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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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vorzüglich fühlbar gebessert hat. Aber an der Auswanderung erkennt man
recht, wie die wahrhaft wirksamen Mittel, um einer Uebervölkerung abzu¬
helfen oder vorzubeugen, sich nachgerade der Sphäre der Staatsthätigkeit
entzogen haben. Auswanderung unter Staatsleitung, d: h. also das, was
man gewöhnlich als Colonisation bezeichnet, stellt sich immer mehr als un¬
ausführbar heraus; die, welche ihrer Heimath Lebewohl zu sagen sich ent¬
schlossen haben, weil die Wege zum Glück hier soviel rauher und länger sind
als anderswo, sind in der Regel eigensinnig genug, sich der gewohnten
obrigkeitlichen Leitung und Fürsorge nun auch ein für allemal entziehen zu
wollen. Die Staatsgewalt muß sich deshalb nicht blos bescheiden, weder
zur Auswanderung aufmuntern, noch freiwillig entstehende Auswanderung
hindern zu können -- sie sieht sich auch der geschehenden Auswanderung
gegenüber in die bescheidenste Rolle zurückgewiesen. Woraus sich denn er¬
geben möchte, daß auch das große theoretische Auswanderung^- und Coloni-
sationsunternehmen John Stuart Mills, in welchem manche Volkswirthe
einen letzten wirksamen Canal gegen Uebervölkerung zu erblicken geneigt sind,
blos eine wohlklingende Chimäre ist. Die Auswanderung ist nur insofern
ein überhaupt anzuschlagender wohlthätiger Aderlaß, als der Patient, die an
Blutüberfüllung leidende Nation, ihn sich selber applicirt.

Innerhalb dieser Sphäre des freien Einzelwillens aber wirkt auch sonst
noch vielerlei kräftig, darauf hin, daß die Volkszahl in den wünschenswerthen
Schranken langsam-sicheren Fortschritts bleibe. Jede neue Eroberung des
Reichs der Freiheit hat diese Folge, weil sie die sittlichen und wirthschaft¬
lichen Kräfte entfesselt, welche in dem bisher niedergehaltenen Individuum
schlummern. Dasselbe ist es mit der Ausbreitung und Zunahme ächter Bil-
dung. welche Voraussicht auf die nothwendigen Wirkungen des eigenen Thuns
und Lassens lehrt, und welche das Familiengefühl belebt, das dem gesunden
und geistig entwickelten Menschen natürlich ist. Auch die Steigerung der
Bedürfnisse, der Uebergang neuer Bedürfnisse in feste, schwer zu entbehrende
Lebensgewohnheiten wirkt so, wenn sie Hand in Hand gehen mit Erhöhung
des erwerbenden und haushaltenden Vermögens. Daß die Vervollkommnung
des Menschen, um Alles in Ein Wort zu fassen, diese zuletzt auf Beschränk
kung der Kinderzahl hinauslaufende, bedeutsame Wirkung hat, zeigt uns die
Vergleichung der verschiedenen Stände, wie die Vergleichung von Völkern.
AIs Malthus zur weiteren Begründung seiner Lehrsätze statistische That¬
sachen in der ganzen civtlisirten Welt sammeln ging, fand er die geringsten
Verhältnißziffern von Geburten und Sterbefällen in Norwegen und der
Schweiz. Das ewig wechselnde Spiel der Bevölkerung zwischen Geburt und
Tod war dort auf die engsten Grenzen zusammengedrängt, -- nicht durch-
irgend welche Staatsmaßregeln, sondern durch, die freie Selbstbeschränkung


Grenzboten II. 1870. 9

vorzüglich fühlbar gebessert hat. Aber an der Auswanderung erkennt man
recht, wie die wahrhaft wirksamen Mittel, um einer Uebervölkerung abzu¬
helfen oder vorzubeugen, sich nachgerade der Sphäre der Staatsthätigkeit
entzogen haben. Auswanderung unter Staatsleitung, d: h. also das, was
man gewöhnlich als Colonisation bezeichnet, stellt sich immer mehr als un¬
ausführbar heraus; die, welche ihrer Heimath Lebewohl zu sagen sich ent¬
schlossen haben, weil die Wege zum Glück hier soviel rauher und länger sind
als anderswo, sind in der Regel eigensinnig genug, sich der gewohnten
obrigkeitlichen Leitung und Fürsorge nun auch ein für allemal entziehen zu
wollen. Die Staatsgewalt muß sich deshalb nicht blos bescheiden, weder
zur Auswanderung aufmuntern, noch freiwillig entstehende Auswanderung
hindern zu können — sie sieht sich auch der geschehenden Auswanderung
gegenüber in die bescheidenste Rolle zurückgewiesen. Woraus sich denn er¬
geben möchte, daß auch das große theoretische Auswanderung^- und Coloni-
sationsunternehmen John Stuart Mills, in welchem manche Volkswirthe
einen letzten wirksamen Canal gegen Uebervölkerung zu erblicken geneigt sind,
blos eine wohlklingende Chimäre ist. Die Auswanderung ist nur insofern
ein überhaupt anzuschlagender wohlthätiger Aderlaß, als der Patient, die an
Blutüberfüllung leidende Nation, ihn sich selber applicirt.

Innerhalb dieser Sphäre des freien Einzelwillens aber wirkt auch sonst
noch vielerlei kräftig, darauf hin, daß die Volkszahl in den wünschenswerthen
Schranken langsam-sicheren Fortschritts bleibe. Jede neue Eroberung des
Reichs der Freiheit hat diese Folge, weil sie die sittlichen und wirthschaft¬
lichen Kräfte entfesselt, welche in dem bisher niedergehaltenen Individuum
schlummern. Dasselbe ist es mit der Ausbreitung und Zunahme ächter Bil-
dung. welche Voraussicht auf die nothwendigen Wirkungen des eigenen Thuns
und Lassens lehrt, und welche das Familiengefühl belebt, das dem gesunden
und geistig entwickelten Menschen natürlich ist. Auch die Steigerung der
Bedürfnisse, der Uebergang neuer Bedürfnisse in feste, schwer zu entbehrende
Lebensgewohnheiten wirkt so, wenn sie Hand in Hand gehen mit Erhöhung
des erwerbenden und haushaltenden Vermögens. Daß die Vervollkommnung
des Menschen, um Alles in Ein Wort zu fassen, diese zuletzt auf Beschränk
kung der Kinderzahl hinauslaufende, bedeutsame Wirkung hat, zeigt uns die
Vergleichung der verschiedenen Stände, wie die Vergleichung von Völkern.
AIs Malthus zur weiteren Begründung seiner Lehrsätze statistische That¬
sachen in der ganzen civtlisirten Welt sammeln ging, fand er die geringsten
Verhältnißziffern von Geburten und Sterbefällen in Norwegen und der
Schweiz. Das ewig wechselnde Spiel der Bevölkerung zwischen Geburt und
Tod war dort auf die engsten Grenzen zusammengedrängt, — nicht durch-
irgend welche Staatsmaßregeln, sondern durch, die freie Selbstbeschränkung


Grenzboten II. 1870. 9
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[0071] vorzüglich fühlbar gebessert hat. Aber an der Auswanderung erkennt man recht, wie die wahrhaft wirksamen Mittel, um einer Uebervölkerung abzu¬ helfen oder vorzubeugen, sich nachgerade der Sphäre der Staatsthätigkeit entzogen haben. Auswanderung unter Staatsleitung, d: h. also das, was man gewöhnlich als Colonisation bezeichnet, stellt sich immer mehr als un¬ ausführbar heraus; die, welche ihrer Heimath Lebewohl zu sagen sich ent¬ schlossen haben, weil die Wege zum Glück hier soviel rauher und länger sind als anderswo, sind in der Regel eigensinnig genug, sich der gewohnten obrigkeitlichen Leitung und Fürsorge nun auch ein für allemal entziehen zu wollen. Die Staatsgewalt muß sich deshalb nicht blos bescheiden, weder zur Auswanderung aufmuntern, noch freiwillig entstehende Auswanderung hindern zu können — sie sieht sich auch der geschehenden Auswanderung gegenüber in die bescheidenste Rolle zurückgewiesen. Woraus sich denn er¬ geben möchte, daß auch das große theoretische Auswanderung^- und Coloni- sationsunternehmen John Stuart Mills, in welchem manche Volkswirthe einen letzten wirksamen Canal gegen Uebervölkerung zu erblicken geneigt sind, blos eine wohlklingende Chimäre ist. Die Auswanderung ist nur insofern ein überhaupt anzuschlagender wohlthätiger Aderlaß, als der Patient, die an Blutüberfüllung leidende Nation, ihn sich selber applicirt. Innerhalb dieser Sphäre des freien Einzelwillens aber wirkt auch sonst noch vielerlei kräftig, darauf hin, daß die Volkszahl in den wünschenswerthen Schranken langsam-sicheren Fortschritts bleibe. Jede neue Eroberung des Reichs der Freiheit hat diese Folge, weil sie die sittlichen und wirthschaft¬ lichen Kräfte entfesselt, welche in dem bisher niedergehaltenen Individuum schlummern. Dasselbe ist es mit der Ausbreitung und Zunahme ächter Bil- dung. welche Voraussicht auf die nothwendigen Wirkungen des eigenen Thuns und Lassens lehrt, und welche das Familiengefühl belebt, das dem gesunden und geistig entwickelten Menschen natürlich ist. Auch die Steigerung der Bedürfnisse, der Uebergang neuer Bedürfnisse in feste, schwer zu entbehrende Lebensgewohnheiten wirkt so, wenn sie Hand in Hand gehen mit Erhöhung des erwerbenden und haushaltenden Vermögens. Daß die Vervollkommnung des Menschen, um Alles in Ein Wort zu fassen, diese zuletzt auf Beschränk kung der Kinderzahl hinauslaufende, bedeutsame Wirkung hat, zeigt uns die Vergleichung der verschiedenen Stände, wie die Vergleichung von Völkern. AIs Malthus zur weiteren Begründung seiner Lehrsätze statistische That¬ sachen in der ganzen civtlisirten Welt sammeln ging, fand er die geringsten Verhältnißziffern von Geburten und Sterbefällen in Norwegen und der Schweiz. Das ewig wechselnde Spiel der Bevölkerung zwischen Geburt und Tod war dort auf die engsten Grenzen zusammengedrängt, — nicht durch- irgend welche Staatsmaßregeln, sondern durch, die freie Selbstbeschränkung Grenzboten II. 1870. 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/71>, abgerufen am 01.09.2024.