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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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bleiben, und "demgemäß vor Allem der preußische Staat die Aufgabe nicht
abweisen könne, sich in seinen Institutionen den Anforderungen der Gegen¬
wart gemäß zu verjüngen." Hiernach behandelt unsere Schrift die Frage
der Reformbedürstigkeit Preußens an Haupt, wie Gliedern vollkommen ohne
jede Hereinfließung und Berührung der durch die Bundesverfassung bedingten
Rechtszustände, als wäre sie vor dem Sommer 1866 gedacht oder geschrie¬
ben. -- Wäre jene Ansicht in Wirklichkeit so sehr der Ausgangspunkt un¬
seres Reformers, daß sein Werk mit ihrer Richtigkeit stand und fiel, so
würden wir um die Dauer und Wirkung des Werks einigermaßen besorgt
sein. Denn es wäre ersichtlich ein Irrthum, auf Grund der formalen Com-
petenz der Bundesgesetzgebung eine Ausscheidung des particulär preußischen
Verfassungsreichs für möglich zu halten. Gleichviel welches das nächste Schick¬
sal der Schöpfungen des Grasen Bismarck sein wird, ob nun die Geleise
seiner Politik in der That so tief eingeschnitten sind, wie er es selbst ver¬
meint, oder ob Ausweichungen zu erwarten stehen -- unter allen Umständen
liegt für eine geraume Zukunft der Schwerpunkt von Preußens Constttution
nicht in dem preußischen, sondern dem deutschen Verfassungsrecht.
Unter allen Umständen wird die Richtung unserer deutschen Politik in
erster Reihe auch die ganze Richtung des preußischen Verfassungslebens, die
großen Fragen mechanischer oder organischer Reform, bureaukrattscher Cen¬
tralisation oder autonomer Decentralisation, demokratischer oder gemeinde¬
freiheitlicher Entwickelung bestimmen. Sie wird dies thuen, behalte sie den
ausgeprägten unitarischen Grundzug des heutigen Tages bei, oder verfalle
sie in den Gegensatz irgend welcher föderativer Velleitäten. Wie will man
innerhalb des isolirten Rahmens der preußischen Verfassung noch an eine
Kritik der staatsbürgerlichen Rechte der Individuen und der municipal-com-
munalen Gerechtsame herantreten, wo die Reichsgesetzgebung in den Materien
der Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, der Heimaths- und Armenrechte, die socia¬
len Fundamente individuellen, wie communalen Selbstrechts so voll ergrissen
hat? Wie läßt sich eine reine Lösung der Probleme einer besten Bildung und
bestabgewogener Befugnisse des preußischen Landtages anstreben ohne Rück¬
sicht auf das Wahlrecht zum Reichstage und die constitutionellen Be¬
fugnisse des Bundesparlaments? Was helfen uns schließlich die vortrefflichsten
Gedanken über eine Reorganisation des Staatsministeriums, des Staats¬
raths, über Ministerverantwortlichkeit und Staatsgerichtshof, nachdem das
Bundeskanzleramt sich mit seiner Organisation, seinen Prärogativen, feinern
ganzen politischen Habitus so eigenthümlich weit hinausgehoben hat über
Alles, was die Charte Waldeck und die constitutionelle Doctrin sich je von
derartigen Institutionen hat träumen lassen? -- Aber der Werth dieser Schrift
über preußische Verfafsungsreform bleibt bestehen, auch wenn ihr Ausgangs-


bleiben, und „demgemäß vor Allem der preußische Staat die Aufgabe nicht
abweisen könne, sich in seinen Institutionen den Anforderungen der Gegen¬
wart gemäß zu verjüngen." Hiernach behandelt unsere Schrift die Frage
der Reformbedürstigkeit Preußens an Haupt, wie Gliedern vollkommen ohne
jede Hereinfließung und Berührung der durch die Bundesverfassung bedingten
Rechtszustände, als wäre sie vor dem Sommer 1866 gedacht oder geschrie¬
ben. — Wäre jene Ansicht in Wirklichkeit so sehr der Ausgangspunkt un¬
seres Reformers, daß sein Werk mit ihrer Richtigkeit stand und fiel, so
würden wir um die Dauer und Wirkung des Werks einigermaßen besorgt
sein. Denn es wäre ersichtlich ein Irrthum, auf Grund der formalen Com-
petenz der Bundesgesetzgebung eine Ausscheidung des particulär preußischen
Verfassungsreichs für möglich zu halten. Gleichviel welches das nächste Schick¬
sal der Schöpfungen des Grasen Bismarck sein wird, ob nun die Geleise
seiner Politik in der That so tief eingeschnitten sind, wie er es selbst ver¬
meint, oder ob Ausweichungen zu erwarten stehen — unter allen Umständen
liegt für eine geraume Zukunft der Schwerpunkt von Preußens Constttution
nicht in dem preußischen, sondern dem deutschen Verfassungsrecht.
Unter allen Umständen wird die Richtung unserer deutschen Politik in
erster Reihe auch die ganze Richtung des preußischen Verfassungslebens, die
großen Fragen mechanischer oder organischer Reform, bureaukrattscher Cen¬
tralisation oder autonomer Decentralisation, demokratischer oder gemeinde¬
freiheitlicher Entwickelung bestimmen. Sie wird dies thuen, behalte sie den
ausgeprägten unitarischen Grundzug des heutigen Tages bei, oder verfalle
sie in den Gegensatz irgend welcher föderativer Velleitäten. Wie will man
innerhalb des isolirten Rahmens der preußischen Verfassung noch an eine
Kritik der staatsbürgerlichen Rechte der Individuen und der municipal-com-
munalen Gerechtsame herantreten, wo die Reichsgesetzgebung in den Materien
der Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, der Heimaths- und Armenrechte, die socia¬
len Fundamente individuellen, wie communalen Selbstrechts so voll ergrissen
hat? Wie läßt sich eine reine Lösung der Probleme einer besten Bildung und
bestabgewogener Befugnisse des preußischen Landtages anstreben ohne Rück¬
sicht auf das Wahlrecht zum Reichstage und die constitutionellen Be¬
fugnisse des Bundesparlaments? Was helfen uns schließlich die vortrefflichsten
Gedanken über eine Reorganisation des Staatsministeriums, des Staats¬
raths, über Ministerverantwortlichkeit und Staatsgerichtshof, nachdem das
Bundeskanzleramt sich mit seiner Organisation, seinen Prärogativen, feinern
ganzen politischen Habitus so eigenthümlich weit hinausgehoben hat über
Alles, was die Charte Waldeck und die constitutionelle Doctrin sich je von
derartigen Institutionen hat träumen lassen? — Aber der Werth dieser Schrift
über preußische Verfafsungsreform bleibt bestehen, auch wenn ihr Ausgangs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/414>, abgerufen am 27.07.2024.