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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Dresdener das trübselige Aussehen eines kranken Kindes hat. Was in aller
Welt hätte einen Copisten bestimmen können, aus dem lächelnden Christkinde
des Originales ein krank aussehendes Kind zu machen? Wornum will in
dem veränderten Ausdrucke nur ein Ungeschick des Copisten sehen; diese Aus¬
flucht aber ist selbst ungeschickt. Der verschiedene Ausdruck hängt in der
Hauptsache daran, daß beim Darmstädter Kinde die Mundwinkel leicht herauf¬
gezogen, beim Dresdener herabgezogen sind; die Richtung der Mundwinkel
aber kann kein Schüler verfehlen und verwechseln, geschweige ein Meister, als
welcher sich der Künstler des Dresdener Bildes sonst beweist. Es muß eine
bestimmte Absicht der Veränderung des Ausdruckes vorgelegen haben, eine
solche ist für einen Copisten schlechterdings nicht, hingegen leicht für den ur¬
sprünglichen Meister selbst zu finden, unter Voraussetzung einer auch sonst
wahrscheinlichen Deutungsansicht, die aber in unserem Falle nicht blos pre¬
kärer Weise angenommen zu werden braucht, sondern durch den veränderten
Ausdruck des Kindes zugleich mit bewiesen wird, sofern sich gar keine andere
Erklärung davon geben läßt, als unter solidarischer Voraussetzung der
Aechtheit und dieser Deutungsansicht zugleich. Wenn das Bild ein Votiv-
bild sür die Heilung eines kranken Kindes durch die Madonna ist, und in
dem Kinde in ihren Armen dieses kranke Kind entweder schlechthin oder auch,
nach Holbeins sonst erwiesener Neigung zu Doppelrollen, das Christkind mit
Zügen des kranken Kindes dargestellt ist, wozwischen ich die Wahl lasse, so
konnte Holbein sehr wohl einmal den Ausdruck der beglückenden heilenden
Pflege der Madonna in dem Lächeln des übrigens noch gedrückt genug aus¬
sehenden Kindes, ein zweites Mal den Ausdruck der Kränklichkeit des Kindes
gegenüber dem lachenden Ausdruck des unten als geheilt entlassenen Kindes
bevorzugen. Beides hängt in derselben Idee zusammen, und da der Künstler
nicht beides zugleich in demselben Bilde darstellen konnte, ließ er beide Bilder
sich dazu ergänzen; wogegen, wenn man, sei es die Aechtheit des Dresdener
Bildes oder jene Deutungsansicht antasten will, keine Rechenschaft von der Ver¬
änderung des lächelnden Christkindes in ein krankes Kind überhaupt zu geben ist.

Wie nun stellen sich die Gegner der Aechtheit des Dresdener Bildes
gegen dieses Argument dafür? Da sie es nicht zu widerlegen wissen, so
ignoriren sie es, und machen nur das Lächeln des Darmstädter Kindes
für sich gegen die Deutung auf ein krankes Kind geltend, indeß dieses
Lächeln zusammen mit dem krankhaften Ausdrucke des Dresdener Kindes
den schönsten Beweis dafür liefert. Und man sollte doch einen Beweis,
der sicher "us zwei Füßen steht, nicht damit widerlegen wollen, daß man
den einen beider Füße unterschlägt. Uebrigens gibt es noch genug andere
Gründe für jene Deutung, wovon die bindendsten in dem Verhältniß des
unteren nackten Knäblein zum oberen und in dem Dasein einer Holbein-


Grenzboten II. 1870. 8

Dresdener das trübselige Aussehen eines kranken Kindes hat. Was in aller
Welt hätte einen Copisten bestimmen können, aus dem lächelnden Christkinde
des Originales ein krank aussehendes Kind zu machen? Wornum will in
dem veränderten Ausdrucke nur ein Ungeschick des Copisten sehen; diese Aus¬
flucht aber ist selbst ungeschickt. Der verschiedene Ausdruck hängt in der
Hauptsache daran, daß beim Darmstädter Kinde die Mundwinkel leicht herauf¬
gezogen, beim Dresdener herabgezogen sind; die Richtung der Mundwinkel
aber kann kein Schüler verfehlen und verwechseln, geschweige ein Meister, als
welcher sich der Künstler des Dresdener Bildes sonst beweist. Es muß eine
bestimmte Absicht der Veränderung des Ausdruckes vorgelegen haben, eine
solche ist für einen Copisten schlechterdings nicht, hingegen leicht für den ur¬
sprünglichen Meister selbst zu finden, unter Voraussetzung einer auch sonst
wahrscheinlichen Deutungsansicht, die aber in unserem Falle nicht blos pre¬
kärer Weise angenommen zu werden braucht, sondern durch den veränderten
Ausdruck des Kindes zugleich mit bewiesen wird, sofern sich gar keine andere
Erklärung davon geben läßt, als unter solidarischer Voraussetzung der
Aechtheit und dieser Deutungsansicht zugleich. Wenn das Bild ein Votiv-
bild sür die Heilung eines kranken Kindes durch die Madonna ist, und in
dem Kinde in ihren Armen dieses kranke Kind entweder schlechthin oder auch,
nach Holbeins sonst erwiesener Neigung zu Doppelrollen, das Christkind mit
Zügen des kranken Kindes dargestellt ist, wozwischen ich die Wahl lasse, so
konnte Holbein sehr wohl einmal den Ausdruck der beglückenden heilenden
Pflege der Madonna in dem Lächeln des übrigens noch gedrückt genug aus¬
sehenden Kindes, ein zweites Mal den Ausdruck der Kränklichkeit des Kindes
gegenüber dem lachenden Ausdruck des unten als geheilt entlassenen Kindes
bevorzugen. Beides hängt in derselben Idee zusammen, und da der Künstler
nicht beides zugleich in demselben Bilde darstellen konnte, ließ er beide Bilder
sich dazu ergänzen; wogegen, wenn man, sei es die Aechtheit des Dresdener
Bildes oder jene Deutungsansicht antasten will, keine Rechenschaft von der Ver¬
änderung des lächelnden Christkindes in ein krankes Kind überhaupt zu geben ist.

Wie nun stellen sich die Gegner der Aechtheit des Dresdener Bildes
gegen dieses Argument dafür? Da sie es nicht zu widerlegen wissen, so
ignoriren sie es, und machen nur das Lächeln des Darmstädter Kindes
für sich gegen die Deutung auf ein krankes Kind geltend, indeß dieses
Lächeln zusammen mit dem krankhaften Ausdrucke des Dresdener Kindes
den schönsten Beweis dafür liefert. Und man sollte doch einen Beweis,
der sicher «us zwei Füßen steht, nicht damit widerlegen wollen, daß man
den einen beider Füße unterschlägt. Uebrigens gibt es noch genug andere
Gründe für jene Deutung, wovon die bindendsten in dem Verhältniß des
unteren nackten Knäblein zum oberen und in dem Dasein einer Holbein-


Grenzboten II. 1870. 8
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[0063] Dresdener das trübselige Aussehen eines kranken Kindes hat. Was in aller Welt hätte einen Copisten bestimmen können, aus dem lächelnden Christkinde des Originales ein krank aussehendes Kind zu machen? Wornum will in dem veränderten Ausdrucke nur ein Ungeschick des Copisten sehen; diese Aus¬ flucht aber ist selbst ungeschickt. Der verschiedene Ausdruck hängt in der Hauptsache daran, daß beim Darmstädter Kinde die Mundwinkel leicht herauf¬ gezogen, beim Dresdener herabgezogen sind; die Richtung der Mundwinkel aber kann kein Schüler verfehlen und verwechseln, geschweige ein Meister, als welcher sich der Künstler des Dresdener Bildes sonst beweist. Es muß eine bestimmte Absicht der Veränderung des Ausdruckes vorgelegen haben, eine solche ist für einen Copisten schlechterdings nicht, hingegen leicht für den ur¬ sprünglichen Meister selbst zu finden, unter Voraussetzung einer auch sonst wahrscheinlichen Deutungsansicht, die aber in unserem Falle nicht blos pre¬ kärer Weise angenommen zu werden braucht, sondern durch den veränderten Ausdruck des Kindes zugleich mit bewiesen wird, sofern sich gar keine andere Erklärung davon geben läßt, als unter solidarischer Voraussetzung der Aechtheit und dieser Deutungsansicht zugleich. Wenn das Bild ein Votiv- bild sür die Heilung eines kranken Kindes durch die Madonna ist, und in dem Kinde in ihren Armen dieses kranke Kind entweder schlechthin oder auch, nach Holbeins sonst erwiesener Neigung zu Doppelrollen, das Christkind mit Zügen des kranken Kindes dargestellt ist, wozwischen ich die Wahl lasse, so konnte Holbein sehr wohl einmal den Ausdruck der beglückenden heilenden Pflege der Madonna in dem Lächeln des übrigens noch gedrückt genug aus¬ sehenden Kindes, ein zweites Mal den Ausdruck der Kränklichkeit des Kindes gegenüber dem lachenden Ausdruck des unten als geheilt entlassenen Kindes bevorzugen. Beides hängt in derselben Idee zusammen, und da der Künstler nicht beides zugleich in demselben Bilde darstellen konnte, ließ er beide Bilder sich dazu ergänzen; wogegen, wenn man, sei es die Aechtheit des Dresdener Bildes oder jene Deutungsansicht antasten will, keine Rechenschaft von der Ver¬ änderung des lächelnden Christkindes in ein krankes Kind überhaupt zu geben ist. Wie nun stellen sich die Gegner der Aechtheit des Dresdener Bildes gegen dieses Argument dafür? Da sie es nicht zu widerlegen wissen, so ignoriren sie es, und machen nur das Lächeln des Darmstädter Kindes für sich gegen die Deutung auf ein krankes Kind geltend, indeß dieses Lächeln zusammen mit dem krankhaften Ausdrucke des Dresdener Kindes den schönsten Beweis dafür liefert. Und man sollte doch einen Beweis, der sicher «us zwei Füßen steht, nicht damit widerlegen wollen, daß man den einen beider Füße unterschlägt. Uebrigens gibt es noch genug andere Gründe für jene Deutung, wovon die bindendsten in dem Verhältniß des unteren nackten Knäblein zum oberen und in dem Dasein einer Holbein- Grenzboten II. 1870. 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/63>, abgerufen am 27.07.2024.