Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lare Lage nicht erkannt, sei es, daß sie die Wahlreform und Auflösung nicht
beim Kaiser durchsetzen konnten, sie suchten erst zu temporisiren, dann erklärte
Ollivers von Picard und Favre gedrängt, die Vertretung des Landes liege
in der Majorität dieser Versammlung, welche von der öffentlichen Meinung
aufgeklärt und unterstützt werde. Die Auflösung werde von denen befürwortet,
deren Politik darin bestehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern
und das Vertrauen im Lande nicht aufkommen zu lassen; wenn man unauf¬
hörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte, so ziehe man
der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.

Mit dieser Erklärung hatte das Ministerium das wesentlichste Compelle
gegen den Kaiser und die auf dessen Wink stimmende Rechte aus der Hand
gegeben. Die durch officielle Candidaturen Gewählten waren von der Furcht
befreit, ihre Sitze zu verlieren und konnten sich der Aufgabe widmen, das
Ministerium nach Rechts hinüberzudrängen; das linke Centrum ward mi߬
trauisch gegen seine früheren Mitglieder und die Linke ging von ihrem ur¬
sprünglichen Mißtrauen zu offener Feindschaft über. So war Napoleons
Zweck erreicht, die alte Opposition zu theilen, das Ministerium hatte keine
compacte Partei, auf die es sich stützen konnte, es hing vom Kaiser ab, wie
derselbe es bald fühlen ließ.

Die Veränderungen der Verfassung von 1852 sollten nach der beliebten
französischen Theorie notificirt werden durch eine Generalrevision jener Con-
stitution, obwohl die Veränderungen, welche dieselbe durch die kaiserlichen Zu¬
geständnisse erlitten, keineswegs unübersehbar groß waren und, wie schon
erwähnt, die kaiserliche Macht im Wesentlichen unangetastet gelassen hatten.
Geblieben war vor allem der Grund- und Hauptsatz, durch welchen das na-
poleonische Staatsrecht sich von allen anderen modernen Verfassungen ebenso
unterscheidet wie vom patriarchalischen Absolutismus: die ausgesprochene Verant¬
wortlichkeit des Staatsoberhauptes vor dem Volke. In richtiger Consequenz
hatte die Verfassung von 1882 die UnVerantwortlichkeit der Minister procla-
mirt, im vorigen Herbste nun führte das senatus-Consult vom 8 Sept. die
Verantwortlichkeit eines Ministeriums ein. aber ließ daneben die des Staats¬
oberhauptes bestehen. Persigny hatte hierfür schon früher die ingeniöse Formel
gefunden: der Kaiser sei im Großen, die Minister im Einzelnen verantwort¬
lich ; wo aber die Verantwortlichkett zwischen zwei Factoren getheilt ist, deren
einer vom andern abhängt, da hört sie rechtlich überhaupt auf. umsomehr
als die Verantwortlichkeit des Souveräns vor dem Volke bekanntlich erst
praktisch Wird, wenn dieser nicht mehr im Besitz der Macht ist.

Nun stand dieser Verantwortlichkeitserklärung des Staatsoberhauptes
im Art 6 der Verfassung von 1852 der Satz zur Seite, daß der Souverän
stets Berufung an das Volk einlegen könne. Der Kaiser bestand darauf.


lare Lage nicht erkannt, sei es, daß sie die Wahlreform und Auflösung nicht
beim Kaiser durchsetzen konnten, sie suchten erst zu temporisiren, dann erklärte
Ollivers von Picard und Favre gedrängt, die Vertretung des Landes liege
in der Majorität dieser Versammlung, welche von der öffentlichen Meinung
aufgeklärt und unterstützt werde. Die Auflösung werde von denen befürwortet,
deren Politik darin bestehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern
und das Vertrauen im Lande nicht aufkommen zu lassen; wenn man unauf¬
hörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte, so ziehe man
der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.

Mit dieser Erklärung hatte das Ministerium das wesentlichste Compelle
gegen den Kaiser und die auf dessen Wink stimmende Rechte aus der Hand
gegeben. Die durch officielle Candidaturen Gewählten waren von der Furcht
befreit, ihre Sitze zu verlieren und konnten sich der Aufgabe widmen, das
Ministerium nach Rechts hinüberzudrängen; das linke Centrum ward mi߬
trauisch gegen seine früheren Mitglieder und die Linke ging von ihrem ur¬
sprünglichen Mißtrauen zu offener Feindschaft über. So war Napoleons
Zweck erreicht, die alte Opposition zu theilen, das Ministerium hatte keine
compacte Partei, auf die es sich stützen konnte, es hing vom Kaiser ab, wie
derselbe es bald fühlen ließ.

Die Veränderungen der Verfassung von 1852 sollten nach der beliebten
französischen Theorie notificirt werden durch eine Generalrevision jener Con-
stitution, obwohl die Veränderungen, welche dieselbe durch die kaiserlichen Zu¬
geständnisse erlitten, keineswegs unübersehbar groß waren und, wie schon
erwähnt, die kaiserliche Macht im Wesentlichen unangetastet gelassen hatten.
Geblieben war vor allem der Grund- und Hauptsatz, durch welchen das na-
poleonische Staatsrecht sich von allen anderen modernen Verfassungen ebenso
unterscheidet wie vom patriarchalischen Absolutismus: die ausgesprochene Verant¬
wortlichkeit des Staatsoberhauptes vor dem Volke. In richtiger Consequenz
hatte die Verfassung von 1882 die UnVerantwortlichkeit der Minister procla-
mirt, im vorigen Herbste nun führte das senatus-Consult vom 8 Sept. die
Verantwortlichkeit eines Ministeriums ein. aber ließ daneben die des Staats¬
oberhauptes bestehen. Persigny hatte hierfür schon früher die ingeniöse Formel
gefunden: der Kaiser sei im Großen, die Minister im Einzelnen verantwort¬
lich ; wo aber die Verantwortlichkett zwischen zwei Factoren getheilt ist, deren
einer vom andern abhängt, da hört sie rechtlich überhaupt auf. umsomehr
als die Verantwortlichkeit des Souveräns vor dem Volke bekanntlich erst
praktisch Wird, wenn dieser nicht mehr im Besitz der Macht ist.

Nun stand dieser Verantwortlichkeitserklärung des Staatsoberhauptes
im Art 6 der Verfassung von 1852 der Satz zur Seite, daß der Souverän
stets Berufung an das Volk einlegen könne. Der Kaiser bestand darauf.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124095"/>
          <p xml:id="ID_1411" prev="#ID_1410"> lare Lage nicht erkannt, sei es, daß sie die Wahlreform und Auflösung nicht<lb/>
beim Kaiser durchsetzen konnten, sie suchten erst zu temporisiren, dann erklärte<lb/>
Ollivers von Picard und Favre gedrängt, die Vertretung des Landes liege<lb/>
in der Majorität dieser Versammlung, welche von der öffentlichen Meinung<lb/>
aufgeklärt und unterstützt werde. Die Auflösung werde von denen befürwortet,<lb/>
deren Politik darin bestehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern<lb/>
und das Vertrauen im Lande nicht aufkommen zu lassen; wenn man unauf¬<lb/>
hörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte, so ziehe man<lb/>
der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1412"> Mit dieser Erklärung hatte das Ministerium das wesentlichste Compelle<lb/>
gegen den Kaiser und die auf dessen Wink stimmende Rechte aus der Hand<lb/>
gegeben. Die durch officielle Candidaturen Gewählten waren von der Furcht<lb/>
befreit, ihre Sitze zu verlieren und konnten sich der Aufgabe widmen, das<lb/>
Ministerium nach Rechts hinüberzudrängen; das linke Centrum ward mi߬<lb/>
trauisch gegen seine früheren Mitglieder und die Linke ging von ihrem ur¬<lb/>
sprünglichen Mißtrauen zu offener Feindschaft über. So war Napoleons<lb/>
Zweck erreicht, die alte Opposition zu theilen, das Ministerium hatte keine<lb/>
compacte Partei, auf die es sich stützen konnte, es hing vom Kaiser ab, wie<lb/>
derselbe es bald fühlen ließ.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1413"> Die Veränderungen der Verfassung von 1852 sollten nach der beliebten<lb/>
französischen Theorie notificirt werden durch eine Generalrevision jener Con-<lb/>
stitution, obwohl die Veränderungen, welche dieselbe durch die kaiserlichen Zu¬<lb/>
geständnisse erlitten, keineswegs unübersehbar groß waren und, wie schon<lb/>
erwähnt, die kaiserliche Macht im Wesentlichen unangetastet gelassen hatten.<lb/>
Geblieben war vor allem der Grund- und Hauptsatz, durch welchen das na-<lb/>
poleonische Staatsrecht sich von allen anderen modernen Verfassungen ebenso<lb/>
unterscheidet wie vom patriarchalischen Absolutismus: die ausgesprochene Verant¬<lb/>
wortlichkeit des Staatsoberhauptes vor dem Volke. In richtiger Consequenz<lb/>
hatte die Verfassung von 1882 die UnVerantwortlichkeit der Minister procla-<lb/>
mirt, im vorigen Herbste nun führte das senatus-Consult vom 8 Sept. die<lb/>
Verantwortlichkeit eines Ministeriums ein. aber ließ daneben die des Staats¬<lb/>
oberhauptes bestehen. Persigny hatte hierfür schon früher die ingeniöse Formel<lb/>
gefunden: der Kaiser sei im Großen, die Minister im Einzelnen verantwort¬<lb/>
lich ; wo aber die Verantwortlichkett zwischen zwei Factoren getheilt ist, deren<lb/>
einer vom andern abhängt, da hört sie rechtlich überhaupt auf. umsomehr<lb/>
als die Verantwortlichkeit des Souveräns vor dem Volke bekanntlich erst<lb/>
praktisch Wird, wenn dieser nicht mehr im Besitz der Macht ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1414" next="#ID_1415"> Nun stand dieser Verantwortlichkeitserklärung des Staatsoberhauptes<lb/>
im Art 6 der Verfassung von 1852 der Satz zur Seite, daß der Souverän<lb/>
stets Berufung an das Volk einlegen könne. Der Kaiser bestand darauf.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0475] lare Lage nicht erkannt, sei es, daß sie die Wahlreform und Auflösung nicht beim Kaiser durchsetzen konnten, sie suchten erst zu temporisiren, dann erklärte Ollivers von Picard und Favre gedrängt, die Vertretung des Landes liege in der Majorität dieser Versammlung, welche von der öffentlichen Meinung aufgeklärt und unterstützt werde. Die Auflösung werde von denen befürwortet, deren Politik darin bestehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern und das Vertrauen im Lande nicht aufkommen zu lassen; wenn man unauf¬ hörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte, so ziehe man der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg. Mit dieser Erklärung hatte das Ministerium das wesentlichste Compelle gegen den Kaiser und die auf dessen Wink stimmende Rechte aus der Hand gegeben. Die durch officielle Candidaturen Gewählten waren von der Furcht befreit, ihre Sitze zu verlieren und konnten sich der Aufgabe widmen, das Ministerium nach Rechts hinüberzudrängen; das linke Centrum ward mi߬ trauisch gegen seine früheren Mitglieder und die Linke ging von ihrem ur¬ sprünglichen Mißtrauen zu offener Feindschaft über. So war Napoleons Zweck erreicht, die alte Opposition zu theilen, das Ministerium hatte keine compacte Partei, auf die es sich stützen konnte, es hing vom Kaiser ab, wie derselbe es bald fühlen ließ. Die Veränderungen der Verfassung von 1852 sollten nach der beliebten französischen Theorie notificirt werden durch eine Generalrevision jener Con- stitution, obwohl die Veränderungen, welche dieselbe durch die kaiserlichen Zu¬ geständnisse erlitten, keineswegs unübersehbar groß waren und, wie schon erwähnt, die kaiserliche Macht im Wesentlichen unangetastet gelassen hatten. Geblieben war vor allem der Grund- und Hauptsatz, durch welchen das na- poleonische Staatsrecht sich von allen anderen modernen Verfassungen ebenso unterscheidet wie vom patriarchalischen Absolutismus: die ausgesprochene Verant¬ wortlichkeit des Staatsoberhauptes vor dem Volke. In richtiger Consequenz hatte die Verfassung von 1882 die UnVerantwortlichkeit der Minister procla- mirt, im vorigen Herbste nun führte das senatus-Consult vom 8 Sept. die Verantwortlichkeit eines Ministeriums ein. aber ließ daneben die des Staats¬ oberhauptes bestehen. Persigny hatte hierfür schon früher die ingeniöse Formel gefunden: der Kaiser sei im Großen, die Minister im Einzelnen verantwort¬ lich ; wo aber die Verantwortlichkett zwischen zwei Factoren getheilt ist, deren einer vom andern abhängt, da hört sie rechtlich überhaupt auf. umsomehr als die Verantwortlichkeit des Souveräns vor dem Volke bekanntlich erst praktisch Wird, wenn dieser nicht mehr im Besitz der Macht ist. Nun stand dieser Verantwortlichkeitserklärung des Staatsoberhauptes im Art 6 der Verfassung von 1852 der Satz zur Seite, daß der Souverän stets Berufung an das Volk einlegen könne. Der Kaiser bestand darauf.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/475
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/475>, abgerufen am 18.12.2024.