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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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zahl zum Mittelpunkt eines förmlichen Systems gemacht wurde. Derjenige
Gelehrte hingegen, von welchem zuerst eine durchschlagende Reaction wider
diese Anschauungsweise ausging, war ein Engländer, Malthus. Dies ist
wichtig zu beachten wegen des inneren Zusammenhangs, in welchem solche
neue Lehren mit thatsächlichen Vorgängen und Erscheinungen zu stehen
Pflegen. Deutschland hatte sich gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts
noch lange nicht vollständig von der Entvölkerung erholt, welche es durch
den dreißigjährigen Krieg erlitten hatte; die Eroberungszüge Ludwigs
des Vierzehnten und andere Veranlassungen hatten dafür gesorgt, daß die
halbgeschlossene Wunde immer wieder aufgerissen wurde. Dazu kam. daß die
Auswanderung in die Neue Welt gerade anfing, das Werk der Kriege in
Bezug auf Abnahme der inländischen Menschenzahl zu vervollständigen. Jene
fühllose Gleichgiltigkeit aber, mit welcher die Inhaber der Gewalt in früheren,
roheren Zeiten auf die Leiden der dienenden Stände geblickt hatten, machte
bei Fürsten und Ministern nachgerade höheren Gesinnungen Platz, besserer
Berechnung ihres Vortheils und Aneignung der Ideen von Gemeinwohl,
von Menschenwürde, von einem Staat, der nicht identisch mit der wechseln¬
den Gestalt auf seiner obersten Spitze war. Diese Idee in ihrem Zusammen¬
stoß mit der fortdauernden Wirkung volkverdünnender mörderischer Ursachen
erzeugten die Vorstellung, daß ein Land nicht leicht zu bevölkert sein könne,
eine Hauptaufgabe der Regierung daher -- die man sich zu jener Zeit noch
ziemlich alleinthätig und allmächtig dachte -- in der Beförderung des Zu¬
wachses an Seelen zu finden sei. Demgemäß wurden vermöge der mannig¬
faltigsten Vorkehrungen Prämien auf frühe Heirath und zahlreiche Nach¬
kommenschaft -- wie unter Ludwig dem Vierzehnten in Frankreich, und Strafen
auf das Beharren im Hagestolzenstande -- wie schon im Alterthum und
Mittelalter, gesetzt, von denen beiden sich einzelne bis auf unsere Tage herab
erhalten haben, wiewohl jene Süßmilch - Sonnenfels'sche Lehre, die Quelle
solcher Erlasse, längst aufgehört hat, die Geister zu beherrschen.

Ganz andere thatsächliche Zustände schwebten vor Malthus' Blick, als
er im Jahre 1798 seine berühmte Bevölkerungslehre zum ersten Male in
ebenso summarischer als drastischer Form veröffentlichte. Seit zweihundert
Jahren hatte kein der Rede werther Krieg, seit hundert Jahren keine Revo¬
lution Englands inneren Frieden unterbrochen: die Bevölkerung hatte sich
ohne große gewaltsame Decimirungen vermehren können. Vollends auf der
Nachbarinsel Irland wirkte die Einführung des Kartoffelbaues mit der natür¬
lichen Leichtlebigkeit ihrer celtisch-katholischen Bewohner zusammen, um eine
unerhörte Zunahme der Volkszahl herbeizuführen, und noch eröffnete keine
Massenwanderung über den Ocean hier einen heilsamen Abzug. Es war zu-
gleich die Zeit der ersten erstaunlichen Entfaltung der modernen Industrie.


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zahl zum Mittelpunkt eines förmlichen Systems gemacht wurde. Derjenige
Gelehrte hingegen, von welchem zuerst eine durchschlagende Reaction wider
diese Anschauungsweise ausging, war ein Engländer, Malthus. Dies ist
wichtig zu beachten wegen des inneren Zusammenhangs, in welchem solche
neue Lehren mit thatsächlichen Vorgängen und Erscheinungen zu stehen
Pflegen. Deutschland hatte sich gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts
noch lange nicht vollständig von der Entvölkerung erholt, welche es durch
den dreißigjährigen Krieg erlitten hatte; die Eroberungszüge Ludwigs
des Vierzehnten und andere Veranlassungen hatten dafür gesorgt, daß die
halbgeschlossene Wunde immer wieder aufgerissen wurde. Dazu kam. daß die
Auswanderung in die Neue Welt gerade anfing, das Werk der Kriege in
Bezug auf Abnahme der inländischen Menschenzahl zu vervollständigen. Jene
fühllose Gleichgiltigkeit aber, mit welcher die Inhaber der Gewalt in früheren,
roheren Zeiten auf die Leiden der dienenden Stände geblickt hatten, machte
bei Fürsten und Ministern nachgerade höheren Gesinnungen Platz, besserer
Berechnung ihres Vortheils und Aneignung der Ideen von Gemeinwohl,
von Menschenwürde, von einem Staat, der nicht identisch mit der wechseln¬
den Gestalt auf seiner obersten Spitze war. Diese Idee in ihrem Zusammen¬
stoß mit der fortdauernden Wirkung volkverdünnender mörderischer Ursachen
erzeugten die Vorstellung, daß ein Land nicht leicht zu bevölkert sein könne,
eine Hauptaufgabe der Regierung daher — die man sich zu jener Zeit noch
ziemlich alleinthätig und allmächtig dachte — in der Beförderung des Zu¬
wachses an Seelen zu finden sei. Demgemäß wurden vermöge der mannig¬
faltigsten Vorkehrungen Prämien auf frühe Heirath und zahlreiche Nach¬
kommenschaft — wie unter Ludwig dem Vierzehnten in Frankreich, und Strafen
auf das Beharren im Hagestolzenstande — wie schon im Alterthum und
Mittelalter, gesetzt, von denen beiden sich einzelne bis auf unsere Tage herab
erhalten haben, wiewohl jene Süßmilch - Sonnenfels'sche Lehre, die Quelle
solcher Erlasse, längst aufgehört hat, die Geister zu beherrschen.

Ganz andere thatsächliche Zustände schwebten vor Malthus' Blick, als
er im Jahre 1798 seine berühmte Bevölkerungslehre zum ersten Male in
ebenso summarischer als drastischer Form veröffentlichte. Seit zweihundert
Jahren hatte kein der Rede werther Krieg, seit hundert Jahren keine Revo¬
lution Englands inneren Frieden unterbrochen: die Bevölkerung hatte sich
ohne große gewaltsame Decimirungen vermehren können. Vollends auf der
Nachbarinsel Irland wirkte die Einführung des Kartoffelbaues mit der natür¬
lichen Leichtlebigkeit ihrer celtisch-katholischen Bewohner zusammen, um eine
unerhörte Zunahme der Volkszahl herbeizuführen, und noch eröffnete keine
Massenwanderung über den Ocean hier einen heilsamen Abzug. Es war zu-
gleich die Zeit der ersten erstaunlichen Entfaltung der modernen Industrie.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/65>, abgerufen am 27.07.2024.