Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vornehmthuerei, die unbehilfliche Rechtspflege. Aber das Licht ist in den besten
seiner Romane so hell und kräftig über die Schatten gesetzt, daß die Summa
der Eindrücke, die er uns gibt, doch starke gemüthliche Annäherung an sein
Volk und Land hervorbringt. Jedem Engländer, der als Gast in unsere
Familien trat, wurde ein Willkommen wie einem guten Bekannten, er war
uns ein Neffe des Herrn Pickwick, der liebe arme Pirch, einer von den Ge¬
brüdern Wohlgemuth, oder gar bei struppigen Haar der treue Traddles,
und wenn der Deutsche noch heute geneigt ist, jeden vorgestellten Engländer als
einen guten und tüchtigen Kerl zu achten, vielleicht steif, aber von sehr tiefem
Gemüth, wahrhaft, zuverlässig, treu, so ist diese poetische Auffassung zum großen
Theil daher zu erklären, daß der Fremde ein Landsmann von Charles
Dickens ist.

Aber solche Anschauungen aus den Büchern eines Dichters gezogen, welchen
Anspruch auf Wahrheit und Werth vermögen sie gegenüber realer Wirklich¬
keit zu erheben? Wer zweifelnd so frägt, dem sei zur Antwort eine
andere Frage gestellt: aus welchem Schrein entnehmen wir denn ein besseres
Urtheil über fremde Menschen und Verhältnisse? Ist das Urtheil über neue
Bekannte, das wir aus der Form ihrer Nase, dem Ton ihrer Stimme, aus
Aeußerungen einer Stunde abziehen, correcter und zuverlässiger? Ist die An¬
sicht, die sich der Mann der Geschäfte nach Hörensagen, zum Theil aus schlech¬
tem Geschwätz über Andere bilden muß, in der Regel sichrer? Ja sind selbst
detaillirte Beschreibungen eines Lebens, einer Gegend, die Daguerrotypen der
Wirklichkeit, in der Hauptsache belehrender, als die poetische Wahrheit des
Dichters, der das Vorrecht seines Handwerks zu gebrauchen versteht: auf wenig
Seiten mehr von den innersten Geheimnissen der Menschennatur auszuplaudern,
als der Philolog, Historiker und Naturforscher in vielen Bänden darzustellen
im Stande sind. Was er uns gibt, das mag in allen Einzelheiten ganz
anders erscheinen, als es in Wirklichkeit aussieht. In der Hauptsache hat
doch er. und nur er die höchste Wahrheit gefunden, welche dem Menschen
darzustellen verstattet ist. Er hat die ungeheuere, furchtbare, unverständliche
Welt ins Menschliche umgedeutet nach den Bedürfnissen eines edlen und
sehnsuchtsvollen Gemüthes.

Jetzt sind wir betroffen, weil der Dichter, der so reich und machtvoll
über den Geheimnissen des Erdenlebens waltete, selbst das eigene Leben dem
alten Zwang des Todes hingeben mußte. Aber der Tod, der ihn entzog,
vermochte dennoch nichts von dem Leben zu nehmen, welches Charles Dickens
unvergänglich in Millionen fortlebt. Und das ist der erhebende Humor beim
Tode dieses guten Dichters. --


Gustav Freytag.


Vornehmthuerei, die unbehilfliche Rechtspflege. Aber das Licht ist in den besten
seiner Romane so hell und kräftig über die Schatten gesetzt, daß die Summa
der Eindrücke, die er uns gibt, doch starke gemüthliche Annäherung an sein
Volk und Land hervorbringt. Jedem Engländer, der als Gast in unsere
Familien trat, wurde ein Willkommen wie einem guten Bekannten, er war
uns ein Neffe des Herrn Pickwick, der liebe arme Pirch, einer von den Ge¬
brüdern Wohlgemuth, oder gar bei struppigen Haar der treue Traddles,
und wenn der Deutsche noch heute geneigt ist, jeden vorgestellten Engländer als
einen guten und tüchtigen Kerl zu achten, vielleicht steif, aber von sehr tiefem
Gemüth, wahrhaft, zuverlässig, treu, so ist diese poetische Auffassung zum großen
Theil daher zu erklären, daß der Fremde ein Landsmann von Charles
Dickens ist.

Aber solche Anschauungen aus den Büchern eines Dichters gezogen, welchen
Anspruch auf Wahrheit und Werth vermögen sie gegenüber realer Wirklich¬
keit zu erheben? Wer zweifelnd so frägt, dem sei zur Antwort eine
andere Frage gestellt: aus welchem Schrein entnehmen wir denn ein besseres
Urtheil über fremde Menschen und Verhältnisse? Ist das Urtheil über neue
Bekannte, das wir aus der Form ihrer Nase, dem Ton ihrer Stimme, aus
Aeußerungen einer Stunde abziehen, correcter und zuverlässiger? Ist die An¬
sicht, die sich der Mann der Geschäfte nach Hörensagen, zum Theil aus schlech¬
tem Geschwätz über Andere bilden muß, in der Regel sichrer? Ja sind selbst
detaillirte Beschreibungen eines Lebens, einer Gegend, die Daguerrotypen der
Wirklichkeit, in der Hauptsache belehrender, als die poetische Wahrheit des
Dichters, der das Vorrecht seines Handwerks zu gebrauchen versteht: auf wenig
Seiten mehr von den innersten Geheimnissen der Menschennatur auszuplaudern,
als der Philolog, Historiker und Naturforscher in vielen Bänden darzustellen
im Stande sind. Was er uns gibt, das mag in allen Einzelheiten ganz
anders erscheinen, als es in Wirklichkeit aussieht. In der Hauptsache hat
doch er. und nur er die höchste Wahrheit gefunden, welche dem Menschen
darzustellen verstattet ist. Er hat die ungeheuere, furchtbare, unverständliche
Welt ins Menschliche umgedeutet nach den Bedürfnissen eines edlen und
sehnsuchtsvollen Gemüthes.

Jetzt sind wir betroffen, weil der Dichter, der so reich und machtvoll
über den Geheimnissen des Erdenlebens waltete, selbst das eigene Leben dem
alten Zwang des Todes hingeben mußte. Aber der Tod, der ihn entzog,
vermochte dennoch nichts von dem Leben zu nehmen, welches Charles Dickens
unvergänglich in Millionen fortlebt. Und das ist der erhebende Humor beim
Tode dieses guten Dichters. —


Gustav Freytag.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124110"/>
          <p xml:id="ID_1453" prev="#ID_1452"> Vornehmthuerei, die unbehilfliche Rechtspflege. Aber das Licht ist in den besten<lb/>
seiner Romane so hell und kräftig über die Schatten gesetzt, daß die Summa<lb/>
der Eindrücke, die er uns gibt, doch starke gemüthliche Annäherung an sein<lb/>
Volk und Land hervorbringt. Jedem Engländer, der als Gast in unsere<lb/>
Familien trat, wurde ein Willkommen wie einem guten Bekannten, er war<lb/>
uns ein Neffe des Herrn Pickwick, der liebe arme Pirch, einer von den Ge¬<lb/>
brüdern Wohlgemuth, oder gar bei struppigen Haar der treue Traddles,<lb/>
und wenn der Deutsche noch heute geneigt ist, jeden vorgestellten Engländer als<lb/>
einen guten und tüchtigen Kerl zu achten, vielleicht steif, aber von sehr tiefem<lb/>
Gemüth, wahrhaft, zuverlässig, treu, so ist diese poetische Auffassung zum großen<lb/>
Theil daher zu erklären, daß der Fremde ein Landsmann von Charles<lb/>
Dickens ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1454"> Aber solche Anschauungen aus den Büchern eines Dichters gezogen, welchen<lb/>
Anspruch auf Wahrheit und Werth vermögen sie gegenüber realer Wirklich¬<lb/>
keit zu erheben? Wer zweifelnd so frägt, dem sei zur Antwort eine<lb/>
andere Frage gestellt: aus welchem Schrein entnehmen wir denn ein besseres<lb/>
Urtheil über fremde Menschen und Verhältnisse? Ist das Urtheil über neue<lb/>
Bekannte, das wir aus der Form ihrer Nase, dem Ton ihrer Stimme, aus<lb/>
Aeußerungen einer Stunde abziehen, correcter und zuverlässiger? Ist die An¬<lb/>
sicht, die sich der Mann der Geschäfte nach Hörensagen, zum Theil aus schlech¬<lb/>
tem Geschwätz über Andere bilden muß, in der Regel sichrer? Ja sind selbst<lb/>
detaillirte Beschreibungen eines Lebens, einer Gegend, die Daguerrotypen der<lb/>
Wirklichkeit, in der Hauptsache belehrender, als die poetische Wahrheit des<lb/>
Dichters, der das Vorrecht seines Handwerks zu gebrauchen versteht: auf wenig<lb/>
Seiten mehr von den innersten Geheimnissen der Menschennatur auszuplaudern,<lb/>
als der Philolog, Historiker und Naturforscher in vielen Bänden darzustellen<lb/>
im Stande sind. Was er uns gibt, das mag in allen Einzelheiten ganz<lb/>
anders erscheinen, als es in Wirklichkeit aussieht. In der Hauptsache hat<lb/>
doch er. und nur er die höchste Wahrheit gefunden, welche dem Menschen<lb/>
darzustellen verstattet ist. Er hat die ungeheuere, furchtbare, unverständliche<lb/>
Welt ins Menschliche umgedeutet nach den Bedürfnissen eines edlen und<lb/>
sehnsuchtsvollen Gemüthes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1455"> Jetzt sind wir betroffen, weil der Dichter, der so reich und machtvoll<lb/>
über den Geheimnissen des Erdenlebens waltete, selbst das eigene Leben dem<lb/>
alten Zwang des Todes hingeben mußte. Aber der Tod, der ihn entzog,<lb/>
vermochte dennoch nichts von dem Leben zu nehmen, welches Charles Dickens<lb/>
unvergänglich in Millionen fortlebt. Und das ist der erhebende Humor beim<lb/>
Tode dieses guten Dichters. &#x2014;</p><lb/>
          <note type="byline"> Gustav Freytag.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] Vornehmthuerei, die unbehilfliche Rechtspflege. Aber das Licht ist in den besten seiner Romane so hell und kräftig über die Schatten gesetzt, daß die Summa der Eindrücke, die er uns gibt, doch starke gemüthliche Annäherung an sein Volk und Land hervorbringt. Jedem Engländer, der als Gast in unsere Familien trat, wurde ein Willkommen wie einem guten Bekannten, er war uns ein Neffe des Herrn Pickwick, der liebe arme Pirch, einer von den Ge¬ brüdern Wohlgemuth, oder gar bei struppigen Haar der treue Traddles, und wenn der Deutsche noch heute geneigt ist, jeden vorgestellten Engländer als einen guten und tüchtigen Kerl zu achten, vielleicht steif, aber von sehr tiefem Gemüth, wahrhaft, zuverlässig, treu, so ist diese poetische Auffassung zum großen Theil daher zu erklären, daß der Fremde ein Landsmann von Charles Dickens ist. Aber solche Anschauungen aus den Büchern eines Dichters gezogen, welchen Anspruch auf Wahrheit und Werth vermögen sie gegenüber realer Wirklich¬ keit zu erheben? Wer zweifelnd so frägt, dem sei zur Antwort eine andere Frage gestellt: aus welchem Schrein entnehmen wir denn ein besseres Urtheil über fremde Menschen und Verhältnisse? Ist das Urtheil über neue Bekannte, das wir aus der Form ihrer Nase, dem Ton ihrer Stimme, aus Aeußerungen einer Stunde abziehen, correcter und zuverlässiger? Ist die An¬ sicht, die sich der Mann der Geschäfte nach Hörensagen, zum Theil aus schlech¬ tem Geschwätz über Andere bilden muß, in der Regel sichrer? Ja sind selbst detaillirte Beschreibungen eines Lebens, einer Gegend, die Daguerrotypen der Wirklichkeit, in der Hauptsache belehrender, als die poetische Wahrheit des Dichters, der das Vorrecht seines Handwerks zu gebrauchen versteht: auf wenig Seiten mehr von den innersten Geheimnissen der Menschennatur auszuplaudern, als der Philolog, Historiker und Naturforscher in vielen Bänden darzustellen im Stande sind. Was er uns gibt, das mag in allen Einzelheiten ganz anders erscheinen, als es in Wirklichkeit aussieht. In der Hauptsache hat doch er. und nur er die höchste Wahrheit gefunden, welche dem Menschen darzustellen verstattet ist. Er hat die ungeheuere, furchtbare, unverständliche Welt ins Menschliche umgedeutet nach den Bedürfnissen eines edlen und sehnsuchtsvollen Gemüthes. Jetzt sind wir betroffen, weil der Dichter, der so reich und machtvoll über den Geheimnissen des Erdenlebens waltete, selbst das eigene Leben dem alten Zwang des Todes hingeben mußte. Aber der Tod, der ihn entzog, vermochte dennoch nichts von dem Leben zu nehmen, welches Charles Dickens unvergänglich in Millionen fortlebt. Und das ist der erhebende Humor beim Tode dieses guten Dichters. — Gustav Freytag.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/490>, abgerufen am 27.07.2024.