Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

rief ein Unteroffizier einer armen Frau zu, die ihren Sohn, einen schwarz-
bärtigen, ernstblickender Reservisten unter tausend Thränen küßte. Sie schüt¬
telte den Kopf, stumm, untröstlich und winkte abwehrend mit der Hand, als
glaube sie an kein Wiedersehen. Alles Weh und aller Zorn dieser Tage
trat mir noch einmal unaussprechlich vor die Seele. Und wie hier, so ging's
zu jeder Stunde; man konnte nur erhobenen Herzens, aber selten trockenen
Auges über die Straße gehen.

Bei den Ersatzbataillonen werden die Freiwilligen fleißig eingeübt. In
fünf Wochen werden sie ausgebildet sein. Täglich ist in einer oder der an¬
deren der höheren Schulen Abiturientenexamen, um den Primanern den ge¬
wünschten Eintritt schnell möglich zu machen; doch ist bei den hiesigen Regi¬
mentern wegen Ueberfüllung gar nicht mehr anzukommen. --

Ueber die politische Stimmung der vergangenen Woche ist von hier aus
nichts Besonderes zu berichten, kommt doch ganz Deutschland darin überein.
An Dänemark und Italien zweifelt man noch immer, aber wie sollte man
sie fürchten? Man bedauert sie vielmehr; die Dänen haßt man nicht länger,
seit wir ihnen, was unseres Rechtes war, abgerungen; und was können sie
oder gar die Italiener nun anders gewinnen, als Schaden und Schande?
Italien zumal, das wir so herzlich lieben und dem wir alle seine Fehler
vergeben, würden wir hier mit Schmerzen wieder zerfallen sehen durch die
Schuld einer feilen Regierung; denn wer nach 66 mit Lombarden und Ro-
magnolen, ja selbst mit piemontesischen Kämpfern von Solferino gesprochen
hat, weiß, daß bei einem neuen Kriege an der Seite des verhaßten Napoleon
die so mühevoll errungene Einheit, die doch auch uns ein Antrieb und er¬
munterndes Vorbild gewesen ist, elendiglich in Trümmer gehen muß. Ueber
die Rachepläne der Wiener Regierung finden wir hier bisher noch volle Be-
ruhigung in den edlen Kundgebungen unserer Brüder in Oestreich; man
wird ihnen das nie vergessen dürfen und vielleicht kommt einmal die Zeit,
es ihnen handelnd zu danken.

Wie könnt' ich Ihnen aber auch nur annähernd beschreiben, wie man
über England denkt und spricht! Wenn Staaten so gebrechlich wären wie
wir einzelnen Menschen, England müßte erliegen unter der Last von Ver¬
achtung, die wir alle, seine neidlosen Freunde und Bewunderer von ehemals,
ihm von ganzer Seele zollen. England unterstützt die französische Diplo¬
matie in dem Schimpfe, den sie uns bereiten wollte, England leistet den
französischen Waffen mit erkünstelter Naivetät allen Vorschub, England ist
srohzufrieden mit den Klagen, die unser tiesverletztes Rechtsgefühl ihm darüber
ausspricht! Die furchtbaren Spottverse Lord Byron's:


?deir fova, ni, dealtd, vsaltd, ^c>^ or clisoolltent,
Leillx, mal, ain, rsligiou -- reut, reut, reut!

rief ein Unteroffizier einer armen Frau zu, die ihren Sohn, einen schwarz-
bärtigen, ernstblickender Reservisten unter tausend Thränen küßte. Sie schüt¬
telte den Kopf, stumm, untröstlich und winkte abwehrend mit der Hand, als
glaube sie an kein Wiedersehen. Alles Weh und aller Zorn dieser Tage
trat mir noch einmal unaussprechlich vor die Seele. Und wie hier, so ging's
zu jeder Stunde; man konnte nur erhobenen Herzens, aber selten trockenen
Auges über die Straße gehen.

Bei den Ersatzbataillonen werden die Freiwilligen fleißig eingeübt. In
fünf Wochen werden sie ausgebildet sein. Täglich ist in einer oder der an¬
deren der höheren Schulen Abiturientenexamen, um den Primanern den ge¬
wünschten Eintritt schnell möglich zu machen; doch ist bei den hiesigen Regi¬
mentern wegen Ueberfüllung gar nicht mehr anzukommen. —

Ueber die politische Stimmung der vergangenen Woche ist von hier aus
nichts Besonderes zu berichten, kommt doch ganz Deutschland darin überein.
An Dänemark und Italien zweifelt man noch immer, aber wie sollte man
sie fürchten? Man bedauert sie vielmehr; die Dänen haßt man nicht länger,
seit wir ihnen, was unseres Rechtes war, abgerungen; und was können sie
oder gar die Italiener nun anders gewinnen, als Schaden und Schande?
Italien zumal, das wir so herzlich lieben und dem wir alle seine Fehler
vergeben, würden wir hier mit Schmerzen wieder zerfallen sehen durch die
Schuld einer feilen Regierung; denn wer nach 66 mit Lombarden und Ro-
magnolen, ja selbst mit piemontesischen Kämpfern von Solferino gesprochen
hat, weiß, daß bei einem neuen Kriege an der Seite des verhaßten Napoleon
die so mühevoll errungene Einheit, die doch auch uns ein Antrieb und er¬
munterndes Vorbild gewesen ist, elendiglich in Trümmer gehen muß. Ueber
die Rachepläne der Wiener Regierung finden wir hier bisher noch volle Be-
ruhigung in den edlen Kundgebungen unserer Brüder in Oestreich; man
wird ihnen das nie vergessen dürfen und vielleicht kommt einmal die Zeit,
es ihnen handelnd zu danken.

Wie könnt' ich Ihnen aber auch nur annähernd beschreiben, wie man
über England denkt und spricht! Wenn Staaten so gebrechlich wären wie
wir einzelnen Menschen, England müßte erliegen unter der Last von Ver¬
achtung, die wir alle, seine neidlosen Freunde und Bewunderer von ehemals,
ihm von ganzer Seele zollen. England unterstützt die französische Diplo¬
matie in dem Schimpfe, den sie uns bereiten wollte, England leistet den
französischen Waffen mit erkünstelter Naivetät allen Vorschub, England ist
srohzufrieden mit den Klagen, die unser tiesverletztes Rechtsgefühl ihm darüber
ausspricht! Die furchtbaren Spottverse Lord Byron's:


?deir fova, ni, dealtd, vsaltd, ^c>^ or clisoolltent,
Leillx, mal, ain, rsligiou — reut, reut, reut!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124396"/>
            <p xml:id="ID_682" prev="#ID_681"> rief ein Unteroffizier einer armen Frau zu, die ihren Sohn, einen schwarz-<lb/>
bärtigen, ernstblickender Reservisten unter tausend Thränen küßte. Sie schüt¬<lb/>
telte den Kopf, stumm, untröstlich und winkte abwehrend mit der Hand, als<lb/>
glaube sie an kein Wiedersehen. Alles Weh und aller Zorn dieser Tage<lb/>
trat mir noch einmal unaussprechlich vor die Seele. Und wie hier, so ging's<lb/>
zu jeder Stunde; man konnte nur erhobenen Herzens, aber selten trockenen<lb/>
Auges über die Straße gehen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_683"> Bei den Ersatzbataillonen werden die Freiwilligen fleißig eingeübt. In<lb/>
fünf Wochen werden sie ausgebildet sein. Täglich ist in einer oder der an¬<lb/>
deren der höheren Schulen Abiturientenexamen, um den Primanern den ge¬<lb/>
wünschten Eintritt schnell möglich zu machen; doch ist bei den hiesigen Regi¬<lb/>
mentern wegen Ueberfüllung gar nicht mehr anzukommen. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_684"> Ueber die politische Stimmung der vergangenen Woche ist von hier aus<lb/>
nichts Besonderes zu berichten, kommt doch ganz Deutschland darin überein.<lb/>
An Dänemark und Italien zweifelt man noch immer, aber wie sollte man<lb/>
sie fürchten? Man bedauert sie vielmehr; die Dänen haßt man nicht länger,<lb/>
seit wir ihnen, was unseres Rechtes war, abgerungen; und was können sie<lb/>
oder gar die Italiener nun anders gewinnen, als Schaden und Schande?<lb/>
Italien zumal, das wir so herzlich lieben und dem wir alle seine Fehler<lb/>
vergeben, würden wir hier mit Schmerzen wieder zerfallen sehen durch die<lb/>
Schuld einer feilen Regierung; denn wer nach 66 mit Lombarden und Ro-<lb/>
magnolen, ja selbst mit piemontesischen Kämpfern von Solferino gesprochen<lb/>
hat, weiß, daß bei einem neuen Kriege an der Seite des verhaßten Napoleon<lb/>
die so mühevoll errungene Einheit, die doch auch uns ein Antrieb und er¬<lb/>
munterndes Vorbild gewesen ist, elendiglich in Trümmer gehen muß. Ueber<lb/>
die Rachepläne der Wiener Regierung finden wir hier bisher noch volle Be-<lb/>
ruhigung in den edlen Kundgebungen unserer Brüder in Oestreich; man<lb/>
wird ihnen das nie vergessen dürfen und vielleicht kommt einmal die Zeit,<lb/>
es ihnen handelnd zu danken.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_685" next="#ID_686"> Wie könnt' ich Ihnen aber auch nur annähernd beschreiben, wie man<lb/>
über England denkt und spricht! Wenn Staaten so gebrechlich wären wie<lb/>
wir einzelnen Menschen, England müßte erliegen unter der Last von Ver¬<lb/>
achtung, die wir alle, seine neidlosen Freunde und Bewunderer von ehemals,<lb/>
ihm von ganzer Seele zollen. England unterstützt die französische Diplo¬<lb/>
matie in dem Schimpfe, den sie uns bereiten wollte, England leistet den<lb/>
französischen Waffen mit erkünstelter Naivetät allen Vorschub, England ist<lb/>
srohzufrieden mit den Klagen, die unser tiesverletztes Rechtsgefühl ihm darüber<lb/>
ausspricht! Die furchtbaren Spottverse Lord Byron's:</p><lb/>
            <quote> ?deir fova, ni, dealtd, vsaltd, ^c&gt;^ or clisoolltent,<lb/>
Leillx, mal, ain, rsligiou &#x2014; reut, reut, reut!</quote><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0246] rief ein Unteroffizier einer armen Frau zu, die ihren Sohn, einen schwarz- bärtigen, ernstblickender Reservisten unter tausend Thränen küßte. Sie schüt¬ telte den Kopf, stumm, untröstlich und winkte abwehrend mit der Hand, als glaube sie an kein Wiedersehen. Alles Weh und aller Zorn dieser Tage trat mir noch einmal unaussprechlich vor die Seele. Und wie hier, so ging's zu jeder Stunde; man konnte nur erhobenen Herzens, aber selten trockenen Auges über die Straße gehen. Bei den Ersatzbataillonen werden die Freiwilligen fleißig eingeübt. In fünf Wochen werden sie ausgebildet sein. Täglich ist in einer oder der an¬ deren der höheren Schulen Abiturientenexamen, um den Primanern den ge¬ wünschten Eintritt schnell möglich zu machen; doch ist bei den hiesigen Regi¬ mentern wegen Ueberfüllung gar nicht mehr anzukommen. — Ueber die politische Stimmung der vergangenen Woche ist von hier aus nichts Besonderes zu berichten, kommt doch ganz Deutschland darin überein. An Dänemark und Italien zweifelt man noch immer, aber wie sollte man sie fürchten? Man bedauert sie vielmehr; die Dänen haßt man nicht länger, seit wir ihnen, was unseres Rechtes war, abgerungen; und was können sie oder gar die Italiener nun anders gewinnen, als Schaden und Schande? Italien zumal, das wir so herzlich lieben und dem wir alle seine Fehler vergeben, würden wir hier mit Schmerzen wieder zerfallen sehen durch die Schuld einer feilen Regierung; denn wer nach 66 mit Lombarden und Ro- magnolen, ja selbst mit piemontesischen Kämpfern von Solferino gesprochen hat, weiß, daß bei einem neuen Kriege an der Seite des verhaßten Napoleon die so mühevoll errungene Einheit, die doch auch uns ein Antrieb und er¬ munterndes Vorbild gewesen ist, elendiglich in Trümmer gehen muß. Ueber die Rachepläne der Wiener Regierung finden wir hier bisher noch volle Be- ruhigung in den edlen Kundgebungen unserer Brüder in Oestreich; man wird ihnen das nie vergessen dürfen und vielleicht kommt einmal die Zeit, es ihnen handelnd zu danken. Wie könnt' ich Ihnen aber auch nur annähernd beschreiben, wie man über England denkt und spricht! Wenn Staaten so gebrechlich wären wie wir einzelnen Menschen, England müßte erliegen unter der Last von Ver¬ achtung, die wir alle, seine neidlosen Freunde und Bewunderer von ehemals, ihm von ganzer Seele zollen. England unterstützt die französische Diplo¬ matie in dem Schimpfe, den sie uns bereiten wollte, England leistet den französischen Waffen mit erkünstelter Naivetät allen Vorschub, England ist srohzufrieden mit den Klagen, die unser tiesverletztes Rechtsgefühl ihm darüber ausspricht! Die furchtbaren Spottverse Lord Byron's: ?deir fova, ni, dealtd, vsaltd, ^c>^ or clisoolltent, Leillx, mal, ain, rsligiou — reut, reut, reut!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/246
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/246>, abgerufen am 26.06.2024.