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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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von drastischen, durch und durch lebendigem Material nicht zusammentragen,
noch weniger aus unseren Idiotiken und Dialectgrammatiken. In dieser
Hinsicht darf man diese wenigen Blätter wohl eine in ihrer Art einzige Er¬
scheinung nennen und selbst die strenge Wissenschaft der Sprachkunde kann
auf jeder Seite, natürlich nur mit der ihr angeschulten kritischen Reserve, sehr
viel lernen. Doch ist es nicht ganz Deutschland, das dem Verfasser so zu
sagen wie ein aufgeschlagenes Lexicon zu Gebote steht. Referent weiß nichts
von seiner Person, nicht, wo er daheim ist und welchem Berufe er ange¬
hört und man darf auch aus der Form seines Namens, die stark nach dem
Südosten hinweist, wo das y noch in der Orthographie dominirt, keinen Schluß
ziehen, aber es ist ganz deutlich, daß er "in frischesten sich da fühlt, wo er
vom Oestreich, Kärnten, Steiermark etwas mitzutheilen hat. Das scheint die
eigentliche Luft, die er athmet, oder die er am liebsten athmen möchte. Aber
auch am Mittel- und Niederrhein und in Westfalen ist er wie ein Landes¬
kind heimisch, den Südwesten dagegen, so sehr er ihn gelegentlich preist,
scheint er selten betreten zu haben, daher er sich hier mit den bekannten ba¬
nalen Phrasen über die tiefe Urwüchsigkeit und großartige Begabung der
Schwaben an Gemüth, Geist und Verstand eben behilft, ohne sie durch Eigen¬
erlebtes uns begreiflicher zu machen, falls wir etwa zu den Ungläubigen ge¬
hören sollten, die seit 1866 bis heute die Augen offen gehabt und gelegent¬
lich auch einmal eine Zeitung oder eine Broschüre aus jenem stolzen Kern¬
lande gelesen haben. Noch weniger fühlt er sich in den mittleren Regionen
östlich von der Lahn bis an die polnische Grenze zu Hause. Die Gegend der
unteren Unstrut, Leipzig, vielleicht auch Dresden mag er einmal durchflogen
haben, aber was er hiebei erhascht hat. steht doch kaum höher, als was
jeder gewöhnliche Tourist, dem eine gewisse satirische oder humoristische
Ader nicht fehlt, auch mit nach Hause bringen könnte. Eine völlige terrg,
iuooMlts. ist ihm der eigentliche Nordosten, obgleich wir nicht behaupten
wollen, daß er nicht in Berlin gewesen sein könnte. Aber von Berlin selbst
scheint er nicht vielmehr als die schlechten Berliner Witze und die Ecken¬
steher gesehen zu haben, obgleich es eigentlich schwer fallen dürfte, diese letzte¬
ren zu sehen, weil sie blos in dem seligen Glasbrenner und in der erhitzten
Phantasie der "Kerndeutschen" noch existiren. Von der Mark kennt er nur
die Kiefernwälder, nicht die prächtigen, blauen Seen, die spiegelnden Wasser¬
läufe, die fetttriefenden Auen, noch weniger die Märker selbst. Auch er, und
das ist wieder ein Beweis, daß er nicht völlig zu selbständiger wissen¬
schaftlicher Erkenntniß gerüstet ist, glaubt noch an das alte Märchen, das
die neuere historische Forschung doch so gänzlich widerlegt hat, er sieht noch
immer in dem "deutschesten der deutschen Stämme", wie man ihn im höchsten
Sinne nennen muß, einen Mischling von Slaven und Deutschen, gerade so


von drastischen, durch und durch lebendigem Material nicht zusammentragen,
noch weniger aus unseren Idiotiken und Dialectgrammatiken. In dieser
Hinsicht darf man diese wenigen Blätter wohl eine in ihrer Art einzige Er¬
scheinung nennen und selbst die strenge Wissenschaft der Sprachkunde kann
auf jeder Seite, natürlich nur mit der ihr angeschulten kritischen Reserve, sehr
viel lernen. Doch ist es nicht ganz Deutschland, das dem Verfasser so zu
sagen wie ein aufgeschlagenes Lexicon zu Gebote steht. Referent weiß nichts
von seiner Person, nicht, wo er daheim ist und welchem Berufe er ange¬
hört und man darf auch aus der Form seines Namens, die stark nach dem
Südosten hinweist, wo das y noch in der Orthographie dominirt, keinen Schluß
ziehen, aber es ist ganz deutlich, daß er «in frischesten sich da fühlt, wo er
vom Oestreich, Kärnten, Steiermark etwas mitzutheilen hat. Das scheint die
eigentliche Luft, die er athmet, oder die er am liebsten athmen möchte. Aber
auch am Mittel- und Niederrhein und in Westfalen ist er wie ein Landes¬
kind heimisch, den Südwesten dagegen, so sehr er ihn gelegentlich preist,
scheint er selten betreten zu haben, daher er sich hier mit den bekannten ba¬
nalen Phrasen über die tiefe Urwüchsigkeit und großartige Begabung der
Schwaben an Gemüth, Geist und Verstand eben behilft, ohne sie durch Eigen¬
erlebtes uns begreiflicher zu machen, falls wir etwa zu den Ungläubigen ge¬
hören sollten, die seit 1866 bis heute die Augen offen gehabt und gelegent¬
lich auch einmal eine Zeitung oder eine Broschüre aus jenem stolzen Kern¬
lande gelesen haben. Noch weniger fühlt er sich in den mittleren Regionen
östlich von der Lahn bis an die polnische Grenze zu Hause. Die Gegend der
unteren Unstrut, Leipzig, vielleicht auch Dresden mag er einmal durchflogen
haben, aber was er hiebei erhascht hat. steht doch kaum höher, als was
jeder gewöhnliche Tourist, dem eine gewisse satirische oder humoristische
Ader nicht fehlt, auch mit nach Hause bringen könnte. Eine völlige terrg,
iuooMlts. ist ihm der eigentliche Nordosten, obgleich wir nicht behaupten
wollen, daß er nicht in Berlin gewesen sein könnte. Aber von Berlin selbst
scheint er nicht vielmehr als die schlechten Berliner Witze und die Ecken¬
steher gesehen zu haben, obgleich es eigentlich schwer fallen dürfte, diese letzte¬
ren zu sehen, weil sie blos in dem seligen Glasbrenner und in der erhitzten
Phantasie der „Kerndeutschen" noch existiren. Von der Mark kennt er nur
die Kiefernwälder, nicht die prächtigen, blauen Seen, die spiegelnden Wasser¬
läufe, die fetttriefenden Auen, noch weniger die Märker selbst. Auch er, und
das ist wieder ein Beweis, daß er nicht völlig zu selbständiger wissen¬
schaftlicher Erkenntniß gerüstet ist, glaubt noch an das alte Märchen, das
die neuere historische Forschung doch so gänzlich widerlegt hat, er sieht noch
immer in dem „deutschesten der deutschen Stämme", wie man ihn im höchsten
Sinne nennen muß, einen Mischling von Slaven und Deutschen, gerade so


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[0426] von drastischen, durch und durch lebendigem Material nicht zusammentragen, noch weniger aus unseren Idiotiken und Dialectgrammatiken. In dieser Hinsicht darf man diese wenigen Blätter wohl eine in ihrer Art einzige Er¬ scheinung nennen und selbst die strenge Wissenschaft der Sprachkunde kann auf jeder Seite, natürlich nur mit der ihr angeschulten kritischen Reserve, sehr viel lernen. Doch ist es nicht ganz Deutschland, das dem Verfasser so zu sagen wie ein aufgeschlagenes Lexicon zu Gebote steht. Referent weiß nichts von seiner Person, nicht, wo er daheim ist und welchem Berufe er ange¬ hört und man darf auch aus der Form seines Namens, die stark nach dem Südosten hinweist, wo das y noch in der Orthographie dominirt, keinen Schluß ziehen, aber es ist ganz deutlich, daß er «in frischesten sich da fühlt, wo er vom Oestreich, Kärnten, Steiermark etwas mitzutheilen hat. Das scheint die eigentliche Luft, die er athmet, oder die er am liebsten athmen möchte. Aber auch am Mittel- und Niederrhein und in Westfalen ist er wie ein Landes¬ kind heimisch, den Südwesten dagegen, so sehr er ihn gelegentlich preist, scheint er selten betreten zu haben, daher er sich hier mit den bekannten ba¬ nalen Phrasen über die tiefe Urwüchsigkeit und großartige Begabung der Schwaben an Gemüth, Geist und Verstand eben behilft, ohne sie durch Eigen¬ erlebtes uns begreiflicher zu machen, falls wir etwa zu den Ungläubigen ge¬ hören sollten, die seit 1866 bis heute die Augen offen gehabt und gelegent¬ lich auch einmal eine Zeitung oder eine Broschüre aus jenem stolzen Kern¬ lande gelesen haben. Noch weniger fühlt er sich in den mittleren Regionen östlich von der Lahn bis an die polnische Grenze zu Hause. Die Gegend der unteren Unstrut, Leipzig, vielleicht auch Dresden mag er einmal durchflogen haben, aber was er hiebei erhascht hat. steht doch kaum höher, als was jeder gewöhnliche Tourist, dem eine gewisse satirische oder humoristische Ader nicht fehlt, auch mit nach Hause bringen könnte. Eine völlige terrg, iuooMlts. ist ihm der eigentliche Nordosten, obgleich wir nicht behaupten wollen, daß er nicht in Berlin gewesen sein könnte. Aber von Berlin selbst scheint er nicht vielmehr als die schlechten Berliner Witze und die Ecken¬ steher gesehen zu haben, obgleich es eigentlich schwer fallen dürfte, diese letzte¬ ren zu sehen, weil sie blos in dem seligen Glasbrenner und in der erhitzten Phantasie der „Kerndeutschen" noch existiren. Von der Mark kennt er nur die Kiefernwälder, nicht die prächtigen, blauen Seen, die spiegelnden Wasser¬ läufe, die fetttriefenden Auen, noch weniger die Märker selbst. Auch er, und das ist wieder ein Beweis, daß er nicht völlig zu selbständiger wissen¬ schaftlicher Erkenntniß gerüstet ist, glaubt noch an das alte Märchen, das die neuere historische Forschung doch so gänzlich widerlegt hat, er sieht noch immer in dem „deutschesten der deutschen Stämme", wie man ihn im höchsten Sinne nennen muß, einen Mischling von Slaven und Deutschen, gerade so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/426>, abgerufen am 27.07.2024.