Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

in Schutz nahm, tadelte doch, daß er Mißverständnissen die Thür geöffnet,
indem er seine rein der physiologischen Tendenz entsprechende ideelle Ver¬
doppelungsperiode von 25 Jahren dem realen Beispiel der Vereinigten Staaten
entlehnt habe, wo sich die Bevölkerung damals wirklich in diesem Zeitraum
ungefähr verdoppelte, versteht sich, ohne die Einwanderung zu rechnen, (wo¬
gegen Wiß jedoch in seinem "Gesetz der Bevölkerung und die Eisenbahnen"
von 1867 die Verdoppelungsperiode von 28 Jahren etablirt); und dann dehnte
er das Bereich der einer Uebervölkerung entgegenarbeitenden socialen Tendenzen,
das Malthus in der Hauptsache auf sittliche Selbstbeherrschung beschränkt
hatte, weiter aus. Die betreffende beredte Stelle der wirthschaftlichen Har¬
monien verdient wohl hierhergesetzt zu werden:

"Die Hindernisse, welche die vernunftbegabte menschliche Gesellschaft der
möglichen Vervielfältigung des Geschlechts entgegensetzt, nehmen noch viele
andere Gestalten an, als blos die des Verzichts auf geschlechtliche Freuden,
wenn man eine Familie nicht ernähren kann. Was bedeutet denn, beispiels¬
weise, die heilige Unwissenheit der Kinder über das Geschlechtsverhältniß, die
einzige Unwissenheit ohne Zweifel, die zu heben ein Verbrechen wäre, die Jeder
respectirt, und über der die Mutter ängstlich wie über einem Schatze wacht?
Was bedeutet die Schamhaftigkeit, welche der Unkunde folgt, jene geheimni߬
volle Waffe der Jungfrau, die den Liebenden zugleich bezaubert und in
Schranken hält, und die Zeit des unschuldigen Liebesgenusses so hold ver¬
längert? Ist es nicht ein wunderbares Ding, wäre es nicht abgeschmackt auf
jedem anderen Gebiet, dieser Schleier der anfänglich die Unwissenheit von der
Wahrheit trennt, und dann die energischen Hindernisse, welche sich zwischen
die Kenntniß und das volle Glück schieben? Was bedeutet die Macht der
öffentlichen Meinung, die den Verkehr von Personen verschiedenen Geschlechts
untereinander so strengen Regeln unterwirft, die leichteste Uebertretung der¬
selben brandmarkt, und den Fall sowohl an der, welche unterlegen ist.
als an seinen unglücklichen Früchten lebenslänglich rächt? Was bedeutet jene
zarte Ehre, jene strenge Zurückhaltung des weiblichen Geschlechts, welche ge¬
meiniglich selbst die bewundern, denen sie nicht als Schranken ihrer Begierde
gelten, alle jene Einrichtungen, conventionellen Schwierigkeiten und mannig¬
fachen Vorsichtsmaßregeln -- was bedeuten sie anders als die Beschränkung
des Fortpflanzungstriebes durch vernunftmäßige, sittliche, vorbeugende, dem
Menschen allein gegebene Mittel?"

Zu den Beschränkungsmitteln dieser Art wird man im heutigen Europa
dasjenige freilich nicht rechnen, welches in dem übervölkerten chinesischen Reiche
auch neben der Auswanderung immer noch an der Tagesordnung ist, die
Aussetzung von Kindern. Obgleich die Angaben der Reisenden und Resi¬
denten verschieden lauten, scheint es doch gewiß, sagt Röscher, daß siege-


in Schutz nahm, tadelte doch, daß er Mißverständnissen die Thür geöffnet,
indem er seine rein der physiologischen Tendenz entsprechende ideelle Ver¬
doppelungsperiode von 25 Jahren dem realen Beispiel der Vereinigten Staaten
entlehnt habe, wo sich die Bevölkerung damals wirklich in diesem Zeitraum
ungefähr verdoppelte, versteht sich, ohne die Einwanderung zu rechnen, (wo¬
gegen Wiß jedoch in seinem „Gesetz der Bevölkerung und die Eisenbahnen"
von 1867 die Verdoppelungsperiode von 28 Jahren etablirt); und dann dehnte
er das Bereich der einer Uebervölkerung entgegenarbeitenden socialen Tendenzen,
das Malthus in der Hauptsache auf sittliche Selbstbeherrschung beschränkt
hatte, weiter aus. Die betreffende beredte Stelle der wirthschaftlichen Har¬
monien verdient wohl hierhergesetzt zu werden:

„Die Hindernisse, welche die vernunftbegabte menschliche Gesellschaft der
möglichen Vervielfältigung des Geschlechts entgegensetzt, nehmen noch viele
andere Gestalten an, als blos die des Verzichts auf geschlechtliche Freuden,
wenn man eine Familie nicht ernähren kann. Was bedeutet denn, beispiels¬
weise, die heilige Unwissenheit der Kinder über das Geschlechtsverhältniß, die
einzige Unwissenheit ohne Zweifel, die zu heben ein Verbrechen wäre, die Jeder
respectirt, und über der die Mutter ängstlich wie über einem Schatze wacht?
Was bedeutet die Schamhaftigkeit, welche der Unkunde folgt, jene geheimni߬
volle Waffe der Jungfrau, die den Liebenden zugleich bezaubert und in
Schranken hält, und die Zeit des unschuldigen Liebesgenusses so hold ver¬
längert? Ist es nicht ein wunderbares Ding, wäre es nicht abgeschmackt auf
jedem anderen Gebiet, dieser Schleier der anfänglich die Unwissenheit von der
Wahrheit trennt, und dann die energischen Hindernisse, welche sich zwischen
die Kenntniß und das volle Glück schieben? Was bedeutet die Macht der
öffentlichen Meinung, die den Verkehr von Personen verschiedenen Geschlechts
untereinander so strengen Regeln unterwirft, die leichteste Uebertretung der¬
selben brandmarkt, und den Fall sowohl an der, welche unterlegen ist.
als an seinen unglücklichen Früchten lebenslänglich rächt? Was bedeutet jene
zarte Ehre, jene strenge Zurückhaltung des weiblichen Geschlechts, welche ge¬
meiniglich selbst die bewundern, denen sie nicht als Schranken ihrer Begierde
gelten, alle jene Einrichtungen, conventionellen Schwierigkeiten und mannig¬
fachen Vorsichtsmaßregeln — was bedeuten sie anders als die Beschränkung
des Fortpflanzungstriebes durch vernunftmäßige, sittliche, vorbeugende, dem
Menschen allein gegebene Mittel?"

Zu den Beschränkungsmitteln dieser Art wird man im heutigen Europa
dasjenige freilich nicht rechnen, welches in dem übervölkerten chinesischen Reiche
auch neben der Auswanderung immer noch an der Tagesordnung ist, die
Aussetzung von Kindern. Obgleich die Angaben der Reisenden und Resi¬
denten verschieden lauten, scheint es doch gewiß, sagt Röscher, daß siege-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123689"/>
          <p xml:id="ID_163" prev="#ID_162"> in Schutz nahm, tadelte doch, daß er Mißverständnissen die Thür geöffnet,<lb/>
indem er seine rein der physiologischen Tendenz entsprechende ideelle Ver¬<lb/>
doppelungsperiode von 25 Jahren dem realen Beispiel der Vereinigten Staaten<lb/>
entlehnt habe, wo sich die Bevölkerung damals wirklich in diesem Zeitraum<lb/>
ungefähr verdoppelte, versteht sich, ohne die Einwanderung zu rechnen, (wo¬<lb/>
gegen Wiß jedoch in seinem &#x201E;Gesetz der Bevölkerung und die Eisenbahnen"<lb/>
von 1867 die Verdoppelungsperiode von 28 Jahren etablirt); und dann dehnte<lb/>
er das Bereich der einer Uebervölkerung entgegenarbeitenden socialen Tendenzen,<lb/>
das Malthus in der Hauptsache auf sittliche Selbstbeherrschung beschränkt<lb/>
hatte, weiter aus. Die betreffende beredte Stelle der wirthschaftlichen Har¬<lb/>
monien verdient wohl hierhergesetzt zu werden:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_164"> &#x201E;Die Hindernisse, welche die vernunftbegabte menschliche Gesellschaft der<lb/>
möglichen Vervielfältigung des Geschlechts entgegensetzt, nehmen noch viele<lb/>
andere Gestalten an, als blos die des Verzichts auf geschlechtliche Freuden,<lb/>
wenn man eine Familie nicht ernähren kann. Was bedeutet denn, beispiels¬<lb/>
weise, die heilige Unwissenheit der Kinder über das Geschlechtsverhältniß, die<lb/>
einzige Unwissenheit ohne Zweifel, die zu heben ein Verbrechen wäre, die Jeder<lb/>
respectirt, und über der die Mutter ängstlich wie über einem Schatze wacht?<lb/>
Was bedeutet die Schamhaftigkeit, welche der Unkunde folgt, jene geheimni߬<lb/>
volle Waffe der Jungfrau, die den Liebenden zugleich bezaubert und in<lb/>
Schranken hält, und die Zeit des unschuldigen Liebesgenusses so hold ver¬<lb/>
längert? Ist es nicht ein wunderbares Ding, wäre es nicht abgeschmackt auf<lb/>
jedem anderen Gebiet, dieser Schleier der anfänglich die Unwissenheit von der<lb/>
Wahrheit trennt, und dann die energischen Hindernisse, welche sich zwischen<lb/>
die Kenntniß und das volle Glück schieben? Was bedeutet die Macht der<lb/>
öffentlichen Meinung, die den Verkehr von Personen verschiedenen Geschlechts<lb/>
untereinander so strengen Regeln unterwirft, die leichteste Uebertretung der¬<lb/>
selben brandmarkt, und den Fall sowohl an der, welche unterlegen ist.<lb/>
als an seinen unglücklichen Früchten lebenslänglich rächt? Was bedeutet jene<lb/>
zarte Ehre, jene strenge Zurückhaltung des weiblichen Geschlechts, welche ge¬<lb/>
meiniglich selbst die bewundern, denen sie nicht als Schranken ihrer Begierde<lb/>
gelten, alle jene Einrichtungen, conventionellen Schwierigkeiten und mannig¬<lb/>
fachen Vorsichtsmaßregeln &#x2014; was bedeuten sie anders als die Beschränkung<lb/>
des Fortpflanzungstriebes durch vernunftmäßige, sittliche, vorbeugende, dem<lb/>
Menschen allein gegebene Mittel?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_165" next="#ID_166"> Zu den Beschränkungsmitteln dieser Art wird man im heutigen Europa<lb/>
dasjenige freilich nicht rechnen, welches in dem übervölkerten chinesischen Reiche<lb/>
auch neben der Auswanderung immer noch an der Tagesordnung ist, die<lb/>
Aussetzung von Kindern. Obgleich die Angaben der Reisenden und Resi¬<lb/>
denten verschieden lauten, scheint es doch gewiß, sagt Röscher, daß siege-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] in Schutz nahm, tadelte doch, daß er Mißverständnissen die Thür geöffnet, indem er seine rein der physiologischen Tendenz entsprechende ideelle Ver¬ doppelungsperiode von 25 Jahren dem realen Beispiel der Vereinigten Staaten entlehnt habe, wo sich die Bevölkerung damals wirklich in diesem Zeitraum ungefähr verdoppelte, versteht sich, ohne die Einwanderung zu rechnen, (wo¬ gegen Wiß jedoch in seinem „Gesetz der Bevölkerung und die Eisenbahnen" von 1867 die Verdoppelungsperiode von 28 Jahren etablirt); und dann dehnte er das Bereich der einer Uebervölkerung entgegenarbeitenden socialen Tendenzen, das Malthus in der Hauptsache auf sittliche Selbstbeherrschung beschränkt hatte, weiter aus. Die betreffende beredte Stelle der wirthschaftlichen Har¬ monien verdient wohl hierhergesetzt zu werden: „Die Hindernisse, welche die vernunftbegabte menschliche Gesellschaft der möglichen Vervielfältigung des Geschlechts entgegensetzt, nehmen noch viele andere Gestalten an, als blos die des Verzichts auf geschlechtliche Freuden, wenn man eine Familie nicht ernähren kann. Was bedeutet denn, beispiels¬ weise, die heilige Unwissenheit der Kinder über das Geschlechtsverhältniß, die einzige Unwissenheit ohne Zweifel, die zu heben ein Verbrechen wäre, die Jeder respectirt, und über der die Mutter ängstlich wie über einem Schatze wacht? Was bedeutet die Schamhaftigkeit, welche der Unkunde folgt, jene geheimni߬ volle Waffe der Jungfrau, die den Liebenden zugleich bezaubert und in Schranken hält, und die Zeit des unschuldigen Liebesgenusses so hold ver¬ längert? Ist es nicht ein wunderbares Ding, wäre es nicht abgeschmackt auf jedem anderen Gebiet, dieser Schleier der anfänglich die Unwissenheit von der Wahrheit trennt, und dann die energischen Hindernisse, welche sich zwischen die Kenntniß und das volle Glück schieben? Was bedeutet die Macht der öffentlichen Meinung, die den Verkehr von Personen verschiedenen Geschlechts untereinander so strengen Regeln unterwirft, die leichteste Uebertretung der¬ selben brandmarkt, und den Fall sowohl an der, welche unterlegen ist. als an seinen unglücklichen Früchten lebenslänglich rächt? Was bedeutet jene zarte Ehre, jene strenge Zurückhaltung des weiblichen Geschlechts, welche ge¬ meiniglich selbst die bewundern, denen sie nicht als Schranken ihrer Begierde gelten, alle jene Einrichtungen, conventionellen Schwierigkeiten und mannig¬ fachen Vorsichtsmaßregeln — was bedeuten sie anders als die Beschränkung des Fortpflanzungstriebes durch vernunftmäßige, sittliche, vorbeugende, dem Menschen allein gegebene Mittel?" Zu den Beschränkungsmitteln dieser Art wird man im heutigen Europa dasjenige freilich nicht rechnen, welches in dem übervölkerten chinesischen Reiche auch neben der Auswanderung immer noch an der Tagesordnung ist, die Aussetzung von Kindern. Obgleich die Angaben der Reisenden und Resi¬ denten verschieden lauten, scheint es doch gewiß, sagt Röscher, daß siege-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/69>, abgerufen am 01.09.2024.