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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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"war für den Parlamentsausschuß zur Untersuchung des reformbedürftigen
englischen Armenrechts (1833 -- 1834) von unendlichem Werthe, da es ein
einfaches Princip an die Hand gab, das sich anderswo ebenso wirksam zu
erweisen verhieß, wie in diesen beiden Kirchspielen. Es besteht darin, die
Kirchspiels-Almosen so zu regeln, daß sie nur genommen werden im Falle
wirklicher Noth, während wirkliche Noth zugleich immer gewiß ist, die ent¬
sprechende Abhilfe zu finden. Ein wohleingerichtetes Werkhaus entspricht
diesen Bedingungen. Kein Mensch von wirklicher Bedürftigkeit wird die
darin angebotene Hilfe verschmähen, während ein Mensch, der sich noch selbst
oder anderweitig zu helfen vermag, sich den Beschränkungen nicht unter¬
werfen wird, von welchen der Aufenthalt im Werkhaus abhängt. Werkhaus-
Unterstützung ist abschreckender als Arbeit für Leute, die noch arbeiten können,
während sie eine Zuflucht für solche ist, die gleichzeitig unvermögend und
arbeitsunfähig sind."

Die Reform von 1834 adoptirte also das Werkhaus nach dem Vor¬
bilde von Southwell und Bingham. Aufnahme ins Werkhaus sollte für
alle arbeitsfähigen Armen die Probe ihrer wirklichen Hilfsbedürftigkeit sein,
und nach der ursprünglichen Intention jede Unterstützung Arbeitsfähiger
außerhalb des Werkhauses schon mit dem 1. Juli aufhören. Aber so heiß
wurde die Suppe denn doch nicht gegessen, ja schon nicht einmal auf den
Tisch gebracht: das Gesetz überließ die frühere oder spätere, mehr oder we¬
niger allgemeine Durchführung der Werkhaus-Probe den in ihm eingesetzten
Reichs-Armen-Commissären, und diese mußten am Ende des zweiten Jahres
ihrer Wirksamkeit constatiren, daß sie erst in 64 Armenverbänden durchgesetzt
sei und auch da nur für Männer.

Hatte es doch zunächst schon seine Schwierigkeiten, Werkhäuser der re"
formirter Art nur überall erst herzustellen! Kaufen oder miethen ging nicht
allenthalben an, wo noch kein taugliches Gebäude vorhanden war, und
bauen kostete Zeit. Das eigentliche moderne Werkhaus sollte sich von dem
alten Armenhaus hauptsächlich unterscheiden durch strenge Abgeschlossenheit
gegen die Außenwelt, Trennung der Geschlechter, Sonderung der verschiede¬
nen Classen von Armen wie Greise, Kinder, Stumpfsinnige, Taubstumme,
Irre, Arbeitsfähige u. f. f. Wer eintrat, unterwarf sich einer gelinden Ge¬
fangenschaft, die sich von wirklicher Straf- oder Untersuchungshaft vorzugs¬
weise nur dadurch unterschied, daß man sie jeden Augenblick ungehindert ver¬
lassen konnte. Sonst war das beliebige Ein- und Ausgehen, die Annahme
von Besuchern, Abweichungen von einer ins Einzelnste gehenden Hausord¬
nung ebenso gut verboten wie in irgend einem Gefängniß; ja in der freien
Verfügung über seine Zeit war der Werkhäusler noch mehr beschränkt als


„war für den Parlamentsausschuß zur Untersuchung des reformbedürftigen
englischen Armenrechts (1833 — 1834) von unendlichem Werthe, da es ein
einfaches Princip an die Hand gab, das sich anderswo ebenso wirksam zu
erweisen verhieß, wie in diesen beiden Kirchspielen. Es besteht darin, die
Kirchspiels-Almosen so zu regeln, daß sie nur genommen werden im Falle
wirklicher Noth, während wirkliche Noth zugleich immer gewiß ist, die ent¬
sprechende Abhilfe zu finden. Ein wohleingerichtetes Werkhaus entspricht
diesen Bedingungen. Kein Mensch von wirklicher Bedürftigkeit wird die
darin angebotene Hilfe verschmähen, während ein Mensch, der sich noch selbst
oder anderweitig zu helfen vermag, sich den Beschränkungen nicht unter¬
werfen wird, von welchen der Aufenthalt im Werkhaus abhängt. Werkhaus-
Unterstützung ist abschreckender als Arbeit für Leute, die noch arbeiten können,
während sie eine Zuflucht für solche ist, die gleichzeitig unvermögend und
arbeitsunfähig sind."

Die Reform von 1834 adoptirte also das Werkhaus nach dem Vor¬
bilde von Southwell und Bingham. Aufnahme ins Werkhaus sollte für
alle arbeitsfähigen Armen die Probe ihrer wirklichen Hilfsbedürftigkeit sein,
und nach der ursprünglichen Intention jede Unterstützung Arbeitsfähiger
außerhalb des Werkhauses schon mit dem 1. Juli aufhören. Aber so heiß
wurde die Suppe denn doch nicht gegessen, ja schon nicht einmal auf den
Tisch gebracht: das Gesetz überließ die frühere oder spätere, mehr oder we¬
niger allgemeine Durchführung der Werkhaus-Probe den in ihm eingesetzten
Reichs-Armen-Commissären, und diese mußten am Ende des zweiten Jahres
ihrer Wirksamkeit constatiren, daß sie erst in 64 Armenverbänden durchgesetzt
sei und auch da nur für Männer.

Hatte es doch zunächst schon seine Schwierigkeiten, Werkhäuser der re«
formirter Art nur überall erst herzustellen! Kaufen oder miethen ging nicht
allenthalben an, wo noch kein taugliches Gebäude vorhanden war, und
bauen kostete Zeit. Das eigentliche moderne Werkhaus sollte sich von dem
alten Armenhaus hauptsächlich unterscheiden durch strenge Abgeschlossenheit
gegen die Außenwelt, Trennung der Geschlechter, Sonderung der verschiede¬
nen Classen von Armen wie Greise, Kinder, Stumpfsinnige, Taubstumme,
Irre, Arbeitsfähige u. f. f. Wer eintrat, unterwarf sich einer gelinden Ge¬
fangenschaft, die sich von wirklicher Straf- oder Untersuchungshaft vorzugs¬
weise nur dadurch unterschied, daß man sie jeden Augenblick ungehindert ver¬
lassen konnte. Sonst war das beliebige Ein- und Ausgehen, die Annahme
von Besuchern, Abweichungen von einer ins Einzelnste gehenden Hausord¬
nung ebenso gut verboten wie in irgend einem Gefängniß; ja in der freien
Verfügung über seine Zeit war der Werkhäusler noch mehr beschränkt als


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[0506] „war für den Parlamentsausschuß zur Untersuchung des reformbedürftigen englischen Armenrechts (1833 — 1834) von unendlichem Werthe, da es ein einfaches Princip an die Hand gab, das sich anderswo ebenso wirksam zu erweisen verhieß, wie in diesen beiden Kirchspielen. Es besteht darin, die Kirchspiels-Almosen so zu regeln, daß sie nur genommen werden im Falle wirklicher Noth, während wirkliche Noth zugleich immer gewiß ist, die ent¬ sprechende Abhilfe zu finden. Ein wohleingerichtetes Werkhaus entspricht diesen Bedingungen. Kein Mensch von wirklicher Bedürftigkeit wird die darin angebotene Hilfe verschmähen, während ein Mensch, der sich noch selbst oder anderweitig zu helfen vermag, sich den Beschränkungen nicht unter¬ werfen wird, von welchen der Aufenthalt im Werkhaus abhängt. Werkhaus- Unterstützung ist abschreckender als Arbeit für Leute, die noch arbeiten können, während sie eine Zuflucht für solche ist, die gleichzeitig unvermögend und arbeitsunfähig sind." Die Reform von 1834 adoptirte also das Werkhaus nach dem Vor¬ bilde von Southwell und Bingham. Aufnahme ins Werkhaus sollte für alle arbeitsfähigen Armen die Probe ihrer wirklichen Hilfsbedürftigkeit sein, und nach der ursprünglichen Intention jede Unterstützung Arbeitsfähiger außerhalb des Werkhauses schon mit dem 1. Juli aufhören. Aber so heiß wurde die Suppe denn doch nicht gegessen, ja schon nicht einmal auf den Tisch gebracht: das Gesetz überließ die frühere oder spätere, mehr oder we¬ niger allgemeine Durchführung der Werkhaus-Probe den in ihm eingesetzten Reichs-Armen-Commissären, und diese mußten am Ende des zweiten Jahres ihrer Wirksamkeit constatiren, daß sie erst in 64 Armenverbänden durchgesetzt sei und auch da nur für Männer. Hatte es doch zunächst schon seine Schwierigkeiten, Werkhäuser der re« formirter Art nur überall erst herzustellen! Kaufen oder miethen ging nicht allenthalben an, wo noch kein taugliches Gebäude vorhanden war, und bauen kostete Zeit. Das eigentliche moderne Werkhaus sollte sich von dem alten Armenhaus hauptsächlich unterscheiden durch strenge Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt, Trennung der Geschlechter, Sonderung der verschiede¬ nen Classen von Armen wie Greise, Kinder, Stumpfsinnige, Taubstumme, Irre, Arbeitsfähige u. f. f. Wer eintrat, unterwarf sich einer gelinden Ge¬ fangenschaft, die sich von wirklicher Straf- oder Untersuchungshaft vorzugs¬ weise nur dadurch unterschied, daß man sie jeden Augenblick ungehindert ver¬ lassen konnte. Sonst war das beliebige Ein- und Ausgehen, die Annahme von Besuchern, Abweichungen von einer ins Einzelnste gehenden Hausord¬ nung ebenso gut verboten wie in irgend einem Gefängniß; ja in der freien Verfügung über seine Zeit war der Werkhäusler noch mehr beschränkt als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/506>, abgerufen am 01.09.2024.