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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Justus Möser z. B. kommt in verschiedenen seiner patriotischen Phantasien
bald ernsthaft, bald scherzweise in ähnlichem Sinne aus die Frage zu sprechen,
die er freilich mehr local nahm, indem seiner Vorliebe für den Bauernstand
auf geschlossenen Höfen nach westfälischer, altsächsischer Art die unabsehbare
Vermehrung des herum wohnenden losen Volks in die Quere kam. Er läßt
z. B. eine ältere Frau an eine junge gegen die damals aufkommende Schutz¬
blatternimpfung schreiben: "Vor dem dankte eine gute Mutter dem lieben
Gott, wenn er redlich mit ihr theilte, und auch wohl noch ein Schäfchen
mehr nahm; man erkannte es als ein sicheres Naturgesetz, daß die Hälfte
der Kinder unter dem zehnten Jahre dahinsterben müßte, und richtete sich
danach mit den Wochenbetten..... Die weise Vorsehung hat die Blattern
gewiß nicht umsonst in die Welt geschickt. Sie haben sich, nebst der mit
ihnen verwandten Seuche, gerade zu der Zeit eingefunden, da die Völker¬
wanderungen, weil alles besetzt war, aufhören mußten; sie sollen also wahr¬
scheinlich dazu dienen, einer Ueberladung der sublunarischen Welt vorzubeugen;
und diesem großen Winke sollte man folgen, und den Aerzten ein Handwerk
verbieten, was am Ende zu nichts dienen wird, als Mann und Frau von
Tisch und Bett zu scheiden." Röscher weist ähnliche Spuren bei Macchiavelli,
Sir Walter Raleigh und anderen älteren Schriftstellern nach. Allein da
waren es doch eben nur versprengte Aeußerungen. Malthus' Verdienst ist
und bleibt es, die Frage in ihrer vollen Bedeutung erfaßt, alles ihm zugäng¬
liche Licht des Gedankens und der Beobachtung darauf gesammelt, seine
Ansicht kräftig-unverblümt ausgesprochen, standhaft und geschickt vertheidigt
zu haben-

Der dadurch erregte anfängliche Schrecken war übrigens groß. Einzelne
der ersten Widersprecher gingen so weit, den Gegensiaud von der wissenschaft¬
lichen Untersuchung ganz ausschließen zu wollen; ähnlich wie jetzt mitunter
Angehörige der sogenannten arbeitenden Classen es schon übel zu nehmen
pflegen, wenn man sie von fern daran erinnert, daß eine Familie zu gründen eine
verantwortliche und deswegen der Herrschaft der Vernunft nicht zu entziehende
Sache sei. Von denen, die sich auf die Erörterung wenigstens unbefangen
einließen, suchten Einige die Bevölkerungszunahme als zu hoch, Andere die
Vorrathszunahme als zu niedrig angeschlagen darzuthun. Der Ausbildung
der Malthus'schen Lehre nahmen sich vorzugsweise französische Gelehrte an.
I. B. Say ersetzte den zu engen Begriff der "Nahrungsmittel", mit deren
Maß die Bevölkerung sich beständig in Gleichgewicht zu setzen trachte, durch
"Existenzmittel", wodurch, wie man leicht sieht, der Spielraum erweitert wird,
den der Fortschritt der Gesammtheit der Lebenden zu einem menschenwür-
digen Dasein sich von neuen Erdenbürgern nicht abstreiten läßt. Bastiat,
der Malthus sonst gegen seine unwissenden socialistischen Lästerer lebhaft


Justus Möser z. B. kommt in verschiedenen seiner patriotischen Phantasien
bald ernsthaft, bald scherzweise in ähnlichem Sinne aus die Frage zu sprechen,
die er freilich mehr local nahm, indem seiner Vorliebe für den Bauernstand
auf geschlossenen Höfen nach westfälischer, altsächsischer Art die unabsehbare
Vermehrung des herum wohnenden losen Volks in die Quere kam. Er läßt
z. B. eine ältere Frau an eine junge gegen die damals aufkommende Schutz¬
blatternimpfung schreiben: „Vor dem dankte eine gute Mutter dem lieben
Gott, wenn er redlich mit ihr theilte, und auch wohl noch ein Schäfchen
mehr nahm; man erkannte es als ein sicheres Naturgesetz, daß die Hälfte
der Kinder unter dem zehnten Jahre dahinsterben müßte, und richtete sich
danach mit den Wochenbetten..... Die weise Vorsehung hat die Blattern
gewiß nicht umsonst in die Welt geschickt. Sie haben sich, nebst der mit
ihnen verwandten Seuche, gerade zu der Zeit eingefunden, da die Völker¬
wanderungen, weil alles besetzt war, aufhören mußten; sie sollen also wahr¬
scheinlich dazu dienen, einer Ueberladung der sublunarischen Welt vorzubeugen;
und diesem großen Winke sollte man folgen, und den Aerzten ein Handwerk
verbieten, was am Ende zu nichts dienen wird, als Mann und Frau von
Tisch und Bett zu scheiden." Röscher weist ähnliche Spuren bei Macchiavelli,
Sir Walter Raleigh und anderen älteren Schriftstellern nach. Allein da
waren es doch eben nur versprengte Aeußerungen. Malthus' Verdienst ist
und bleibt es, die Frage in ihrer vollen Bedeutung erfaßt, alles ihm zugäng¬
liche Licht des Gedankens und der Beobachtung darauf gesammelt, seine
Ansicht kräftig-unverblümt ausgesprochen, standhaft und geschickt vertheidigt
zu haben-

Der dadurch erregte anfängliche Schrecken war übrigens groß. Einzelne
der ersten Widersprecher gingen so weit, den Gegensiaud von der wissenschaft¬
lichen Untersuchung ganz ausschließen zu wollen; ähnlich wie jetzt mitunter
Angehörige der sogenannten arbeitenden Classen es schon übel zu nehmen
pflegen, wenn man sie von fern daran erinnert, daß eine Familie zu gründen eine
verantwortliche und deswegen der Herrschaft der Vernunft nicht zu entziehende
Sache sei. Von denen, die sich auf die Erörterung wenigstens unbefangen
einließen, suchten Einige die Bevölkerungszunahme als zu hoch, Andere die
Vorrathszunahme als zu niedrig angeschlagen darzuthun. Der Ausbildung
der Malthus'schen Lehre nahmen sich vorzugsweise französische Gelehrte an.
I. B. Say ersetzte den zu engen Begriff der „Nahrungsmittel", mit deren
Maß die Bevölkerung sich beständig in Gleichgewicht zu setzen trachte, durch
„Existenzmittel", wodurch, wie man leicht sieht, der Spielraum erweitert wird,
den der Fortschritt der Gesammtheit der Lebenden zu einem menschenwür-
digen Dasein sich von neuen Erdenbürgern nicht abstreiten läßt. Bastiat,
der Malthus sonst gegen seine unwissenden socialistischen Lästerer lebhaft


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[0068] Justus Möser z. B. kommt in verschiedenen seiner patriotischen Phantasien bald ernsthaft, bald scherzweise in ähnlichem Sinne aus die Frage zu sprechen, die er freilich mehr local nahm, indem seiner Vorliebe für den Bauernstand auf geschlossenen Höfen nach westfälischer, altsächsischer Art die unabsehbare Vermehrung des herum wohnenden losen Volks in die Quere kam. Er läßt z. B. eine ältere Frau an eine junge gegen die damals aufkommende Schutz¬ blatternimpfung schreiben: „Vor dem dankte eine gute Mutter dem lieben Gott, wenn er redlich mit ihr theilte, und auch wohl noch ein Schäfchen mehr nahm; man erkannte es als ein sicheres Naturgesetz, daß die Hälfte der Kinder unter dem zehnten Jahre dahinsterben müßte, und richtete sich danach mit den Wochenbetten..... Die weise Vorsehung hat die Blattern gewiß nicht umsonst in die Welt geschickt. Sie haben sich, nebst der mit ihnen verwandten Seuche, gerade zu der Zeit eingefunden, da die Völker¬ wanderungen, weil alles besetzt war, aufhören mußten; sie sollen also wahr¬ scheinlich dazu dienen, einer Ueberladung der sublunarischen Welt vorzubeugen; und diesem großen Winke sollte man folgen, und den Aerzten ein Handwerk verbieten, was am Ende zu nichts dienen wird, als Mann und Frau von Tisch und Bett zu scheiden." Röscher weist ähnliche Spuren bei Macchiavelli, Sir Walter Raleigh und anderen älteren Schriftstellern nach. Allein da waren es doch eben nur versprengte Aeußerungen. Malthus' Verdienst ist und bleibt es, die Frage in ihrer vollen Bedeutung erfaßt, alles ihm zugäng¬ liche Licht des Gedankens und der Beobachtung darauf gesammelt, seine Ansicht kräftig-unverblümt ausgesprochen, standhaft und geschickt vertheidigt zu haben- Der dadurch erregte anfängliche Schrecken war übrigens groß. Einzelne der ersten Widersprecher gingen so weit, den Gegensiaud von der wissenschaft¬ lichen Untersuchung ganz ausschließen zu wollen; ähnlich wie jetzt mitunter Angehörige der sogenannten arbeitenden Classen es schon übel zu nehmen pflegen, wenn man sie von fern daran erinnert, daß eine Familie zu gründen eine verantwortliche und deswegen der Herrschaft der Vernunft nicht zu entziehende Sache sei. Von denen, die sich auf die Erörterung wenigstens unbefangen einließen, suchten Einige die Bevölkerungszunahme als zu hoch, Andere die Vorrathszunahme als zu niedrig angeschlagen darzuthun. Der Ausbildung der Malthus'schen Lehre nahmen sich vorzugsweise französische Gelehrte an. I. B. Say ersetzte den zu engen Begriff der „Nahrungsmittel", mit deren Maß die Bevölkerung sich beständig in Gleichgewicht zu setzen trachte, durch „Existenzmittel", wodurch, wie man leicht sieht, der Spielraum erweitert wird, den der Fortschritt der Gesammtheit der Lebenden zu einem menschenwür- digen Dasein sich von neuen Erdenbürgern nicht abstreiten läßt. Bastiat, der Malthus sonst gegen seine unwissenden socialistischen Lästerer lebhaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/68>, abgerufen am 27.07.2024.