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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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alte Form hat, als sie es merken, wenn es gar keine hat. Wenn aber nur
ein Idomeneo, den sie in Manchem Einzelnen altmodig finden würden, ganz
und gut gegeben wird, so müssen sie schon daran glauben, daß das schön
und genial sei, und frei bei aller bestimmten Begränzung: in seiner Form
sich selbst tragend, darum nicht so pesant wie jener gefühlsunmittelbare poeti¬
sche Aufguß, der ohne das Medium der Kunstgestaltung mit einer materiellen
Schwere auf uns lastet. -- Ich habe wenig Gluck'sche Opern gehört, die Ar¬
mide, die Iphigenie in Antis, die Alceste, jede nur einmal und zu sehr ver¬
schiedener Zeit. Eine rechte volle Befriedigung habe ich nie dabei empfunden,
mir war's so oft wie Absicht des Componisten. wahr zu sein, aber nicht musik¬
wahr, nur wortwahr, und dadurch wird's nicht selten musikunwahr; das
Wort schließt kurz ab. die Musik will ausklingen. Die Musik bleibt doch
immer der Vocal, zu dem das Wort nur der Consonant ist, und den Accent
wird hier wie sonst immer nur der Vocal haben können, das lautende, nicht
das anlautende. Man hört doch immer die Musik, wenn sie noch so wort¬
getreu ist, auch für sich, so muß sie auch für sich zu hören sein. -- -- --


M. H.

Leipzig, den 8. October 1857.


Lieber verehrter Freund!

° . . Ich habe vor einiger Zeit aus München einen Bierkrug geschickt
bekommen, auf dessenDeckel das Mozart'sche bekannte Familienbild in Emaille
recht hübsch, wie man's überm Bier verlangen kann, gemalt ist; aber eben
zum Bier paßt doch der Mozart nicht so recht, viel besser würde es einer
unserer beliebten vierstimmigen Männergesangcomponisten. Das Geschenk ist
von einer Münchener Dame, Musiklehrerin, die mir schon einmal Bockbier
geschickt hat, und ohne alle Malice, denn sie meint es dankbar, sie will eben
ihr Bestes geben. -- Unsere Concerte haben wieder angefangen, ich habe das
erste aber nicht gehört. Es war bis auf eine ungarische Rhapsodie von Liszt,
die ganz abscheulich gewesen sein soll, mit lauter guten Sachen ausgefüllt.
Wenn man sich nur, wie Philipp im Don Carlos einen Pulsschlag Allwissen¬
heit begehrt, vor einem solchen Concert einige Stunden Vergessenheit ver¬
schaffen könnte, was müßte es ein Vergnügen sein, in jetziger Zeit die Eroica,
(die mir aufrichtig gesagt, noch lange nicht die liebste von den Beethoven'schen
Symphonien ist), zum erstenmal oder als etwas Neues zu hören. -- So aber,
auf demselben Fleck sitzend seit 13 Jahren, dieselben Leute um mich herum,
jedes Tönchen voraus wissend, ist auch gar zu viel ausgefahrenes Gleis da¬
bei. Manchmal zündet und erwärmt es wohl, oft aber auch kommt mir das
immer wieder hören unnöthig vor. Die fatale Concertschablone macht's auch


alte Form hat, als sie es merken, wenn es gar keine hat. Wenn aber nur
ein Idomeneo, den sie in Manchem Einzelnen altmodig finden würden, ganz
und gut gegeben wird, so müssen sie schon daran glauben, daß das schön
und genial sei, und frei bei aller bestimmten Begränzung: in seiner Form
sich selbst tragend, darum nicht so pesant wie jener gefühlsunmittelbare poeti¬
sche Aufguß, der ohne das Medium der Kunstgestaltung mit einer materiellen
Schwere auf uns lastet. — Ich habe wenig Gluck'sche Opern gehört, die Ar¬
mide, die Iphigenie in Antis, die Alceste, jede nur einmal und zu sehr ver¬
schiedener Zeit. Eine rechte volle Befriedigung habe ich nie dabei empfunden,
mir war's so oft wie Absicht des Componisten. wahr zu sein, aber nicht musik¬
wahr, nur wortwahr, und dadurch wird's nicht selten musikunwahr; das
Wort schließt kurz ab. die Musik will ausklingen. Die Musik bleibt doch
immer der Vocal, zu dem das Wort nur der Consonant ist, und den Accent
wird hier wie sonst immer nur der Vocal haben können, das lautende, nicht
das anlautende. Man hört doch immer die Musik, wenn sie noch so wort¬
getreu ist, auch für sich, so muß sie auch für sich zu hören sein. — — —


M. H.

Leipzig, den 8. October 1857.


Lieber verehrter Freund!

° . . Ich habe vor einiger Zeit aus München einen Bierkrug geschickt
bekommen, auf dessenDeckel das Mozart'sche bekannte Familienbild in Emaille
recht hübsch, wie man's überm Bier verlangen kann, gemalt ist; aber eben
zum Bier paßt doch der Mozart nicht so recht, viel besser würde es einer
unserer beliebten vierstimmigen Männergesangcomponisten. Das Geschenk ist
von einer Münchener Dame, Musiklehrerin, die mir schon einmal Bockbier
geschickt hat, und ohne alle Malice, denn sie meint es dankbar, sie will eben
ihr Bestes geben. — Unsere Concerte haben wieder angefangen, ich habe das
erste aber nicht gehört. Es war bis auf eine ungarische Rhapsodie von Liszt,
die ganz abscheulich gewesen sein soll, mit lauter guten Sachen ausgefüllt.
Wenn man sich nur, wie Philipp im Don Carlos einen Pulsschlag Allwissen¬
heit begehrt, vor einem solchen Concert einige Stunden Vergessenheit ver¬
schaffen könnte, was müßte es ein Vergnügen sein, in jetziger Zeit die Eroica,
(die mir aufrichtig gesagt, noch lange nicht die liebste von den Beethoven'schen
Symphonien ist), zum erstenmal oder als etwas Neues zu hören. — So aber,
auf demselben Fleck sitzend seit 13 Jahren, dieselben Leute um mich herum,
jedes Tönchen voraus wissend, ist auch gar zu viel ausgefahrenes Gleis da¬
bei. Manchmal zündet und erwärmt es wohl, oft aber auch kommt mir das
immer wieder hören unnöthig vor. Die fatale Concertschablone macht's auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/99>, abgerufen am 01.09.2024.