Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Dies sind ohne Zweifel sehr gewichtige Zugeständnisse, die nur aus dem
ernsten Wunsch hervorgegangen sind, mit der jetzigen Kammermehrheit sich
zu vertragen. Sie sind um so gewichtiger, als schon bisher in allen diesen
Punkten die Leistungen Würtembergs nicht die Höhe der norddeutschen
Leistungen erreichten. Weder war die Formation des Heeres ganz dieselbe,
und noch weniger die Stärke des Contingents, die Dauer der Präsenz und
folglich die Höhe des Aufwands; auch die Controlvorschriften waren schon
bisher laxer, und was die bereits bei der gegenwärtigen Präsenz eingetretene
Noth betrifft, tüchtige Unterofficiere zu bekommen, so begreift man es, wenn
der Kriegsminister in seiner Noth zu verzweifelten Mitteln greift, aber die
Wiedereinführung der Stellvertretung bleibt, wenn sie auch nur in beschränk¬
tem Umfange stattfindet, eine Durchlöcherung des Princips der allgemeinen
Wehrpflicht.

Und diese Zugeständnisse sind um so bedauerlicher, als die neue Wehr¬
verfassung im Ganzen leicht, ohne eine Spur von Widerstand, eingeführt worden
ist. Es war vorauszusehen, daß man sich in wenigen Jahren an die größeren
Opfer, die sie erfordert, gewöhnt hätte. Daß das Gesetz eine unerträgliche
Bedrückung ist, erfuhr das Volk doch erst aus den Agitationen der Demo¬
kraten und Ultramontanen. Bis zuletzt konnte diese ganze Bewegung den
Charakter des Künstlicher, Gemachtem nicht verläugnen. Die Redner redeten
nicht aus einer tiefen Entrüstung und Noth des Volks heraus, sondern sie
suchten die Entrüstung in das Volk hineinzureden, was ihnen doch nur auf
den Dörfern gelang. Es war nicht eine große Leidenschaft, wie sie sich
von selbst von Thal zu Thal fortpflanzt und ein ganzes Volk ergreift, sondern
es war ein mühsam studirter Operationsplan, nach welchem die verschiedenen
Landesgegenden bearbeitet wurden. Nicht die Noth führte das große Wort,
sondern der Uebermuth, und wenn in jenen Volksversammlungen so viel die
Rede war von dem wirthschaftlichen Ruin des Landes, von der unausbleiblichen
Verarmung, von dem Fluchgesetz, das alljährlich Tausende über den Ocean
treibe: so muß man daneben jene anderen Reden derselben Männer halten,
wenn sie höhnisch von der Hungerleiderei und dem ärmlichen Leben der Be¬
wohner der Tiefebene erzählen, wie es der stolze freie Schwabe inmitten seiner
rauchenden Schlote, wogenden Felder und blühenden Rebenhügel nicht kenne
und nicht ertragen würde. Man erinnert sich jener vom "Beobachter" appro-
birten Definition, wonach die Freiheit im Grunde darin besteht, daß ein
Jeder "genug zu essen und genug zu trinken" hat. Diese Art von Freiheit
ist bisher in Würtemberg hinreichend vorhanden gewesen.

Die Frage ist nun die, ob jene Zugeständnisse wirklich die Kammer¬
mehrheit befriedigen und einen Conflict abwenden werden. Die erste Auf¬
nahme, welche der Nachgiebigkeit der Regierung durch die Patrioten berettet
wurde, war ungeberdig genug. Nichts kam ihnen verdrießlicher, als daß die


Dies sind ohne Zweifel sehr gewichtige Zugeständnisse, die nur aus dem
ernsten Wunsch hervorgegangen sind, mit der jetzigen Kammermehrheit sich
zu vertragen. Sie sind um so gewichtiger, als schon bisher in allen diesen
Punkten die Leistungen Würtembergs nicht die Höhe der norddeutschen
Leistungen erreichten. Weder war die Formation des Heeres ganz dieselbe,
und noch weniger die Stärke des Contingents, die Dauer der Präsenz und
folglich die Höhe des Aufwands; auch die Controlvorschriften waren schon
bisher laxer, und was die bereits bei der gegenwärtigen Präsenz eingetretene
Noth betrifft, tüchtige Unterofficiere zu bekommen, so begreift man es, wenn
der Kriegsminister in seiner Noth zu verzweifelten Mitteln greift, aber die
Wiedereinführung der Stellvertretung bleibt, wenn sie auch nur in beschränk¬
tem Umfange stattfindet, eine Durchlöcherung des Princips der allgemeinen
Wehrpflicht.

Und diese Zugeständnisse sind um so bedauerlicher, als die neue Wehr¬
verfassung im Ganzen leicht, ohne eine Spur von Widerstand, eingeführt worden
ist. Es war vorauszusehen, daß man sich in wenigen Jahren an die größeren
Opfer, die sie erfordert, gewöhnt hätte. Daß das Gesetz eine unerträgliche
Bedrückung ist, erfuhr das Volk doch erst aus den Agitationen der Demo¬
kraten und Ultramontanen. Bis zuletzt konnte diese ganze Bewegung den
Charakter des Künstlicher, Gemachtem nicht verläugnen. Die Redner redeten
nicht aus einer tiefen Entrüstung und Noth des Volks heraus, sondern sie
suchten die Entrüstung in das Volk hineinzureden, was ihnen doch nur auf
den Dörfern gelang. Es war nicht eine große Leidenschaft, wie sie sich
von selbst von Thal zu Thal fortpflanzt und ein ganzes Volk ergreift, sondern
es war ein mühsam studirter Operationsplan, nach welchem die verschiedenen
Landesgegenden bearbeitet wurden. Nicht die Noth führte das große Wort,
sondern der Uebermuth, und wenn in jenen Volksversammlungen so viel die
Rede war von dem wirthschaftlichen Ruin des Landes, von der unausbleiblichen
Verarmung, von dem Fluchgesetz, das alljährlich Tausende über den Ocean
treibe: so muß man daneben jene anderen Reden derselben Männer halten,
wenn sie höhnisch von der Hungerleiderei und dem ärmlichen Leben der Be¬
wohner der Tiefebene erzählen, wie es der stolze freie Schwabe inmitten seiner
rauchenden Schlote, wogenden Felder und blühenden Rebenhügel nicht kenne
und nicht ertragen würde. Man erinnert sich jener vom „Beobachter" appro-
birten Definition, wonach die Freiheit im Grunde darin besteht, daß ein
Jeder „genug zu essen und genug zu trinken" hat. Diese Art von Freiheit
ist bisher in Würtemberg hinreichend vorhanden gewesen.

Die Frage ist nun die, ob jene Zugeständnisse wirklich die Kammer¬
mehrheit befriedigen und einen Conflict abwenden werden. Die erste Auf¬
nahme, welche der Nachgiebigkeit der Regierung durch die Patrioten berettet
wurde, war ungeberdig genug. Nichts kam ihnen verdrießlicher, als daß die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123703"/>
          <p xml:id="ID_196"> Dies sind ohne Zweifel sehr gewichtige Zugeständnisse, die nur aus dem<lb/>
ernsten Wunsch hervorgegangen sind, mit der jetzigen Kammermehrheit sich<lb/>
zu vertragen. Sie sind um so gewichtiger, als schon bisher in allen diesen<lb/>
Punkten die Leistungen Würtembergs nicht die Höhe der norddeutschen<lb/>
Leistungen erreichten. Weder war die Formation des Heeres ganz dieselbe,<lb/>
und noch weniger die Stärke des Contingents, die Dauer der Präsenz und<lb/>
folglich die Höhe des Aufwands; auch die Controlvorschriften waren schon<lb/>
bisher laxer, und was die bereits bei der gegenwärtigen Präsenz eingetretene<lb/>
Noth betrifft, tüchtige Unterofficiere zu bekommen, so begreift man es, wenn<lb/>
der Kriegsminister in seiner Noth zu verzweifelten Mitteln greift, aber die<lb/>
Wiedereinführung der Stellvertretung bleibt, wenn sie auch nur in beschränk¬<lb/>
tem Umfange stattfindet, eine Durchlöcherung des Princips der allgemeinen<lb/>
Wehrpflicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_197"> Und diese Zugeständnisse sind um so bedauerlicher, als die neue Wehr¬<lb/>
verfassung im Ganzen leicht, ohne eine Spur von Widerstand, eingeführt worden<lb/>
ist. Es war vorauszusehen, daß man sich in wenigen Jahren an die größeren<lb/>
Opfer, die sie erfordert, gewöhnt hätte. Daß das Gesetz eine unerträgliche<lb/>
Bedrückung ist, erfuhr das Volk doch erst aus den Agitationen der Demo¬<lb/>
kraten und Ultramontanen. Bis zuletzt konnte diese ganze Bewegung den<lb/>
Charakter des Künstlicher, Gemachtem nicht verläugnen. Die Redner redeten<lb/>
nicht aus einer tiefen Entrüstung und Noth des Volks heraus, sondern sie<lb/>
suchten die Entrüstung in das Volk hineinzureden, was ihnen doch nur auf<lb/>
den Dörfern gelang. Es war nicht eine große Leidenschaft, wie sie sich<lb/>
von selbst von Thal zu Thal fortpflanzt und ein ganzes Volk ergreift, sondern<lb/>
es war ein mühsam studirter Operationsplan, nach welchem die verschiedenen<lb/>
Landesgegenden bearbeitet wurden. Nicht die Noth führte das große Wort,<lb/>
sondern der Uebermuth, und wenn in jenen Volksversammlungen so viel die<lb/>
Rede war von dem wirthschaftlichen Ruin des Landes, von der unausbleiblichen<lb/>
Verarmung, von dem Fluchgesetz, das alljährlich Tausende über den Ocean<lb/>
treibe: so muß man daneben jene anderen Reden derselben Männer halten,<lb/>
wenn sie höhnisch von der Hungerleiderei und dem ärmlichen Leben der Be¬<lb/>
wohner der Tiefebene erzählen, wie es der stolze freie Schwabe inmitten seiner<lb/>
rauchenden Schlote, wogenden Felder und blühenden Rebenhügel nicht kenne<lb/>
und nicht ertragen würde. Man erinnert sich jener vom &#x201E;Beobachter" appro-<lb/>
birten Definition, wonach die Freiheit im Grunde darin besteht, daß ein<lb/>
Jeder &#x201E;genug zu essen und genug zu trinken" hat. Diese Art von Freiheit<lb/>
ist bisher in Würtemberg hinreichend vorhanden gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_198" next="#ID_199"> Die Frage ist nun die, ob jene Zugeständnisse wirklich die Kammer¬<lb/>
mehrheit befriedigen und einen Conflict abwenden werden. Die erste Auf¬<lb/>
nahme, welche der Nachgiebigkeit der Regierung durch die Patrioten berettet<lb/>
wurde, war ungeberdig genug.  Nichts kam ihnen verdrießlicher, als daß die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] Dies sind ohne Zweifel sehr gewichtige Zugeständnisse, die nur aus dem ernsten Wunsch hervorgegangen sind, mit der jetzigen Kammermehrheit sich zu vertragen. Sie sind um so gewichtiger, als schon bisher in allen diesen Punkten die Leistungen Würtembergs nicht die Höhe der norddeutschen Leistungen erreichten. Weder war die Formation des Heeres ganz dieselbe, und noch weniger die Stärke des Contingents, die Dauer der Präsenz und folglich die Höhe des Aufwands; auch die Controlvorschriften waren schon bisher laxer, und was die bereits bei der gegenwärtigen Präsenz eingetretene Noth betrifft, tüchtige Unterofficiere zu bekommen, so begreift man es, wenn der Kriegsminister in seiner Noth zu verzweifelten Mitteln greift, aber die Wiedereinführung der Stellvertretung bleibt, wenn sie auch nur in beschränk¬ tem Umfange stattfindet, eine Durchlöcherung des Princips der allgemeinen Wehrpflicht. Und diese Zugeständnisse sind um so bedauerlicher, als die neue Wehr¬ verfassung im Ganzen leicht, ohne eine Spur von Widerstand, eingeführt worden ist. Es war vorauszusehen, daß man sich in wenigen Jahren an die größeren Opfer, die sie erfordert, gewöhnt hätte. Daß das Gesetz eine unerträgliche Bedrückung ist, erfuhr das Volk doch erst aus den Agitationen der Demo¬ kraten und Ultramontanen. Bis zuletzt konnte diese ganze Bewegung den Charakter des Künstlicher, Gemachtem nicht verläugnen. Die Redner redeten nicht aus einer tiefen Entrüstung und Noth des Volks heraus, sondern sie suchten die Entrüstung in das Volk hineinzureden, was ihnen doch nur auf den Dörfern gelang. Es war nicht eine große Leidenschaft, wie sie sich von selbst von Thal zu Thal fortpflanzt und ein ganzes Volk ergreift, sondern es war ein mühsam studirter Operationsplan, nach welchem die verschiedenen Landesgegenden bearbeitet wurden. Nicht die Noth führte das große Wort, sondern der Uebermuth, und wenn in jenen Volksversammlungen so viel die Rede war von dem wirthschaftlichen Ruin des Landes, von der unausbleiblichen Verarmung, von dem Fluchgesetz, das alljährlich Tausende über den Ocean treibe: so muß man daneben jene anderen Reden derselben Männer halten, wenn sie höhnisch von der Hungerleiderei und dem ärmlichen Leben der Be¬ wohner der Tiefebene erzählen, wie es der stolze freie Schwabe inmitten seiner rauchenden Schlote, wogenden Felder und blühenden Rebenhügel nicht kenne und nicht ertragen würde. Man erinnert sich jener vom „Beobachter" appro- birten Definition, wonach die Freiheit im Grunde darin besteht, daß ein Jeder „genug zu essen und genug zu trinken" hat. Diese Art von Freiheit ist bisher in Würtemberg hinreichend vorhanden gewesen. Die Frage ist nun die, ob jene Zugeständnisse wirklich die Kammer¬ mehrheit befriedigen und einen Conflict abwenden werden. Die erste Auf¬ nahme, welche der Nachgiebigkeit der Regierung durch die Patrioten berettet wurde, war ungeberdig genug. Nichts kam ihnen verdrießlicher, als daß die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/83>, abgerufen am 01.09.2024.