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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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und tapfere sittliche Haltung des Volkes. Man heirathete durchschnittlich
spät, ohne deshalb viel außerehelichen Geschlechtsumgang zu pflegen; so blieb
die Fruchtbarkeit der Frauen beschränkt, aber Alles, was geboren wurde,
konnte auch ordentlich genährt und ausgezogen werden, so daß die Sichel
des Todes vergleichsweise wenig zu thun sand, um das Feld hinlänglich
licht zu erhalten. Fragte man aber nach der politischen Verfassung, dem
Bildungszustände und der Wohlhabenheit der beiden Länder, so nahmen sie
in jeder dieser Hinsichten schon damals einen hohen Rang ein. Ihre Gebirgs-
natur mochte zu den eigenthümlichen Gesellschaftsverhältnissen mitgewirkt
haben, welche den Civilstandsbeamten so wenig zu thun gaben; aber gleich¬
viel woher entnommen, war das liberale und demokratische Gepräge der¬
selben gewiß nicht ohne Zusammenhang mit der herrschenden weisen Selbst-
beschränkung des Fortpflanzungstriebes, welche die Seelenzahl nicht zu rasch
anschwellen ließ.

Etwas ganz Aehnliches nehmen wir wahr, wenn wir innerhalb einer
und derselben Nation diejenigen Gesellschaftsschichten, welche am frühesten zu
Wohlstand, Bildung und Freiheit gelangt sind, mit den am weitesten zurück¬
gebliebenen vergleichen. In jenen mäßige, in diesen große und oft übertrie¬
bene Fruchtbarkeit. Der junge Mann aus den gebildeten und begüterten
Ständen verfällt zwar leichter als der Tagelöhnerssohn den Versuchungen des
Müßiggangs, zu denen vor Allem auch geschlechtliche gehören; aber bevor er
eine Familie gründet, sieht er sich sorgsamer um, ob er Frau und Kinder
auch zu erhalten vermag. Der Tagelöhner oder Fabrikarbeiter lebt in ehe¬
losen Stande auch keineswegs immer sittenrein; das würden ihm schon die
Eindrücken und Gewohnheiten sehr erschweren, unter denen er in der Enge der
elterlichen Wohnung, mit zahlreichen Geschwistern verschiedenen Geschlechts
und Alters gemeinsam aufgewachsen ist. Aber der Entschluß zu heirathen
entsteht in ihm weit leichter, theils weil seine völlige Abhängigkeit vom Ver¬
dienst des Tages der wirthschaftlichen Voraussicht überhaupt kaum Stoff zu
lassen scheint, theils weil die öffentliche Armenpflege da ist. das Deficit seiner
Casse zu decken. Gewöhnt an Zwangsbehandlung, wie er meistens noch ist,
läßt er sich durch die mit dem Empfang von Almosen verknüpften Beschrän¬
kungen seiner Freiheit und Erniedrigungen seiner Würde nicht sonderlich
schrecken. Umgekehrt Alles, was das männliche Selbstgefühl in ihm stärkt,
muß auch den Ernst erhöhen, mit welchem er den folgenreichsten und ver¬
antwortlichsten Entschluß des Lebens, den Entschluß zu heirathen, faßt.
Wenn er schlechterdings entschlossen ist, der öffentlichen Armenpflege nicht zu
verfallen, wird er sich zweimal besinnen, bevor er Frau und Kinder in sei¬
nen noch zu wenig darauf eingerichteten Haushalt aufnimmt. Wenn er
selbst sich gewöhnt hat, zu den unentbehrlichen Bedürfnissen des Lebens die


und tapfere sittliche Haltung des Volkes. Man heirathete durchschnittlich
spät, ohne deshalb viel außerehelichen Geschlechtsumgang zu pflegen; so blieb
die Fruchtbarkeit der Frauen beschränkt, aber Alles, was geboren wurde,
konnte auch ordentlich genährt und ausgezogen werden, so daß die Sichel
des Todes vergleichsweise wenig zu thun sand, um das Feld hinlänglich
licht zu erhalten. Fragte man aber nach der politischen Verfassung, dem
Bildungszustände und der Wohlhabenheit der beiden Länder, so nahmen sie
in jeder dieser Hinsichten schon damals einen hohen Rang ein. Ihre Gebirgs-
natur mochte zu den eigenthümlichen Gesellschaftsverhältnissen mitgewirkt
haben, welche den Civilstandsbeamten so wenig zu thun gaben; aber gleich¬
viel woher entnommen, war das liberale und demokratische Gepräge der¬
selben gewiß nicht ohne Zusammenhang mit der herrschenden weisen Selbst-
beschränkung des Fortpflanzungstriebes, welche die Seelenzahl nicht zu rasch
anschwellen ließ.

Etwas ganz Aehnliches nehmen wir wahr, wenn wir innerhalb einer
und derselben Nation diejenigen Gesellschaftsschichten, welche am frühesten zu
Wohlstand, Bildung und Freiheit gelangt sind, mit den am weitesten zurück¬
gebliebenen vergleichen. In jenen mäßige, in diesen große und oft übertrie¬
bene Fruchtbarkeit. Der junge Mann aus den gebildeten und begüterten
Ständen verfällt zwar leichter als der Tagelöhnerssohn den Versuchungen des
Müßiggangs, zu denen vor Allem auch geschlechtliche gehören; aber bevor er
eine Familie gründet, sieht er sich sorgsamer um, ob er Frau und Kinder
auch zu erhalten vermag. Der Tagelöhner oder Fabrikarbeiter lebt in ehe¬
losen Stande auch keineswegs immer sittenrein; das würden ihm schon die
Eindrücken und Gewohnheiten sehr erschweren, unter denen er in der Enge der
elterlichen Wohnung, mit zahlreichen Geschwistern verschiedenen Geschlechts
und Alters gemeinsam aufgewachsen ist. Aber der Entschluß zu heirathen
entsteht in ihm weit leichter, theils weil seine völlige Abhängigkeit vom Ver¬
dienst des Tages der wirthschaftlichen Voraussicht überhaupt kaum Stoff zu
lassen scheint, theils weil die öffentliche Armenpflege da ist. das Deficit seiner
Casse zu decken. Gewöhnt an Zwangsbehandlung, wie er meistens noch ist,
läßt er sich durch die mit dem Empfang von Almosen verknüpften Beschrän¬
kungen seiner Freiheit und Erniedrigungen seiner Würde nicht sonderlich
schrecken. Umgekehrt Alles, was das männliche Selbstgefühl in ihm stärkt,
muß auch den Ernst erhöhen, mit welchem er den folgenreichsten und ver¬
antwortlichsten Entschluß des Lebens, den Entschluß zu heirathen, faßt.
Wenn er schlechterdings entschlossen ist, der öffentlichen Armenpflege nicht zu
verfallen, wird er sich zweimal besinnen, bevor er Frau und Kinder in sei¬
nen noch zu wenig darauf eingerichteten Haushalt aufnimmt. Wenn er
selbst sich gewöhnt hat, zu den unentbehrlichen Bedürfnissen des Lebens die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/72>, abgerufen am 01.09.2024.