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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Punkt nicht dauerhaft ist und ihre theoretische Formulirung der Fragen
Preußen allein in das Auge faßt. Denn der Verfasser weiß sich frei von
der Versuchung deutscher Publicisten, in dem reinen Aether der Abstraktionen
und gedanklichen Constructionen zu lustwandeln, oder von der lustigen Höhe
philosophischer Erkenntniß die souveräne Kritik leuchten zu lassen über die
Menschen und die Dinge des Tages. Was er uns bietet, ist Erfahrungs¬
wissenschaft, nicht Raisonnement. Es ist ein kundiger Geschäftsmann. der zu
uns spricht, uns die Ergebnisse langjähriger Beobachtung und eingehenden
Studiums der staatsrechtlichen Verhältnisse Englands. Frankreichs. Preußens
mittheilt. Und da er ersichtlich zugleich ein Mann ist von höchster Un¬
befangenheit des politischen Standpunktes, von einem vorurtheilslosen Rea¬
lismus der Anschauungsart. maßvollen, aber eindringendem Urtheil und un¬
zweifelhaftem patriotischem Freisinn, so kann den Zeitgenossen solche Arbeit
nur willkommen sein. Ob auch die retrospective Kritik und politische
Praxis des Verfassers nicht in allen Beziehungen unmittelbar practische
Anwendbarkeit besitzt: sie besitzt den eminenten Werth aller empirisch ge¬
wonnenen Wahrheit, das Wissen bereichernd, das Urtheil berichtigend, lehr¬
reich für die Kenntniß der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft.
Bedarf es der Hervorhebung, wie sehr es der politischen Literatur in Deutsch¬
land Noth thut, ausgefüllt und befruchtet zu werden durch die positiven
Elemente der Empirik und die instructive Mitarbeit praktischer Staatsleute?
Unberufene Professoren und berufslose Journalisten haben nur zu lange darin
ausschließlich die Meinungen beherrscht.

Die Verfassungsreform, welche unserem Autor vorschwebt, geht daher
nicht im Entferntesten darauf aus, in einer verbesserten Redaction des preu¬
ßischen Staatsgrundgesetzes die glückliche Befriedigung unserer politischen
Bedürfnisse anzustreben. Die Illusion, als könne man den vielgliedngen
Organismus eines großen Culturstaates über Nacht durch Vereinbarung
eines wohlparagraphirten Statuts auf eine völlig neue Basis stellen, kann
Weder bestehen vor der Natur des Staatswesens, noch vor der Geschichte,
noch vor den eigenen Erfahrungen der lebenden Generation. Die Reform-
Arbeit muß in langsamem Aufbau von unten anfangend organisch vor¬
schreiten. Wie die Negenerationsgesetzgebung am Beginn des Jahrhunderts
nach Abwerfung der aus der städtischen und ländlichen Bevölkerung lastenden
wirthschaftlichen Fesseln, nach Durchführung der Städteordnung und länd¬
lichen Gemeindeverfassung darauf die Kreis- und Provinzialstände und darauf
erst die Reichsstände zu stabiliren gedachte, wie in England das Verfassungs¬
recht vielverzweigtin Gewohnheiten, großen consolidirten Gesetzesacten und zahl¬
losen Statuten wie von selbst zusammengewachsen ist, so müßten auch wir durch
eine Reihe von Verfassungsgesetzen planmäßig unsere Institutionen ausbauen.


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Punkt nicht dauerhaft ist und ihre theoretische Formulirung der Fragen
Preußen allein in das Auge faßt. Denn der Verfasser weiß sich frei von
der Versuchung deutscher Publicisten, in dem reinen Aether der Abstraktionen
und gedanklichen Constructionen zu lustwandeln, oder von der lustigen Höhe
philosophischer Erkenntniß die souveräne Kritik leuchten zu lassen über die
Menschen und die Dinge des Tages. Was er uns bietet, ist Erfahrungs¬
wissenschaft, nicht Raisonnement. Es ist ein kundiger Geschäftsmann. der zu
uns spricht, uns die Ergebnisse langjähriger Beobachtung und eingehenden
Studiums der staatsrechtlichen Verhältnisse Englands. Frankreichs. Preußens
mittheilt. Und da er ersichtlich zugleich ein Mann ist von höchster Un¬
befangenheit des politischen Standpunktes, von einem vorurtheilslosen Rea¬
lismus der Anschauungsart. maßvollen, aber eindringendem Urtheil und un¬
zweifelhaftem patriotischem Freisinn, so kann den Zeitgenossen solche Arbeit
nur willkommen sein. Ob auch die retrospective Kritik und politische
Praxis des Verfassers nicht in allen Beziehungen unmittelbar practische
Anwendbarkeit besitzt: sie besitzt den eminenten Werth aller empirisch ge¬
wonnenen Wahrheit, das Wissen bereichernd, das Urtheil berichtigend, lehr¬
reich für die Kenntniß der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft.
Bedarf es der Hervorhebung, wie sehr es der politischen Literatur in Deutsch¬
land Noth thut, ausgefüllt und befruchtet zu werden durch die positiven
Elemente der Empirik und die instructive Mitarbeit praktischer Staatsleute?
Unberufene Professoren und berufslose Journalisten haben nur zu lange darin
ausschließlich die Meinungen beherrscht.

Die Verfassungsreform, welche unserem Autor vorschwebt, geht daher
nicht im Entferntesten darauf aus, in einer verbesserten Redaction des preu¬
ßischen Staatsgrundgesetzes die glückliche Befriedigung unserer politischen
Bedürfnisse anzustreben. Die Illusion, als könne man den vielgliedngen
Organismus eines großen Culturstaates über Nacht durch Vereinbarung
eines wohlparagraphirten Statuts auf eine völlig neue Basis stellen, kann
Weder bestehen vor der Natur des Staatswesens, noch vor der Geschichte,
noch vor den eigenen Erfahrungen der lebenden Generation. Die Reform-
Arbeit muß in langsamem Aufbau von unten anfangend organisch vor¬
schreiten. Wie die Negenerationsgesetzgebung am Beginn des Jahrhunderts
nach Abwerfung der aus der städtischen und ländlichen Bevölkerung lastenden
wirthschaftlichen Fesseln, nach Durchführung der Städteordnung und länd¬
lichen Gemeindeverfassung darauf die Kreis- und Provinzialstände und darauf
erst die Reichsstände zu stabiliren gedachte, wie in England das Verfassungs¬
recht vielverzweigtin Gewohnheiten, großen consolidirten Gesetzesacten und zahl¬
losen Statuten wie von selbst zusammengewachsen ist, so müßten auch wir durch
eine Reihe von Verfassungsgesetzen planmäßig unsere Institutionen ausbauen.


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[0415] Punkt nicht dauerhaft ist und ihre theoretische Formulirung der Fragen Preußen allein in das Auge faßt. Denn der Verfasser weiß sich frei von der Versuchung deutscher Publicisten, in dem reinen Aether der Abstraktionen und gedanklichen Constructionen zu lustwandeln, oder von der lustigen Höhe philosophischer Erkenntniß die souveräne Kritik leuchten zu lassen über die Menschen und die Dinge des Tages. Was er uns bietet, ist Erfahrungs¬ wissenschaft, nicht Raisonnement. Es ist ein kundiger Geschäftsmann. der zu uns spricht, uns die Ergebnisse langjähriger Beobachtung und eingehenden Studiums der staatsrechtlichen Verhältnisse Englands. Frankreichs. Preußens mittheilt. Und da er ersichtlich zugleich ein Mann ist von höchster Un¬ befangenheit des politischen Standpunktes, von einem vorurtheilslosen Rea¬ lismus der Anschauungsart. maßvollen, aber eindringendem Urtheil und un¬ zweifelhaftem patriotischem Freisinn, so kann den Zeitgenossen solche Arbeit nur willkommen sein. Ob auch die retrospective Kritik und politische Praxis des Verfassers nicht in allen Beziehungen unmittelbar practische Anwendbarkeit besitzt: sie besitzt den eminenten Werth aller empirisch ge¬ wonnenen Wahrheit, das Wissen bereichernd, das Urtheil berichtigend, lehr¬ reich für die Kenntniß der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft. Bedarf es der Hervorhebung, wie sehr es der politischen Literatur in Deutsch¬ land Noth thut, ausgefüllt und befruchtet zu werden durch die positiven Elemente der Empirik und die instructive Mitarbeit praktischer Staatsleute? Unberufene Professoren und berufslose Journalisten haben nur zu lange darin ausschließlich die Meinungen beherrscht. Die Verfassungsreform, welche unserem Autor vorschwebt, geht daher nicht im Entferntesten darauf aus, in einer verbesserten Redaction des preu¬ ßischen Staatsgrundgesetzes die glückliche Befriedigung unserer politischen Bedürfnisse anzustreben. Die Illusion, als könne man den vielgliedngen Organismus eines großen Culturstaates über Nacht durch Vereinbarung eines wohlparagraphirten Statuts auf eine völlig neue Basis stellen, kann Weder bestehen vor der Natur des Staatswesens, noch vor der Geschichte, noch vor den eigenen Erfahrungen der lebenden Generation. Die Reform- Arbeit muß in langsamem Aufbau von unten anfangend organisch vor¬ schreiten. Wie die Negenerationsgesetzgebung am Beginn des Jahrhunderts nach Abwerfung der aus der städtischen und ländlichen Bevölkerung lastenden wirthschaftlichen Fesseln, nach Durchführung der Städteordnung und länd¬ lichen Gemeindeverfassung darauf die Kreis- und Provinzialstände und darauf erst die Reichsstände zu stabiliren gedachte, wie in England das Verfassungs¬ recht vielverzweigtin Gewohnheiten, großen consolidirten Gesetzesacten und zahl¬ losen Statuten wie von selbst zusammengewachsen ist, so müßten auch wir durch eine Reihe von Verfassungsgesetzen planmäßig unsere Institutionen ausbauen. Grenzboten Il> 1se7<) ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/415>, abgerufen am 27.07.2024.