie
begonnen dem Kaiser Napoleon auf lange Zeit hin die im Kampfe gegen Ru߬
land mit raschem Entschluß ergriffene Führerrolle in Europa zu sichern schien.

Die Entscheidung war durch die Landmacht gefallen, das gab Frank¬
reich großen Vorsprung über seinen Verbündeten, der zu Lande geringe Ge-
schicklichkeit gezeigt hatte und dessen eigenthümliche Stärke in dem Kriege
durchaus nicht zur augenfälligen Geltung gekommen war. Deshalb, aber
auch aus einem politischen Grunde, galt der Friede in England für übereilt.
Die öffentliche Meinung in England forderte, vielleicht mit im Hinblick auf
Ostindien, die Vernichtung der russischen Macht— Frankreich begnügte sich
mit Rußlands Demüthigung und mit einer Bürgschaft für die Sicherheit
der Türkei vermittelst Neutralisirung des schwarzen Meeres. Denn weshalb
sollte Napoleon England von einem Nebenbuhler befreien, der Frankreich
selbst vielleicht einst gegen seinen jetzigen Verbündeten gute Dienste leisten
konnte?

Und England mußte nachgeben, Palmerston's damals noch nicht ermat¬
tete Energie vermochte nicht, gut zu machen, was die Schwäche seines Vor¬
gängers Aberdeen und die Unzulänglichkeit der englischen Kriegführung ver¬
dorben hatte. Und das augenblicklich erregte Nationalgefühl beruhigte sich sehr
bald wieder. England begnügte sich mit der zweiten Rolle an Napoleons
Seite. (Wird jetzt der Kanonendonner am Rhein die Nation aus ihrem Schlafe
erwecken, und wird, während die englischen Staatsmänner bedenklich und
gravitätisch den Kopf schütteln, das Volk sich der Tage Lord Chathams und
Pitts erinnern?)

So hatte Napoleon durch die Demüthigung Rußlands seine neue Mo¬
narchie glänzend in Europa eingeführt; Frankreich konnte mit seiner Welt¬
stellung zufrieden sein, und Was konnte den Kaiser hindern, jet)t durch die
That den Beweis zu führen, daß das Kaiserthum der Friede sei. Die öffent¬
liche Meinung war ihm günstig und erwartete damals von ihm das Beste.

An einem Hofe nur konnte man diese Vertrauensseligkeit nicht theilen.
Denn schon hatte Graf Walewski einen neuen Sturm angekündigt, als er
die Aufmerksamkeit der Mächte auf Neapel, auf die Lage des Kirchenstaats,
auf die Gefahren der Occupation Italiens durch die östreichische Armee lenkte.
In Wien, mochte das Publicum im Allgemeinen auch den Eindruck dieser
Worte bald vergessen, wußte man von diesem Augenblicke an sehr genau, daß


34*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124417"/>
            <p xml:id="ID_771" prev="#ID_770"> lung des Gleichgewichts, sondern nur zu einer Verschiebung der bestehenden<lb/>
Machtverhältnisse führte: Frankreich war die Führerrvlle zugefallen, die Ru߬<lb/>
land bisher sich angemaßt, und Frankreich hatte sie erworben nicht durch<lb/>
eine abenteuernde, sondern durch eine ruhige, solide und eben so feste wie<lb/>
versöhnliche Politik, durch eine Politik, die in derselben Weise fortgesetzt wie<lb/>
begonnen dem Kaiser Napoleon auf lange Zeit hin die im Kampfe gegen Ru߬<lb/>
land mit raschem Entschluß ergriffene Führerrolle in Europa zu sichern schien.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_772"> Die Entscheidung war durch die Landmacht gefallen, das gab Frank¬<lb/>
reich großen Vorsprung über seinen Verbündeten, der zu Lande geringe Ge-<lb/>
schicklichkeit gezeigt hatte und dessen eigenthümliche Stärke in dem Kriege<lb/>
durchaus nicht zur augenfälligen Geltung gekommen war. Deshalb, aber<lb/>
auch aus einem politischen Grunde, galt der Friede in England für übereilt.<lb/>
Die öffentliche Meinung in England forderte, vielleicht mit im Hinblick auf<lb/>
Ostindien, die Vernichtung der russischen Macht&#x2014; Frankreich begnügte sich<lb/>
mit Rußlands Demüthigung und mit einer Bürgschaft für die Sicherheit<lb/>
der Türkei vermittelst Neutralisirung des schwarzen Meeres. Denn weshalb<lb/>
sollte Napoleon England von einem Nebenbuhler befreien, der Frankreich<lb/>
selbst vielleicht einst gegen seinen jetzigen Verbündeten gute Dienste leisten<lb/>
konnte?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_773"> Und England mußte nachgeben, Palmerston's damals noch nicht ermat¬<lb/>
tete Energie vermochte nicht, gut zu machen, was die Schwäche seines Vor¬<lb/>
gängers Aberdeen und die Unzulänglichkeit der englischen Kriegführung ver¬<lb/>
dorben hatte. Und das augenblicklich erregte Nationalgefühl beruhigte sich sehr<lb/>
bald wieder. England begnügte sich mit der zweiten Rolle an Napoleons<lb/>
Seite. (Wird jetzt der Kanonendonner am Rhein die Nation aus ihrem Schlafe<lb/>
erwecken, und wird, während die englischen Staatsmänner bedenklich und<lb/>
gravitätisch den Kopf schütteln, das Volk sich der Tage Lord Chathams und<lb/>
Pitts erinnern?)</p><lb/>
            <p xml:id="ID_774"> So hatte Napoleon durch die Demüthigung Rußlands seine neue Mo¬<lb/>
narchie glänzend in Europa eingeführt; Frankreich konnte mit seiner Welt¬<lb/>
stellung zufrieden sein, und Was konnte den Kaiser hindern, jet)t durch die<lb/>
That den Beweis zu führen, daß das Kaiserthum der Friede sei. Die öffent¬<lb/>
liche Meinung war ihm günstig und erwartete damals von ihm das Beste.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_775" next="#ID_776"> An einem Hofe nur konnte man diese Vertrauensseligkeit nicht theilen.<lb/>
Denn schon hatte Graf Walewski einen neuen Sturm angekündigt, als er<lb/>
die Aufmerksamkeit der Mächte auf Neapel, auf die Lage des Kirchenstaats,<lb/>
auf die Gefahren der Occupation Italiens durch die östreichische Armee lenkte.<lb/>
In Wien, mochte das Publicum im Allgemeinen auch den Eindruck dieser<lb/>
Worte bald vergessen, wußte man von diesem Augenblicke an sehr genau, daß</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 34*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0267] lung des Gleichgewichts, sondern nur zu einer Verschiebung der bestehenden Machtverhältnisse führte: Frankreich war die Führerrvlle zugefallen, die Ru߬ land bisher sich angemaßt, und Frankreich hatte sie erworben nicht durch eine abenteuernde, sondern durch eine ruhige, solide und eben so feste wie versöhnliche Politik, durch eine Politik, die in derselben Weise fortgesetzt wie begonnen dem Kaiser Napoleon auf lange Zeit hin die im Kampfe gegen Ru߬ land mit raschem Entschluß ergriffene Führerrolle in Europa zu sichern schien. Die Entscheidung war durch die Landmacht gefallen, das gab Frank¬ reich großen Vorsprung über seinen Verbündeten, der zu Lande geringe Ge- schicklichkeit gezeigt hatte und dessen eigenthümliche Stärke in dem Kriege durchaus nicht zur augenfälligen Geltung gekommen war. Deshalb, aber auch aus einem politischen Grunde, galt der Friede in England für übereilt. Die öffentliche Meinung in England forderte, vielleicht mit im Hinblick auf Ostindien, die Vernichtung der russischen Macht— Frankreich begnügte sich mit Rußlands Demüthigung und mit einer Bürgschaft für die Sicherheit der Türkei vermittelst Neutralisirung des schwarzen Meeres. Denn weshalb sollte Napoleon England von einem Nebenbuhler befreien, der Frankreich selbst vielleicht einst gegen seinen jetzigen Verbündeten gute Dienste leisten konnte? Und England mußte nachgeben, Palmerston's damals noch nicht ermat¬ tete Energie vermochte nicht, gut zu machen, was die Schwäche seines Vor¬ gängers Aberdeen und die Unzulänglichkeit der englischen Kriegführung ver¬ dorben hatte. Und das augenblicklich erregte Nationalgefühl beruhigte sich sehr bald wieder. England begnügte sich mit der zweiten Rolle an Napoleons Seite. (Wird jetzt der Kanonendonner am Rhein die Nation aus ihrem Schlafe erwecken, und wird, während die englischen Staatsmänner bedenklich und gravitätisch den Kopf schütteln, das Volk sich der Tage Lord Chathams und Pitts erinnern?) So hatte Napoleon durch die Demüthigung Rußlands seine neue Mo¬ narchie glänzend in Europa eingeführt; Frankreich konnte mit seiner Welt¬ stellung zufrieden sein, und Was konnte den Kaiser hindern, jet)t durch die That den Beweis zu führen, daß das Kaiserthum der Friede sei. Die öffent¬ liche Meinung war ihm günstig und erwartete damals von ihm das Beste. An einem Hofe nur konnte man diese Vertrauensseligkeit nicht theilen. Denn schon hatte Graf Walewski einen neuen Sturm angekündigt, als er die Aufmerksamkeit der Mächte auf Neapel, auf die Lage des Kirchenstaats, auf die Gefahren der Occupation Italiens durch die östreichische Armee lenkte. In Wien, mochte das Publicum im Allgemeinen auch den Eindruck dieser Worte bald vergessen, wußte man von diesem Augenblicke an sehr genau, daß 34*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/267
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/267>, abgerufen am 26.06.2024.