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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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unterhalten? lautet die Gegenfrage, wenn man den Eingebornen nach dem
Grunde dieses häßlichen Compromisses mit dem Spielteufel frägt.

Die vielen Bettler und vom Laster Gezeichneten, die jungen Männer,
alle nach dem Modejournal zugeschnitten, von dürftiger Körperkraft und mit
dem Ausdruck geistiger Oede, die Frauen in ihrer Kleidung von verzweifel¬
tem Farbenmuthe, das Alles macht den Eindruck des Verfalles. Dennoch
wäre es unbillig, die Spuren des Fortschrittes auf den meisten Gebieten des
Lebens abzuleugnen, und namentlich zu übersehen, daß die Zukunft des Lan¬
des und Volkes nicht mehr biete, wie zur Zeit der Bourbonenherrschaft, son¬
dern wieder hoffnungsreich und heiter erscheint. Von der Gegenwart bereits
große Anordnungen in Gedanken und Sitten kann nur fordern, welcher ver¬
gißt, daß die Insel eigentlich erst seit zwei Jahren endgiltig zum Königreich
Italien gehört, daß erst nach dem Siege über den Septemberaufruhr 1866
die neue Aenderung der Dinge wirksam auftritt. An den Folgen des bour-
bonischen Regimentes werden noch viele Geschlechter zu tragen haben, wie
auch Garibaldi's naive Regierungsweise nur langsam vergessen wird. Das
Wichtigste ist die Einkehr politischer Ruhe, welche jeder Vorwand zur Träg¬
heit, zum Leben auf Kosten Anderer, zum Brigantaggio nimmt. Sicilien zählt
jetzt zu den ruhigsten und friedlichsten Provinzen und noch vor zwei Jahren
konnten die Feinde Italiens aus Sicilien die größten Hoffnungen setzen.

Die volle Wahrheit über den Septemberaufstand 1866, der eine volle
Woche währte, wird man nicht so bald erfahren, da der Sieger nicht gern,
wie schwach er gewesen, wie nahe am Untergange seine Herrschaft, bekennt,
der Besiegte den eigentlichen Kern der Rebellion zu enthüllen sich weislich
hütet. Unter der rothen Fahne wurde gekämpft, im Namen der Republik ge¬
stohlen, doch liefen die ursprünglichen Fäden des Aufstandes in clerical-
bourbonischen Händen zusammen. Die Niederlage des italienischen Heeres und
noch mehr jene der preußischen Truppen erschien als gewiß; nichts einfacher,
als daß die siegreichen Oestreicher sodann zur Wiederherstellung des vourbo-
nischen Thrones mitwirkten. Das Gerücht von der nahenden östreichischen
Flotte war im Herbst 1866 unter dem Landvolke weit verbreitet. Die
Schlacht bei Königgrätz vereitelte bekanntlich alle Reactionspläne und zwang
auch in Sicilien die Leiter und Führer der Bewegung zum Rückzug. Das
Netz war zerrissen, doch konnte, nachdem einmal die Vorbereitungen getroffen,
die Aufregung bis zu einem gewissen Grade gesteigert war, der Aufstand
selbst nicht mehr abgesagt werden. Er brach los trotz der Abwesenheit der
höchsten Führer, genährt von der selbständigen Leidenschaft des Pöbels. Die
Aufhebung der Klöster hatte in Sicilien mehr als in dem übrigen Italien
die große Masse des Volkes gegen sich. Nicht als ob die Sicilianer aber¬
gläubiger und priesterfreundlicher wären, als die Italiener des Continents.


unterhalten? lautet die Gegenfrage, wenn man den Eingebornen nach dem
Grunde dieses häßlichen Compromisses mit dem Spielteufel frägt.

Die vielen Bettler und vom Laster Gezeichneten, die jungen Männer,
alle nach dem Modejournal zugeschnitten, von dürftiger Körperkraft und mit
dem Ausdruck geistiger Oede, die Frauen in ihrer Kleidung von verzweifel¬
tem Farbenmuthe, das Alles macht den Eindruck des Verfalles. Dennoch
wäre es unbillig, die Spuren des Fortschrittes auf den meisten Gebieten des
Lebens abzuleugnen, und namentlich zu übersehen, daß die Zukunft des Lan¬
des und Volkes nicht mehr biete, wie zur Zeit der Bourbonenherrschaft, son¬
dern wieder hoffnungsreich und heiter erscheint. Von der Gegenwart bereits
große Anordnungen in Gedanken und Sitten kann nur fordern, welcher ver¬
gißt, daß die Insel eigentlich erst seit zwei Jahren endgiltig zum Königreich
Italien gehört, daß erst nach dem Siege über den Septemberaufruhr 1866
die neue Aenderung der Dinge wirksam auftritt. An den Folgen des bour-
bonischen Regimentes werden noch viele Geschlechter zu tragen haben, wie
auch Garibaldi's naive Regierungsweise nur langsam vergessen wird. Das
Wichtigste ist die Einkehr politischer Ruhe, welche jeder Vorwand zur Träg¬
heit, zum Leben auf Kosten Anderer, zum Brigantaggio nimmt. Sicilien zählt
jetzt zu den ruhigsten und friedlichsten Provinzen und noch vor zwei Jahren
konnten die Feinde Italiens aus Sicilien die größten Hoffnungen setzen.

Die volle Wahrheit über den Septemberaufstand 1866, der eine volle
Woche währte, wird man nicht so bald erfahren, da der Sieger nicht gern,
wie schwach er gewesen, wie nahe am Untergange seine Herrschaft, bekennt,
der Besiegte den eigentlichen Kern der Rebellion zu enthüllen sich weislich
hütet. Unter der rothen Fahne wurde gekämpft, im Namen der Republik ge¬
stohlen, doch liefen die ursprünglichen Fäden des Aufstandes in clerical-
bourbonischen Händen zusammen. Die Niederlage des italienischen Heeres und
noch mehr jene der preußischen Truppen erschien als gewiß; nichts einfacher,
als daß die siegreichen Oestreicher sodann zur Wiederherstellung des vourbo-
nischen Thrones mitwirkten. Das Gerücht von der nahenden östreichischen
Flotte war im Herbst 1866 unter dem Landvolke weit verbreitet. Die
Schlacht bei Königgrätz vereitelte bekanntlich alle Reactionspläne und zwang
auch in Sicilien die Leiter und Führer der Bewegung zum Rückzug. Das
Netz war zerrissen, doch konnte, nachdem einmal die Vorbereitungen getroffen,
die Aufregung bis zu einem gewissen Grade gesteigert war, der Aufstand
selbst nicht mehr abgesagt werden. Er brach los trotz der Abwesenheit der
höchsten Führer, genährt von der selbständigen Leidenschaft des Pöbels. Die
Aufhebung der Klöster hatte in Sicilien mehr als in dem übrigen Italien
die große Masse des Volkes gegen sich. Nicht als ob die Sicilianer aber¬
gläubiger und priesterfreundlicher wären, als die Italiener des Continents.


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[0496] unterhalten? lautet die Gegenfrage, wenn man den Eingebornen nach dem Grunde dieses häßlichen Compromisses mit dem Spielteufel frägt. Die vielen Bettler und vom Laster Gezeichneten, die jungen Männer, alle nach dem Modejournal zugeschnitten, von dürftiger Körperkraft und mit dem Ausdruck geistiger Oede, die Frauen in ihrer Kleidung von verzweifel¬ tem Farbenmuthe, das Alles macht den Eindruck des Verfalles. Dennoch wäre es unbillig, die Spuren des Fortschrittes auf den meisten Gebieten des Lebens abzuleugnen, und namentlich zu übersehen, daß die Zukunft des Lan¬ des und Volkes nicht mehr biete, wie zur Zeit der Bourbonenherrschaft, son¬ dern wieder hoffnungsreich und heiter erscheint. Von der Gegenwart bereits große Anordnungen in Gedanken und Sitten kann nur fordern, welcher ver¬ gißt, daß die Insel eigentlich erst seit zwei Jahren endgiltig zum Königreich Italien gehört, daß erst nach dem Siege über den Septemberaufruhr 1866 die neue Aenderung der Dinge wirksam auftritt. An den Folgen des bour- bonischen Regimentes werden noch viele Geschlechter zu tragen haben, wie auch Garibaldi's naive Regierungsweise nur langsam vergessen wird. Das Wichtigste ist die Einkehr politischer Ruhe, welche jeder Vorwand zur Träg¬ heit, zum Leben auf Kosten Anderer, zum Brigantaggio nimmt. Sicilien zählt jetzt zu den ruhigsten und friedlichsten Provinzen und noch vor zwei Jahren konnten die Feinde Italiens aus Sicilien die größten Hoffnungen setzen. Die volle Wahrheit über den Septemberaufstand 1866, der eine volle Woche währte, wird man nicht so bald erfahren, da der Sieger nicht gern, wie schwach er gewesen, wie nahe am Untergange seine Herrschaft, bekennt, der Besiegte den eigentlichen Kern der Rebellion zu enthüllen sich weislich hütet. Unter der rothen Fahne wurde gekämpft, im Namen der Republik ge¬ stohlen, doch liefen die ursprünglichen Fäden des Aufstandes in clerical- bourbonischen Händen zusammen. Die Niederlage des italienischen Heeres und noch mehr jene der preußischen Truppen erschien als gewiß; nichts einfacher, als daß die siegreichen Oestreicher sodann zur Wiederherstellung des vourbo- nischen Thrones mitwirkten. Das Gerücht von der nahenden östreichischen Flotte war im Herbst 1866 unter dem Landvolke weit verbreitet. Die Schlacht bei Königgrätz vereitelte bekanntlich alle Reactionspläne und zwang auch in Sicilien die Leiter und Führer der Bewegung zum Rückzug. Das Netz war zerrissen, doch konnte, nachdem einmal die Vorbereitungen getroffen, die Aufregung bis zu einem gewissen Grade gesteigert war, der Aufstand selbst nicht mehr abgesagt werden. Er brach los trotz der Abwesenheit der höchsten Führer, genährt von der selbständigen Leidenschaft des Pöbels. Die Aufhebung der Klöster hatte in Sicilien mehr als in dem übrigen Italien die große Masse des Volkes gegen sich. Nicht als ob die Sicilianer aber¬ gläubiger und priesterfreundlicher wären, als die Italiener des Continents.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/496>, abgerufen am 18.12.2024.