Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Form und Gedanken Regelrechte. Und in der That ist ja in einem gewissen
Gedankenkreise jeder gebildete Franzose so heimisch, daß er sich mit Leichtig¬
keit und vollendeter Eleganz mündlich und schriftlich in demselben bewegt;
die Sprache denkt und dichtet für den Einzelnen -- das gilt für die Fran>
zosen mehr als für irgend ein anderes Volk; aber wie selten hat selbst der
gebildete Franzose ein Verständniß für das, was außerhalb dieses Kreises
liegt. Es ist daher kein Zufall, daß die napoleoniden stets Gönner und
Freunde des Classischen waren, dessen Pathos sich auch praktisch vortrefflich
zu Armeebulletins und Proclamattonen verwenden läßt.

Was in der Literatur wider den Klassicismus auftrat, galt den An¬
hängern des Alten für anarchisch, und in der That nicht ganz mit Unrecht.
Die Romantik hat gewiß herrliche Blüthen getrieben. Aber wie lange
dauerte diese Blüthe? Dieselben Dichter sind die Vertreter des jugendlich
kräftigen Aufschwungs und des raschen Verfalls. Wie rasch artet bei Victor
Hugo die Schönheit in Monstrosität, die Freiheit in Zügellosigkeit aus!
Sobald der Franzose aus der Regel heraustritt, verliert er sich ins Unge¬
messene. Die Phantasie erfindet neue Formen, aber der Jdeenschatz der
Nation bleibt wesentlich der alte.

Als Napoleon III. die Zügel der Herrschaft übernahm, war die Zeit
des Verfalls nach kurzer Blüthe für die Romantik bereits wieder einge¬
brochen. Es bedürfte eben keiner Anstrengungen, den geistigen Schwung,
den er wie sein Oheim fürchtete, niederzuhalten. Die geistige Leere der um
seinen Thron sich sammelnden alten und neuen Männer gab den Ton an,
dem Frankreich folgte; und das reichte vollkommen aus, um das Publicum
für das Edle, für das Feine und Vornehme in Sitte und Literatur unempfänglich
zu machen. Die ersten Spuren einer heilsamen Reaction sind erst in neuester
Zeit in der Geschichtsschreibung eingetreten, die dann aber auch, wie
schon erwähnt, die ganze Schärfe ihrer Kritik gegen den Bonapartismus
richtet und damit die wunde Stelle im Körper des französischen Staates
trifft. Nur muß die Reaction gegen den geistigen Marasmus der Nation
einen Schritt weiter gehen und vor allem das Centralisationsprincip, dessen
natürliche Spitze der Bonapartismus ist, zersetzen. Erst wenn dies Princip
zerstört ist, kann, wie im Staate, so in der Literatur ein Zustand eintreten,
in dem die Freiheit und nicht die Anarchie der Gegensatz des geistlosen
Regelzwanges ist.

Konnte der Kaiser die Literatur ihren eigenen Impulsen überlassen, so
war der politischen Tagespresse gegenüber eine um so größere Strenge
nöthig. Eine jede Regierung in Frankreich wird mit der Presse in stetem
erbittertem Kampfe liegen und immer der Versuchung ausgesetzt sein. alle


Form und Gedanken Regelrechte. Und in der That ist ja in einem gewissen
Gedankenkreise jeder gebildete Franzose so heimisch, daß er sich mit Leichtig¬
keit und vollendeter Eleganz mündlich und schriftlich in demselben bewegt;
die Sprache denkt und dichtet für den Einzelnen — das gilt für die Fran>
zosen mehr als für irgend ein anderes Volk; aber wie selten hat selbst der
gebildete Franzose ein Verständniß für das, was außerhalb dieses Kreises
liegt. Es ist daher kein Zufall, daß die napoleoniden stets Gönner und
Freunde des Classischen waren, dessen Pathos sich auch praktisch vortrefflich
zu Armeebulletins und Proclamattonen verwenden läßt.

Was in der Literatur wider den Klassicismus auftrat, galt den An¬
hängern des Alten für anarchisch, und in der That nicht ganz mit Unrecht.
Die Romantik hat gewiß herrliche Blüthen getrieben. Aber wie lange
dauerte diese Blüthe? Dieselben Dichter sind die Vertreter des jugendlich
kräftigen Aufschwungs und des raschen Verfalls. Wie rasch artet bei Victor
Hugo die Schönheit in Monstrosität, die Freiheit in Zügellosigkeit aus!
Sobald der Franzose aus der Regel heraustritt, verliert er sich ins Unge¬
messene. Die Phantasie erfindet neue Formen, aber der Jdeenschatz der
Nation bleibt wesentlich der alte.

Als Napoleon III. die Zügel der Herrschaft übernahm, war die Zeit
des Verfalls nach kurzer Blüthe für die Romantik bereits wieder einge¬
brochen. Es bedürfte eben keiner Anstrengungen, den geistigen Schwung,
den er wie sein Oheim fürchtete, niederzuhalten. Die geistige Leere der um
seinen Thron sich sammelnden alten und neuen Männer gab den Ton an,
dem Frankreich folgte; und das reichte vollkommen aus, um das Publicum
für das Edle, für das Feine und Vornehme in Sitte und Literatur unempfänglich
zu machen. Die ersten Spuren einer heilsamen Reaction sind erst in neuester
Zeit in der Geschichtsschreibung eingetreten, die dann aber auch, wie
schon erwähnt, die ganze Schärfe ihrer Kritik gegen den Bonapartismus
richtet und damit die wunde Stelle im Körper des französischen Staates
trifft. Nur muß die Reaction gegen den geistigen Marasmus der Nation
einen Schritt weiter gehen und vor allem das Centralisationsprincip, dessen
natürliche Spitze der Bonapartismus ist, zersetzen. Erst wenn dies Princip
zerstört ist, kann, wie im Staate, so in der Literatur ein Zustand eintreten,
in dem die Freiheit und nicht die Anarchie der Gegensatz des geistlosen
Regelzwanges ist.

Konnte der Kaiser die Literatur ihren eigenen Impulsen überlassen, so
war der politischen Tagespresse gegenüber eine um so größere Strenge
nöthig. Eine jede Regierung in Frankreich wird mit der Presse in stetem
erbittertem Kampfe liegen und immer der Versuchung ausgesetzt sein. alle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124375"/>
            <p xml:id="ID_618" prev="#ID_617"> Form und Gedanken Regelrechte. Und in der That ist ja in einem gewissen<lb/>
Gedankenkreise jeder gebildete Franzose so heimisch, daß er sich mit Leichtig¬<lb/>
keit und vollendeter Eleganz mündlich und schriftlich in demselben bewegt;<lb/>
die Sprache denkt und dichtet für den Einzelnen &#x2014; das gilt für die Fran&gt;<lb/>
zosen mehr als für irgend ein anderes Volk; aber wie selten hat selbst der<lb/>
gebildete Franzose ein Verständniß für das, was außerhalb dieses Kreises<lb/>
liegt. Es ist daher kein Zufall, daß die napoleoniden stets Gönner und<lb/>
Freunde des Classischen waren, dessen Pathos sich auch praktisch vortrefflich<lb/>
zu Armeebulletins und Proclamattonen verwenden läßt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_619"> Was in der Literatur wider den Klassicismus auftrat, galt den An¬<lb/>
hängern des Alten für anarchisch, und in der That nicht ganz mit Unrecht.<lb/>
Die Romantik hat gewiß herrliche Blüthen getrieben. Aber wie lange<lb/>
dauerte diese Blüthe? Dieselben Dichter sind die Vertreter des jugendlich<lb/>
kräftigen Aufschwungs und des raschen Verfalls. Wie rasch artet bei Victor<lb/>
Hugo die Schönheit in Monstrosität, die Freiheit in Zügellosigkeit aus!<lb/>
Sobald der Franzose aus der Regel heraustritt, verliert er sich ins Unge¬<lb/>
messene. Die Phantasie erfindet neue Formen, aber der Jdeenschatz der<lb/>
Nation bleibt wesentlich der alte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_620"> Als Napoleon III. die Zügel der Herrschaft übernahm, war die Zeit<lb/>
des Verfalls nach kurzer Blüthe für die Romantik bereits wieder einge¬<lb/>
brochen. Es bedürfte eben keiner Anstrengungen, den geistigen Schwung,<lb/>
den er wie sein Oheim fürchtete, niederzuhalten. Die geistige Leere der um<lb/>
seinen Thron sich sammelnden alten und neuen Männer gab den Ton an,<lb/>
dem Frankreich folgte; und das reichte vollkommen aus, um das Publicum<lb/>
für das Edle, für das Feine und Vornehme in Sitte und Literatur unempfänglich<lb/>
zu machen. Die ersten Spuren einer heilsamen Reaction sind erst in neuester<lb/>
Zeit in der Geschichtsschreibung eingetreten, die dann aber auch, wie<lb/>
schon erwähnt, die ganze Schärfe ihrer Kritik gegen den Bonapartismus<lb/>
richtet und damit die wunde Stelle im Körper des französischen Staates<lb/>
trifft. Nur muß die Reaction gegen den geistigen Marasmus der Nation<lb/>
einen Schritt weiter gehen und vor allem das Centralisationsprincip, dessen<lb/>
natürliche Spitze der Bonapartismus ist, zersetzen. Erst wenn dies Princip<lb/>
zerstört ist, kann, wie im Staate, so in der Literatur ein Zustand eintreten,<lb/>
in dem die Freiheit und nicht die Anarchie der Gegensatz des geistlosen<lb/>
Regelzwanges ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_621" next="#ID_622"> Konnte der Kaiser die Literatur ihren eigenen Impulsen überlassen, so<lb/>
war der politischen Tagespresse gegenüber eine um so größere Strenge<lb/>
nöthig. Eine jede Regierung in Frankreich wird mit der Presse in stetem<lb/>
erbittertem Kampfe liegen und immer der Versuchung ausgesetzt sein. alle</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] Form und Gedanken Regelrechte. Und in der That ist ja in einem gewissen Gedankenkreise jeder gebildete Franzose so heimisch, daß er sich mit Leichtig¬ keit und vollendeter Eleganz mündlich und schriftlich in demselben bewegt; die Sprache denkt und dichtet für den Einzelnen — das gilt für die Fran> zosen mehr als für irgend ein anderes Volk; aber wie selten hat selbst der gebildete Franzose ein Verständniß für das, was außerhalb dieses Kreises liegt. Es ist daher kein Zufall, daß die napoleoniden stets Gönner und Freunde des Classischen waren, dessen Pathos sich auch praktisch vortrefflich zu Armeebulletins und Proclamattonen verwenden läßt. Was in der Literatur wider den Klassicismus auftrat, galt den An¬ hängern des Alten für anarchisch, und in der That nicht ganz mit Unrecht. Die Romantik hat gewiß herrliche Blüthen getrieben. Aber wie lange dauerte diese Blüthe? Dieselben Dichter sind die Vertreter des jugendlich kräftigen Aufschwungs und des raschen Verfalls. Wie rasch artet bei Victor Hugo die Schönheit in Monstrosität, die Freiheit in Zügellosigkeit aus! Sobald der Franzose aus der Regel heraustritt, verliert er sich ins Unge¬ messene. Die Phantasie erfindet neue Formen, aber der Jdeenschatz der Nation bleibt wesentlich der alte. Als Napoleon III. die Zügel der Herrschaft übernahm, war die Zeit des Verfalls nach kurzer Blüthe für die Romantik bereits wieder einge¬ brochen. Es bedürfte eben keiner Anstrengungen, den geistigen Schwung, den er wie sein Oheim fürchtete, niederzuhalten. Die geistige Leere der um seinen Thron sich sammelnden alten und neuen Männer gab den Ton an, dem Frankreich folgte; und das reichte vollkommen aus, um das Publicum für das Edle, für das Feine und Vornehme in Sitte und Literatur unempfänglich zu machen. Die ersten Spuren einer heilsamen Reaction sind erst in neuester Zeit in der Geschichtsschreibung eingetreten, die dann aber auch, wie schon erwähnt, die ganze Schärfe ihrer Kritik gegen den Bonapartismus richtet und damit die wunde Stelle im Körper des französischen Staates trifft. Nur muß die Reaction gegen den geistigen Marasmus der Nation einen Schritt weiter gehen und vor allem das Centralisationsprincip, dessen natürliche Spitze der Bonapartismus ist, zersetzen. Erst wenn dies Princip zerstört ist, kann, wie im Staate, so in der Literatur ein Zustand eintreten, in dem die Freiheit und nicht die Anarchie der Gegensatz des geistlosen Regelzwanges ist. Konnte der Kaiser die Literatur ihren eigenen Impulsen überlassen, so war der politischen Tagespresse gegenüber eine um so größere Strenge nöthig. Eine jede Regierung in Frankreich wird mit der Presse in stetem erbittertem Kampfe liegen und immer der Versuchung ausgesetzt sein. alle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/225>, abgerufen am 28.07.2024.