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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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fälligen äußeren Mittel zuzuschreiben, was in Wahrheit die Wirkung zweck¬
mäßig organistrter Centralisation ist. Hat doch sogar Bitzer seine bekannte
Schrift auf dem Titel nicht den sächsischen Armen-Verbänden im Gegen¬
satz zu sich selbst überlassenen hilflosen Einzelgemeinden, sondern den Arbeits¬
häusern gewidmet, um welche diese Krystallisation äußerlich allerdings vor
sich ging. Etwas ganz ähnliches'findet in England statt: Übertragung von
Wohlthaten, die man den Unions, den Commissioners of the Poor Law
und schließlich dem Poor Law Board verdankt, auf das vermeintlich souve¬
räne Mittel des Workhouse. Eine kurze geschichtliche Betrachtung des eng¬
lischen Werkhauses möchte daher bei der Krisis, in welcher die deutsche Ar¬
menpflege vermöge der nicht aufzuhaltenden gesetzgeberischen Initiative des
norddeutschen Bundes getreten ist, nachgerade an der Zeit sein.

Das Werkhaus ist einer der wesentlichen Bestandtheile der Armenrechts-
Reform von 1834 geworden, aber sein Keim liegt schon in einem Gesetz von
1722. Dieses ermächtigte die Armenaufseher mit Genehmigung der Kirch-
spielsversammluug Häuser zu kaufen oder zu miethen, um die Armen darin
unterzubringen und arbeiten zu lassen. Es sollten sich auch mehrere Kirch¬
spiele zu diesem Zwecke vereinigen dürfen. Weigerten unterstützte Arme den
Eintritt, so sollte ihr Name aus dem Register der Almosen-Empfänger ge¬
strichen und ihr Recht auf öffentliche Unterstützung hinfällig werden. In
Folge dieses Gesetzes wurden mehr als hundert Werkhäuser in verschiedenen
Theilen des Landes errichtet. Aber obgleich ihre erste Wirkung -- so sagt Sir
George Nicholls, der Haupturheber des in unserem Jahrhundert zur An¬
wendung gekommenen Werkhaus-Zwangs als Probe der Hilssbedürftigkeit,
in seiner werthvollen "Geschichte des englischen Armenrechts" -- eine be¬
trächtliche Verringerung der Ausgaben war, hielt dieser Erfolg doch nicht
lange Stand, indem die Last bald wieder anschwoll, und zwar dergestalt,
daß sie den ursprünglichen Betrag noch überstieg. Sir George Nicholls
findet den Grund dieser schlimmen bleibenden Wirkung darin, daß die Werk-
Häuser mit der Absicht errichtet und geleitet wurden, aus der Arbeit ihrer
Insassen Profit zu ziehen, anstatt wie gegenwärtig nur die Gebührlichkeit ihres
Unterstützungsgesuchs erhärten zu sollen. "Das Werkhaus war damals in
der That eine Art Fabrik, betrieben auf Kosten und Gefahr der Armencasse,
welche die schlechtesten Leute beschäftigte zur Entmuthigung und Herunter¬
drückung der besten. Die letzte Tendenz solcher Anstalten konnte keine andere
ein als die öffentliche Last zu steigern, die gesammte arbeitende Bevölkerung
von der Armensteuer abhängig zu machen und dieselbe sowohl in den Indi¬
viduen wie als Ganzes auf die niedrigste Stufe herunterzubringen."

Im achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, Humanität
und Philanthropie, wo die Predigt der Philosophen ihre Früchte trug in


fälligen äußeren Mittel zuzuschreiben, was in Wahrheit die Wirkung zweck¬
mäßig organistrter Centralisation ist. Hat doch sogar Bitzer seine bekannte
Schrift auf dem Titel nicht den sächsischen Armen-Verbänden im Gegen¬
satz zu sich selbst überlassenen hilflosen Einzelgemeinden, sondern den Arbeits¬
häusern gewidmet, um welche diese Krystallisation äußerlich allerdings vor
sich ging. Etwas ganz ähnliches'findet in England statt: Übertragung von
Wohlthaten, die man den Unions, den Commissioners of the Poor Law
und schließlich dem Poor Law Board verdankt, auf das vermeintlich souve¬
räne Mittel des Workhouse. Eine kurze geschichtliche Betrachtung des eng¬
lischen Werkhauses möchte daher bei der Krisis, in welcher die deutsche Ar¬
menpflege vermöge der nicht aufzuhaltenden gesetzgeberischen Initiative des
norddeutschen Bundes getreten ist, nachgerade an der Zeit sein.

Das Werkhaus ist einer der wesentlichen Bestandtheile der Armenrechts-
Reform von 1834 geworden, aber sein Keim liegt schon in einem Gesetz von
1722. Dieses ermächtigte die Armenaufseher mit Genehmigung der Kirch-
spielsversammluug Häuser zu kaufen oder zu miethen, um die Armen darin
unterzubringen und arbeiten zu lassen. Es sollten sich auch mehrere Kirch¬
spiele zu diesem Zwecke vereinigen dürfen. Weigerten unterstützte Arme den
Eintritt, so sollte ihr Name aus dem Register der Almosen-Empfänger ge¬
strichen und ihr Recht auf öffentliche Unterstützung hinfällig werden. In
Folge dieses Gesetzes wurden mehr als hundert Werkhäuser in verschiedenen
Theilen des Landes errichtet. Aber obgleich ihre erste Wirkung — so sagt Sir
George Nicholls, der Haupturheber des in unserem Jahrhundert zur An¬
wendung gekommenen Werkhaus-Zwangs als Probe der Hilssbedürftigkeit,
in seiner werthvollen „Geschichte des englischen Armenrechts" — eine be¬
trächtliche Verringerung der Ausgaben war, hielt dieser Erfolg doch nicht
lange Stand, indem die Last bald wieder anschwoll, und zwar dergestalt,
daß sie den ursprünglichen Betrag noch überstieg. Sir George Nicholls
findet den Grund dieser schlimmen bleibenden Wirkung darin, daß die Werk-
Häuser mit der Absicht errichtet und geleitet wurden, aus der Arbeit ihrer
Insassen Profit zu ziehen, anstatt wie gegenwärtig nur die Gebührlichkeit ihres
Unterstützungsgesuchs erhärten zu sollen. „Das Werkhaus war damals in
der That eine Art Fabrik, betrieben auf Kosten und Gefahr der Armencasse,
welche die schlechtesten Leute beschäftigte zur Entmuthigung und Herunter¬
drückung der besten. Die letzte Tendenz solcher Anstalten konnte keine andere
ein als die öffentliche Last zu steigern, die gesammte arbeitende Bevölkerung
von der Armensteuer abhängig zu machen und dieselbe sowohl in den Indi¬
viduen wie als Ganzes auf die niedrigste Stufe herunterzubringen."

Im achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, Humanität
und Philanthropie, wo die Predigt der Philosophen ihre Früchte trug in


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[0501] fälligen äußeren Mittel zuzuschreiben, was in Wahrheit die Wirkung zweck¬ mäßig organistrter Centralisation ist. Hat doch sogar Bitzer seine bekannte Schrift auf dem Titel nicht den sächsischen Armen-Verbänden im Gegen¬ satz zu sich selbst überlassenen hilflosen Einzelgemeinden, sondern den Arbeits¬ häusern gewidmet, um welche diese Krystallisation äußerlich allerdings vor sich ging. Etwas ganz ähnliches'findet in England statt: Übertragung von Wohlthaten, die man den Unions, den Commissioners of the Poor Law und schließlich dem Poor Law Board verdankt, auf das vermeintlich souve¬ räne Mittel des Workhouse. Eine kurze geschichtliche Betrachtung des eng¬ lischen Werkhauses möchte daher bei der Krisis, in welcher die deutsche Ar¬ menpflege vermöge der nicht aufzuhaltenden gesetzgeberischen Initiative des norddeutschen Bundes getreten ist, nachgerade an der Zeit sein. Das Werkhaus ist einer der wesentlichen Bestandtheile der Armenrechts- Reform von 1834 geworden, aber sein Keim liegt schon in einem Gesetz von 1722. Dieses ermächtigte die Armenaufseher mit Genehmigung der Kirch- spielsversammluug Häuser zu kaufen oder zu miethen, um die Armen darin unterzubringen und arbeiten zu lassen. Es sollten sich auch mehrere Kirch¬ spiele zu diesem Zwecke vereinigen dürfen. Weigerten unterstützte Arme den Eintritt, so sollte ihr Name aus dem Register der Almosen-Empfänger ge¬ strichen und ihr Recht auf öffentliche Unterstützung hinfällig werden. In Folge dieses Gesetzes wurden mehr als hundert Werkhäuser in verschiedenen Theilen des Landes errichtet. Aber obgleich ihre erste Wirkung — so sagt Sir George Nicholls, der Haupturheber des in unserem Jahrhundert zur An¬ wendung gekommenen Werkhaus-Zwangs als Probe der Hilssbedürftigkeit, in seiner werthvollen „Geschichte des englischen Armenrechts" — eine be¬ trächtliche Verringerung der Ausgaben war, hielt dieser Erfolg doch nicht lange Stand, indem die Last bald wieder anschwoll, und zwar dergestalt, daß sie den ursprünglichen Betrag noch überstieg. Sir George Nicholls findet den Grund dieser schlimmen bleibenden Wirkung darin, daß die Werk- Häuser mit der Absicht errichtet und geleitet wurden, aus der Arbeit ihrer Insassen Profit zu ziehen, anstatt wie gegenwärtig nur die Gebührlichkeit ihres Unterstützungsgesuchs erhärten zu sollen. „Das Werkhaus war damals in der That eine Art Fabrik, betrieben auf Kosten und Gefahr der Armencasse, welche die schlechtesten Leute beschäftigte zur Entmuthigung und Herunter¬ drückung der besten. Die letzte Tendenz solcher Anstalten konnte keine andere ein als die öffentliche Last zu steigern, die gesammte arbeitende Bevölkerung von der Armensteuer abhängig zu machen und dieselbe sowohl in den Indi¬ viduen wie als Ganzes auf die niedrigste Stufe herunterzubringen." Im achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, Humanität und Philanthropie, wo die Predigt der Philosophen ihre Früchte trug in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/501>, abgerufen am 27.07.2024.