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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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der einfache Strafgefangene, der nicht zu Zwangsarbeit als Strafschärfung
mitverurtheilt ist.

Dies war es denn auch, was eine ziemlich heftige und ausgebreitete
populäre Opposition gegen den Werkhauszwang erweckte. Man nannte die
Aufnahme ins Werkhaus Einkerkerung und die Werkhäuser Bastillen. Die
neuen Armencommissäre, welche ihre Einführung in die Armenpflege des
Reichs zu betreiben und zu überwachen hatten, kämpften Jahrzehnte lang mit
einer hartnäckigen öffentlichen Mißliebigkeit. In den rein^ländlichen Strichen
ging es noch eher. Aber schlimm war es. wenn in Fabrikdistricten irgend
eine Geschäftsstörung Hunderte von sich selbst erhaltenden, männlich fühlen¬
den Arbeitern aufs Pflaster warf. Sollte und konnte man auch Leute dieses
Schlags, die nicht die Spur von Abneigung gegen Arbeit und Selbstverant¬
wortlichkeit hatten, der Werkhausprobe unterwerfen -- sie nöthigen; die
Gaben, welche sie nothgedrungen für sich und die Ihrigen vorübergehend
annehmen mußten, in der herabwürdigenden Form des Eintritts in ein
Zwangsarbeitshaus zu empfangen?

Sir George Nicholls weist zur Entkräftung dieses schweren Einwandes
gegen die Universalität seiner socialen Medicin auf Nottingham und Stoke-
upon-Trent hin, wo bald nach dem Erlaß des neuen Armengesetzes ein
außerordentlicher Nothstand erfolgreich bekämpft worden sei. Aber was diese
Vorgänge gerade unbewiesen lassen, ist, daß die Werkhaus-Probe in derarti¬
gen Fällen überhaupt noch ernstlich anwendbar sei. Die Räume des Werk¬
hauses werden dann nämlich allemal sofort unzureichend. Neue zu improvi-
siren steht in der Regel ganz außer Frage. Man greift folglich zu Aus¬
kunftsmitteln, wie Arbeiten im Freien oder in nicht gleicherweise abgeschlossenen
Räumlichkeiten, die man so einzurichten Sorge trägt, daß sie ähnlich wieder
Werkhauszwang etwas Abschreckendes behalten und in die Concurrenz der
reien Gerverbsthätigkeit nicht störend eingreifen. So wird gewissermaßen
ein zweiter Prüfstein der Bedürftigkeit zur Aushilfe für den ersten hinzu¬
gefügt. Allein was ergibt sich hieraus anderes, als daß es nicht auf die
Aeußerlichkeit des Werkhauses ankommt, sondern auf die Strenge und Zu¬
verlässigkeit der Prüfung in jedem einzelnen Falle von Unterstützungsanspruch?
Und ergibt sich nicht daraus gleichzeitig noch etwas mehr, nämlich daß der
Werkhauszwang gerade in denjenigen ordentlichen Verarmungsfällen, welche
die praktisch wichtigeren sind, nämlich in denen, die innerhalb dichtgedrängter
städtischer oder industrieller Bevölkerungen vorkommen, und außerdem in
außerordenilichen Nothzufländen, wie sie auch dem wohlhabendsten Lande
nicht erspart bleiben, im Stiche läßt?

Unter den Arbeiten, welche zur gelegentlichen Ergänzung der Werkhaus
probe in Anwendung gekommen sind, figurirt -- wie wir hier episodisch ein-


der einfache Strafgefangene, der nicht zu Zwangsarbeit als Strafschärfung
mitverurtheilt ist.

Dies war es denn auch, was eine ziemlich heftige und ausgebreitete
populäre Opposition gegen den Werkhauszwang erweckte. Man nannte die
Aufnahme ins Werkhaus Einkerkerung und die Werkhäuser Bastillen. Die
neuen Armencommissäre, welche ihre Einführung in die Armenpflege des
Reichs zu betreiben und zu überwachen hatten, kämpften Jahrzehnte lang mit
einer hartnäckigen öffentlichen Mißliebigkeit. In den rein^ländlichen Strichen
ging es noch eher. Aber schlimm war es. wenn in Fabrikdistricten irgend
eine Geschäftsstörung Hunderte von sich selbst erhaltenden, männlich fühlen¬
den Arbeitern aufs Pflaster warf. Sollte und konnte man auch Leute dieses
Schlags, die nicht die Spur von Abneigung gegen Arbeit und Selbstverant¬
wortlichkeit hatten, der Werkhausprobe unterwerfen — sie nöthigen; die
Gaben, welche sie nothgedrungen für sich und die Ihrigen vorübergehend
annehmen mußten, in der herabwürdigenden Form des Eintritts in ein
Zwangsarbeitshaus zu empfangen?

Sir George Nicholls weist zur Entkräftung dieses schweren Einwandes
gegen die Universalität seiner socialen Medicin auf Nottingham und Stoke-
upon-Trent hin, wo bald nach dem Erlaß des neuen Armengesetzes ein
außerordentlicher Nothstand erfolgreich bekämpft worden sei. Aber was diese
Vorgänge gerade unbewiesen lassen, ist, daß die Werkhaus-Probe in derarti¬
gen Fällen überhaupt noch ernstlich anwendbar sei. Die Räume des Werk¬
hauses werden dann nämlich allemal sofort unzureichend. Neue zu improvi-
siren steht in der Regel ganz außer Frage. Man greift folglich zu Aus¬
kunftsmitteln, wie Arbeiten im Freien oder in nicht gleicherweise abgeschlossenen
Räumlichkeiten, die man so einzurichten Sorge trägt, daß sie ähnlich wieder
Werkhauszwang etwas Abschreckendes behalten und in die Concurrenz der
reien Gerverbsthätigkeit nicht störend eingreifen. So wird gewissermaßen
ein zweiter Prüfstein der Bedürftigkeit zur Aushilfe für den ersten hinzu¬
gefügt. Allein was ergibt sich hieraus anderes, als daß es nicht auf die
Aeußerlichkeit des Werkhauses ankommt, sondern auf die Strenge und Zu¬
verlässigkeit der Prüfung in jedem einzelnen Falle von Unterstützungsanspruch?
Und ergibt sich nicht daraus gleichzeitig noch etwas mehr, nämlich daß der
Werkhauszwang gerade in denjenigen ordentlichen Verarmungsfällen, welche
die praktisch wichtigeren sind, nämlich in denen, die innerhalb dichtgedrängter
städtischer oder industrieller Bevölkerungen vorkommen, und außerdem in
außerordenilichen Nothzufländen, wie sie auch dem wohlhabendsten Lande
nicht erspart bleiben, im Stiche läßt?

Unter den Arbeiten, welche zur gelegentlichen Ergänzung der Werkhaus
probe in Anwendung gekommen sind, figurirt — wie wir hier episodisch ein-


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[0507] der einfache Strafgefangene, der nicht zu Zwangsarbeit als Strafschärfung mitverurtheilt ist. Dies war es denn auch, was eine ziemlich heftige und ausgebreitete populäre Opposition gegen den Werkhauszwang erweckte. Man nannte die Aufnahme ins Werkhaus Einkerkerung und die Werkhäuser Bastillen. Die neuen Armencommissäre, welche ihre Einführung in die Armenpflege des Reichs zu betreiben und zu überwachen hatten, kämpften Jahrzehnte lang mit einer hartnäckigen öffentlichen Mißliebigkeit. In den rein^ländlichen Strichen ging es noch eher. Aber schlimm war es. wenn in Fabrikdistricten irgend eine Geschäftsstörung Hunderte von sich selbst erhaltenden, männlich fühlen¬ den Arbeitern aufs Pflaster warf. Sollte und konnte man auch Leute dieses Schlags, die nicht die Spur von Abneigung gegen Arbeit und Selbstverant¬ wortlichkeit hatten, der Werkhausprobe unterwerfen — sie nöthigen; die Gaben, welche sie nothgedrungen für sich und die Ihrigen vorübergehend annehmen mußten, in der herabwürdigenden Form des Eintritts in ein Zwangsarbeitshaus zu empfangen? Sir George Nicholls weist zur Entkräftung dieses schweren Einwandes gegen die Universalität seiner socialen Medicin auf Nottingham und Stoke- upon-Trent hin, wo bald nach dem Erlaß des neuen Armengesetzes ein außerordentlicher Nothstand erfolgreich bekämpft worden sei. Aber was diese Vorgänge gerade unbewiesen lassen, ist, daß die Werkhaus-Probe in derarti¬ gen Fällen überhaupt noch ernstlich anwendbar sei. Die Räume des Werk¬ hauses werden dann nämlich allemal sofort unzureichend. Neue zu improvi- siren steht in der Regel ganz außer Frage. Man greift folglich zu Aus¬ kunftsmitteln, wie Arbeiten im Freien oder in nicht gleicherweise abgeschlossenen Räumlichkeiten, die man so einzurichten Sorge trägt, daß sie ähnlich wieder Werkhauszwang etwas Abschreckendes behalten und in die Concurrenz der reien Gerverbsthätigkeit nicht störend eingreifen. So wird gewissermaßen ein zweiter Prüfstein der Bedürftigkeit zur Aushilfe für den ersten hinzu¬ gefügt. Allein was ergibt sich hieraus anderes, als daß es nicht auf die Aeußerlichkeit des Werkhauses ankommt, sondern auf die Strenge und Zu¬ verlässigkeit der Prüfung in jedem einzelnen Falle von Unterstützungsanspruch? Und ergibt sich nicht daraus gleichzeitig noch etwas mehr, nämlich daß der Werkhauszwang gerade in denjenigen ordentlichen Verarmungsfällen, welche die praktisch wichtigeren sind, nämlich in denen, die innerhalb dichtgedrängter städtischer oder industrieller Bevölkerungen vorkommen, und außerdem in außerordenilichen Nothzufländen, wie sie auch dem wohlhabendsten Lande nicht erspart bleiben, im Stiche läßt? Unter den Arbeiten, welche zur gelegentlichen Ergänzung der Werkhaus probe in Anwendung gekommen sind, figurirt — wie wir hier episodisch ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/507>, abgerufen am 27.07.2024.