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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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gründliches Selbstsehen und Selbsterleben -- nicht durch bloße Bäder und
Vergnügungsfahrten -- fast in allen seinen Winkeln kennt, wie es der
Schreiber dieser Zeilen von sich behaupten darf, hat gar keine Vorstellung
von dem kindischen Klatsch, den Altweibermärchen und Gespenstergeschichten,
die in den gebildetsten süddeutschen Köpfen und Gesellschaftskreisen in Bezug
auf den Norden umgehn.

Wer einmal einen Blick in die schmutzige Broschürenliteratur der
Jahre 1806--1812 geworfen hat, welche damals gegen die norddeutschen
Gelehrten und Beamten in München und an der Universität Landshut her"
vorquoll, wird erstaunt sein zu sehen, daß sie nicht gemeiner und alberner
sind, als was heute in gleichem Genre an der gleichen Stelle geleistet wird.
Nur daß jetzt zu den Broschüren auch noch die Zeitungen hinzugekommen
sind, die damals unter der strengen Fuchtel eines Montgelas sich wohl hüten
mußten, dessen eigentliche Werkzeuge und Stützen bei der Danaidenarbeit
Bayern zu civilisiren, direct zu beleidigen oder gar für altbayrische Messer¬
stiche und Knüttel zu denunciren. Auch heute besteht die Mehrzahl der Leser
jener Blätter Und besonders der Broschüren aus "Gebildeten" so wie damals
ausschließlich, weil damals überhaupt nur der Gebildete zu lesen verstand.
Die Herren Mur, Arelim, Pallhausen ?c., ihre meist anonymen, aber
gemein wohlbekannten Vorfechter, waren hochgestellte, was man so nennt
vornehme Leute, und kannten den Geist ihrer Kreise ganz genau. Es spiegelt
sich also in ihren Erzeugnissen die öffentliche Meinung des Südens über den
Norden ebenso richtig wie in ihren heutigen Nachfolgern und Stellvertretern
und sie ist heute um nichts besser belehrt als damals. Denn man lasse sich
nicht täuschen; es gibt heute eine große Zahl von gebildeten Süddeutschen,
die aus politischen Gründen zu einem mehr oder minder engen Anschluß "n
den Norden bereit sind. Aber wie viele unter dieser "deutschen Partei" haben
sich von den Vorurtheilen ganz losgemacht, kraft deren man im Süden den
Süden als die Gott mehr begünstigte, mit Schönheit und Fülle des Landes,
der Leiber und Geister der Menschen besser begnadigte Hälfte von Deutsch'
land, kurz gesagt als das eigentliche und "reine" Deutschland ansieht? Die¬
selben Herren rücken den Norddeutschen oder wie sie jetzt drastischer heißen,
den Preußen unter allen möglichen angeborenen Lastern und Häßlichkeiten
mit besonderer Emphase ihr Selbstbewußtsein und ihren Eigendünkel vor,
aber wenn irgendwo das Wort von dem Splitter und dem Balken im eige-
nen Auge und dem des nächsten seine Geltung hat, so ist es hier. Ein
Römer, der das süddeutsche Gerede von süddeutscher Freiheit unbarmherzig
zermalmt, und einzelne andere Kampfgenossen der nationalen Partei sind
bis zu dieser Stunde Propheten die in ihrem Vaterlande am wenigsten
gelten und nicht etwa blos bei denen, deren Evangelium der Stute-


gründliches Selbstsehen und Selbsterleben — nicht durch bloße Bäder und
Vergnügungsfahrten — fast in allen seinen Winkeln kennt, wie es der
Schreiber dieser Zeilen von sich behaupten darf, hat gar keine Vorstellung
von dem kindischen Klatsch, den Altweibermärchen und Gespenstergeschichten,
die in den gebildetsten süddeutschen Köpfen und Gesellschaftskreisen in Bezug
auf den Norden umgehn.

Wer einmal einen Blick in die schmutzige Broschürenliteratur der
Jahre 1806—1812 geworfen hat, welche damals gegen die norddeutschen
Gelehrten und Beamten in München und an der Universität Landshut her«
vorquoll, wird erstaunt sein zu sehen, daß sie nicht gemeiner und alberner
sind, als was heute in gleichem Genre an der gleichen Stelle geleistet wird.
Nur daß jetzt zu den Broschüren auch noch die Zeitungen hinzugekommen
sind, die damals unter der strengen Fuchtel eines Montgelas sich wohl hüten
mußten, dessen eigentliche Werkzeuge und Stützen bei der Danaidenarbeit
Bayern zu civilisiren, direct zu beleidigen oder gar für altbayrische Messer¬
stiche und Knüttel zu denunciren. Auch heute besteht die Mehrzahl der Leser
jener Blätter Und besonders der Broschüren aus „Gebildeten" so wie damals
ausschließlich, weil damals überhaupt nur der Gebildete zu lesen verstand.
Die Herren Mur, Arelim, Pallhausen ?c., ihre meist anonymen, aber
gemein wohlbekannten Vorfechter, waren hochgestellte, was man so nennt
vornehme Leute, und kannten den Geist ihrer Kreise ganz genau. Es spiegelt
sich also in ihren Erzeugnissen die öffentliche Meinung des Südens über den
Norden ebenso richtig wie in ihren heutigen Nachfolgern und Stellvertretern
und sie ist heute um nichts besser belehrt als damals. Denn man lasse sich
nicht täuschen; es gibt heute eine große Zahl von gebildeten Süddeutschen,
die aus politischen Gründen zu einem mehr oder minder engen Anschluß «n
den Norden bereit sind. Aber wie viele unter dieser „deutschen Partei" haben
sich von den Vorurtheilen ganz losgemacht, kraft deren man im Süden den
Süden als die Gott mehr begünstigte, mit Schönheit und Fülle des Landes,
der Leiber und Geister der Menschen besser begnadigte Hälfte von Deutsch'
land, kurz gesagt als das eigentliche und „reine" Deutschland ansieht? Die¬
selben Herren rücken den Norddeutschen oder wie sie jetzt drastischer heißen,
den Preußen unter allen möglichen angeborenen Lastern und Häßlichkeiten
mit besonderer Emphase ihr Selbstbewußtsein und ihren Eigendünkel vor,
aber wenn irgendwo das Wort von dem Splitter und dem Balken im eige-
nen Auge und dem des nächsten seine Geltung hat, so ist es hier. Ein
Römer, der das süddeutsche Gerede von süddeutscher Freiheit unbarmherzig
zermalmt, und einzelne andere Kampfgenossen der nationalen Partei sind
bis zu dieser Stunde Propheten die in ihrem Vaterlande am wenigsten
gelten und nicht etwa blos bei denen, deren Evangelium der Stute-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/430>, abgerufen am 18.12.2024.