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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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practischen Bestrebungen zur Reinigung des Strafrechts von der Folter und
allerhand barbarischen Executionen, zur abgesonderten Auferziehung und zweck¬
mäßigen Behandlung taubstummer, blinder oder idiotischer Kinder, zur Auf¬
hebung der Hörigkeit. Leibeigenschaft und Sclaverei u. f. w. -- um diese
Zeit erscheint es natürlich genug, daß sich auch eine philanthropische Reaction
erhob gegen die kaltherzige Roheit, mit welcher manche englische Armenauf¬
seher, zumal aus dem Lande, ihre Pfleglinge tractiren mochten, in denen
sie nur überlästige Schmarotzer an dem Beutel der Steuerzahler sahen.
Dr. Buru donnerte daher in seiner "Geschichte des Armenrechts" hauptsäch¬
lich gegen die hier vorgefundene Hartherzigkeit, und das Unterhausmitglied
Gilbert, einer der eifrigsten Beförderer besserer thatsächlicher Armenzustände,
versuchte ihr durch Gesetze beizukommen. Eine- gewöhnlich nach ihm benannte
Parlaments-Acte von 1782, ergänzt durch eine andere von 1790, stellte die
vorhandenen Werkhäuser unter die Controle der Friedensrichter und der von
ihnen dazu beauftragten officiellen Visitatoren wie Aerzte, Geistliche u. s. f.,
entzog auch ihre Verwaltung den gewöhnlichen Armenaussehern des Kirch¬
spiels und übergab sie besonderen Vorstehern. Das Gilbert'sche Gesetz machte
zugleich einen Anfang mit vergrößerten Armenverbänden, deren Existenz
dann aber in den dreißiger und vierziger Jahren zu einem schweren Hinder¬
niß sür die Durchführung der 1834 installirten neuen Organisation wurde.
Bei dieser späteren Reform ging die Woge der öffentlichen Stimmung wieder
gegen die höhere Instanz der Friedensrichter mit ihrer unmittelbaren Ein¬
mischung in die örtliche Armenpflege (grade wie in Sachsen neuerdings gegen
Einmischung der Gerichtsämter), statt daß sie 1780--1790 gegen die Kirch-
spiels-Armenaufseher gegangen war, und gegen verschwenderische Weichmüthig-
keit, statt wie früher gegen hartherzige Kargheit.

Den herrschenden Zustand der Armenhäuser gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts schildert Sir George Nicholls folgendermaßen: "Daß die Ein¬
richtung und Handhabung der Kirchspiels-Armenhäuser, fälschlich Werkhäuser
genannt, mangelhaft war, Inspection und Controle heischte, kann kaum
Staunen erwecken, wenn man sieht, daß sie in einer verhältnißmäßig nahen
Vergangenheit thatsächlich wenig besseres waren als Aufnahmestätten für
Müßiggänger, Liederliche und Verworfene, mit Andern, welche körperlich
hilflos oder geistesschwach, und einigen Wenigen, welche ohne eigene Ver¬
schuldung in Bedürftigkeit gerathen waren, Alle ungesondert durcheinander¬
lebend -- Junge und Alte, Männer und Frauen, ohne Ordnung, Zucht und
Gliederung. Fügt man hinzu, daß diese Gebäude selten sür ihren Zweck
errichtet waren, sondern dazu nur gelegentlich gekauft oder gemiethet, oft
von ungenügender Größe, immer von unpassender innerer Anordnung, und
daß ihre Verwaltung großer Nachlässigkett, Parteilichkeit und Betrügerei


practischen Bestrebungen zur Reinigung des Strafrechts von der Folter und
allerhand barbarischen Executionen, zur abgesonderten Auferziehung und zweck¬
mäßigen Behandlung taubstummer, blinder oder idiotischer Kinder, zur Auf¬
hebung der Hörigkeit. Leibeigenschaft und Sclaverei u. f. w. — um diese
Zeit erscheint es natürlich genug, daß sich auch eine philanthropische Reaction
erhob gegen die kaltherzige Roheit, mit welcher manche englische Armenauf¬
seher, zumal aus dem Lande, ihre Pfleglinge tractiren mochten, in denen
sie nur überlästige Schmarotzer an dem Beutel der Steuerzahler sahen.
Dr. Buru donnerte daher in seiner „Geschichte des Armenrechts" hauptsäch¬
lich gegen die hier vorgefundene Hartherzigkeit, und das Unterhausmitglied
Gilbert, einer der eifrigsten Beförderer besserer thatsächlicher Armenzustände,
versuchte ihr durch Gesetze beizukommen. Eine- gewöhnlich nach ihm benannte
Parlaments-Acte von 1782, ergänzt durch eine andere von 1790, stellte die
vorhandenen Werkhäuser unter die Controle der Friedensrichter und der von
ihnen dazu beauftragten officiellen Visitatoren wie Aerzte, Geistliche u. s. f.,
entzog auch ihre Verwaltung den gewöhnlichen Armenaussehern des Kirch¬
spiels und übergab sie besonderen Vorstehern. Das Gilbert'sche Gesetz machte
zugleich einen Anfang mit vergrößerten Armenverbänden, deren Existenz
dann aber in den dreißiger und vierziger Jahren zu einem schweren Hinder¬
niß sür die Durchführung der 1834 installirten neuen Organisation wurde.
Bei dieser späteren Reform ging die Woge der öffentlichen Stimmung wieder
gegen die höhere Instanz der Friedensrichter mit ihrer unmittelbaren Ein¬
mischung in die örtliche Armenpflege (grade wie in Sachsen neuerdings gegen
Einmischung der Gerichtsämter), statt daß sie 1780—1790 gegen die Kirch-
spiels-Armenaufseher gegangen war, und gegen verschwenderische Weichmüthig-
keit, statt wie früher gegen hartherzige Kargheit.

Den herrschenden Zustand der Armenhäuser gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts schildert Sir George Nicholls folgendermaßen: „Daß die Ein¬
richtung und Handhabung der Kirchspiels-Armenhäuser, fälschlich Werkhäuser
genannt, mangelhaft war, Inspection und Controle heischte, kann kaum
Staunen erwecken, wenn man sieht, daß sie in einer verhältnißmäßig nahen
Vergangenheit thatsächlich wenig besseres waren als Aufnahmestätten für
Müßiggänger, Liederliche und Verworfene, mit Andern, welche körperlich
hilflos oder geistesschwach, und einigen Wenigen, welche ohne eigene Ver¬
schuldung in Bedürftigkeit gerathen waren, Alle ungesondert durcheinander¬
lebend — Junge und Alte, Männer und Frauen, ohne Ordnung, Zucht und
Gliederung. Fügt man hinzu, daß diese Gebäude selten sür ihren Zweck
errichtet waren, sondern dazu nur gelegentlich gekauft oder gemiethet, oft
von ungenügender Größe, immer von unpassender innerer Anordnung, und
daß ihre Verwaltung großer Nachlässigkett, Parteilichkeit und Betrügerei


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[0502] practischen Bestrebungen zur Reinigung des Strafrechts von der Folter und allerhand barbarischen Executionen, zur abgesonderten Auferziehung und zweck¬ mäßigen Behandlung taubstummer, blinder oder idiotischer Kinder, zur Auf¬ hebung der Hörigkeit. Leibeigenschaft und Sclaverei u. f. w. — um diese Zeit erscheint es natürlich genug, daß sich auch eine philanthropische Reaction erhob gegen die kaltherzige Roheit, mit welcher manche englische Armenauf¬ seher, zumal aus dem Lande, ihre Pfleglinge tractiren mochten, in denen sie nur überlästige Schmarotzer an dem Beutel der Steuerzahler sahen. Dr. Buru donnerte daher in seiner „Geschichte des Armenrechts" hauptsäch¬ lich gegen die hier vorgefundene Hartherzigkeit, und das Unterhausmitglied Gilbert, einer der eifrigsten Beförderer besserer thatsächlicher Armenzustände, versuchte ihr durch Gesetze beizukommen. Eine- gewöhnlich nach ihm benannte Parlaments-Acte von 1782, ergänzt durch eine andere von 1790, stellte die vorhandenen Werkhäuser unter die Controle der Friedensrichter und der von ihnen dazu beauftragten officiellen Visitatoren wie Aerzte, Geistliche u. s. f., entzog auch ihre Verwaltung den gewöhnlichen Armenaussehern des Kirch¬ spiels und übergab sie besonderen Vorstehern. Das Gilbert'sche Gesetz machte zugleich einen Anfang mit vergrößerten Armenverbänden, deren Existenz dann aber in den dreißiger und vierziger Jahren zu einem schweren Hinder¬ niß sür die Durchführung der 1834 installirten neuen Organisation wurde. Bei dieser späteren Reform ging die Woge der öffentlichen Stimmung wieder gegen die höhere Instanz der Friedensrichter mit ihrer unmittelbaren Ein¬ mischung in die örtliche Armenpflege (grade wie in Sachsen neuerdings gegen Einmischung der Gerichtsämter), statt daß sie 1780—1790 gegen die Kirch- spiels-Armenaufseher gegangen war, und gegen verschwenderische Weichmüthig- keit, statt wie früher gegen hartherzige Kargheit. Den herrschenden Zustand der Armenhäuser gegen Ende des vorigen Jahrhunderts schildert Sir George Nicholls folgendermaßen: „Daß die Ein¬ richtung und Handhabung der Kirchspiels-Armenhäuser, fälschlich Werkhäuser genannt, mangelhaft war, Inspection und Controle heischte, kann kaum Staunen erwecken, wenn man sieht, daß sie in einer verhältnißmäßig nahen Vergangenheit thatsächlich wenig besseres waren als Aufnahmestätten für Müßiggänger, Liederliche und Verworfene, mit Andern, welche körperlich hilflos oder geistesschwach, und einigen Wenigen, welche ohne eigene Ver¬ schuldung in Bedürftigkeit gerathen waren, Alle ungesondert durcheinander¬ lebend — Junge und Alte, Männer und Frauen, ohne Ordnung, Zucht und Gliederung. Fügt man hinzu, daß diese Gebäude selten sür ihren Zweck errichtet waren, sondern dazu nur gelegentlich gekauft oder gemiethet, oft von ungenügender Größe, immer von unpassender innerer Anordnung, und daß ihre Verwaltung großer Nachlässigkett, Parteilichkeit und Betrügerei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/502>, abgerufen am 01.09.2024.