Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Aber auch in diesem Fall sucht die Folgezeit unablässig hinter der Dichtung
den Dichter, hinter der Arbeit den Erfinder. Denn nicht das Geschaffene an
sich, sondern Geist. Gemüth. Charakter des Schaffenden, die wir daraus er¬
kennen, machen uns die Werke vergangener Menschen vertraulich. In diesem
Sinne schreiben wir rastlos Geschichten der Philosophie, der bildenden Kunst,
der Literatur, weil wir das Bedürfniß haben, zu verstehen, wie Lehre und
Kunstwerk geworden sind zuerst in den Menschen und dann in den Charak¬
teren höherer Ordnung, den Völkern. Die beste bildende und lebenspendende
Wirkung des erhaltenen Werkes beruht immer in dem persönlichen Verkehr,
der uns dadurch mit dem Werkmeister wird. Seine imponirende Eigenart,
seine Gedanken, die Farbe, welche aus seinem Gemüth in das Werk über¬
geht, sind uns das reizvollste.

Dem deutschen Gelehrten wird leicht, einzelne Unrichtigkeiten und be¬
schränktes Gesichtsfeld in den Werken Macaulay's nachzuweisen, unsere Me-
thode historischer Kritik ist unzweifelhaft die bessere. Und doch wird der Eng¬
länder für alle Zeit als einer der größten Geschichtsschreiber gelten, und eine
unermeßlich größere Wirkung auf die Bildung der späteren ausüben, als
andere nicht weniger glänzende und in vieler Forschung genauere Dar-
stellungen derselben Geschichte. Warum? Weil in der Größe, der männ-
Uchen Festigkeit seines Wesens, der wundervollen Dialektik seines politisch ge¬
schulten Geistes ein unwiderstehlicher Zauber liegt, er zieht den Leser zu sich
w die heitere, reine, wohlthuende Lust eines hochsinnigen Mannes. So sehr
suchen wir den Menschen in der Geschichte, daß wir den Charakter noch dann
"eben, wenn seine Werke uns ganz geschwunden sind. Was blieb von dem jün-
geren Cato zurück? nicht die Partei, der er treu war, nicht seine Reden, die
uns fast gänzlich verloren sind, machen die Schattengestalt uns so rührend,
sein Ethos ist es allein, sein merkwürdiger Charakter in einer argen Zeit.

Und wenn es jemals einen Mann gegeben hat. der vorzugsweise durch
seinen Charakter auf die Zeitgenossen wirkte, und den Abdruck seines Wesens
veredelnd in die Seelen des jüngeren Geschlechtes legte, so war dies der
stille ernste Gelehrte, dessen Lebensgeschichte wir hier empfehlen. So wird er
auch fortleben in der deutschen Geschichte, als das Idealbild, und als ein
typisches Bild aus der ersten Periode unserer politischen Bildung, in der die
deutschen Privatmenschen sich für Theilnahme am Staat eifrig rüsteten. Ein
schwerflüssiger, fester, reiner Mann, der bestehendes Recht und die sittlichen
Forderungen der Nation an den Staat mit maßvollen und strengem Urtheil
und doch in heißer Empfindung mit einander zu gesellen verstand. Einer
der besten Deutschen durch lauteren Sinn und inniges Gemüth, stolz und
edel in seinen Gedanken, unsträflich in seinem Thun, der den Zeitgenossen
wie ein unbestechlicher Richter über ihre Gedanken und Thaten erschien.


Aber auch in diesem Fall sucht die Folgezeit unablässig hinter der Dichtung
den Dichter, hinter der Arbeit den Erfinder. Denn nicht das Geschaffene an
sich, sondern Geist. Gemüth. Charakter des Schaffenden, die wir daraus er¬
kennen, machen uns die Werke vergangener Menschen vertraulich. In diesem
Sinne schreiben wir rastlos Geschichten der Philosophie, der bildenden Kunst,
der Literatur, weil wir das Bedürfniß haben, zu verstehen, wie Lehre und
Kunstwerk geworden sind zuerst in den Menschen und dann in den Charak¬
teren höherer Ordnung, den Völkern. Die beste bildende und lebenspendende
Wirkung des erhaltenen Werkes beruht immer in dem persönlichen Verkehr,
der uns dadurch mit dem Werkmeister wird. Seine imponirende Eigenart,
seine Gedanken, die Farbe, welche aus seinem Gemüth in das Werk über¬
geht, sind uns das reizvollste.

Dem deutschen Gelehrten wird leicht, einzelne Unrichtigkeiten und be¬
schränktes Gesichtsfeld in den Werken Macaulay's nachzuweisen, unsere Me-
thode historischer Kritik ist unzweifelhaft die bessere. Und doch wird der Eng¬
länder für alle Zeit als einer der größten Geschichtsschreiber gelten, und eine
unermeßlich größere Wirkung auf die Bildung der späteren ausüben, als
andere nicht weniger glänzende und in vieler Forschung genauere Dar-
stellungen derselben Geschichte. Warum? Weil in der Größe, der männ-
Uchen Festigkeit seines Wesens, der wundervollen Dialektik seines politisch ge¬
schulten Geistes ein unwiderstehlicher Zauber liegt, er zieht den Leser zu sich
w die heitere, reine, wohlthuende Lust eines hochsinnigen Mannes. So sehr
suchen wir den Menschen in der Geschichte, daß wir den Charakter noch dann
«eben, wenn seine Werke uns ganz geschwunden sind. Was blieb von dem jün-
geren Cato zurück? nicht die Partei, der er treu war, nicht seine Reden, die
uns fast gänzlich verloren sind, machen die Schattengestalt uns so rührend,
sein Ethos ist es allein, sein merkwürdiger Charakter in einer argen Zeit.

Und wenn es jemals einen Mann gegeben hat. der vorzugsweise durch
seinen Charakter auf die Zeitgenossen wirkte, und den Abdruck seines Wesens
veredelnd in die Seelen des jüngeren Geschlechtes legte, so war dies der
stille ernste Gelehrte, dessen Lebensgeschichte wir hier empfehlen. So wird er
auch fortleben in der deutschen Geschichte, als das Idealbild, und als ein
typisches Bild aus der ersten Periode unserer politischen Bildung, in der die
deutschen Privatmenschen sich für Theilnahme am Staat eifrig rüsteten. Ein
schwerflüssiger, fester, reiner Mann, der bestehendes Recht und die sittlichen
Forderungen der Nation an den Staat mit maßvollen und strengem Urtheil
und doch in heißer Empfindung mit einander zu gesellen verstand. Einer
der besten Deutschen durch lauteren Sinn und inniges Gemüth, stolz und
edel in seinen Gedanken, unsträflich in seinem Thun, der den Zeitgenossen
wie ein unbestechlicher Richter über ihre Gedanken und Thaten erschien.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0411" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124031"/>
          <p xml:id="ID_1250" prev="#ID_1249"> Aber auch in diesem Fall sucht die Folgezeit unablässig hinter der Dichtung<lb/>
den Dichter, hinter der Arbeit den Erfinder. Denn nicht das Geschaffene an<lb/>
sich, sondern Geist. Gemüth. Charakter des Schaffenden, die wir daraus er¬<lb/>
kennen, machen uns die Werke vergangener Menschen vertraulich. In diesem<lb/>
Sinne schreiben wir rastlos Geschichten der Philosophie, der bildenden Kunst,<lb/>
der Literatur, weil wir das Bedürfniß haben, zu verstehen, wie Lehre und<lb/>
Kunstwerk geworden sind zuerst in den Menschen und dann in den Charak¬<lb/>
teren höherer Ordnung, den Völkern. Die beste bildende und lebenspendende<lb/>
Wirkung des erhaltenen Werkes beruht immer in dem persönlichen Verkehr,<lb/>
der uns dadurch mit dem Werkmeister wird. Seine imponirende Eigenart,<lb/>
seine Gedanken, die Farbe, welche aus seinem Gemüth in das Werk über¬<lb/>
geht, sind uns das reizvollste.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1251"> Dem deutschen Gelehrten wird leicht, einzelne Unrichtigkeiten und be¬<lb/>
schränktes Gesichtsfeld in den Werken Macaulay's nachzuweisen, unsere Me-<lb/>
thode historischer Kritik ist unzweifelhaft die bessere. Und doch wird der Eng¬<lb/>
länder für alle Zeit als einer der größten Geschichtsschreiber gelten, und eine<lb/>
unermeßlich größere Wirkung auf die Bildung der späteren ausüben, als<lb/>
andere nicht weniger glänzende und in vieler Forschung genauere Dar-<lb/>
stellungen derselben Geschichte. Warum? Weil in der Größe, der männ-<lb/>
Uchen Festigkeit seines Wesens, der wundervollen Dialektik seines politisch ge¬<lb/>
schulten Geistes ein unwiderstehlicher Zauber liegt, er zieht den Leser zu sich<lb/>
w die heitere, reine, wohlthuende Lust eines hochsinnigen Mannes. So sehr<lb/>
suchen wir den Menschen in der Geschichte, daß wir den Charakter noch dann<lb/>
«eben, wenn seine Werke uns ganz geschwunden sind. Was blieb von dem jün-<lb/>
geren Cato zurück? nicht die Partei, der er treu war, nicht seine Reden, die<lb/>
uns fast gänzlich verloren sind, machen die Schattengestalt uns so rührend,<lb/>
sein Ethos ist es allein, sein merkwürdiger Charakter in einer argen Zeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1252"> Und wenn es jemals einen Mann gegeben hat. der vorzugsweise durch<lb/>
seinen Charakter auf die Zeitgenossen wirkte, und den Abdruck seines Wesens<lb/>
veredelnd in die Seelen des jüngeren Geschlechtes legte, so war dies der<lb/>
stille ernste Gelehrte, dessen Lebensgeschichte wir hier empfehlen. So wird er<lb/>
auch fortleben in der deutschen Geschichte, als das Idealbild, und als ein<lb/>
typisches Bild aus der ersten Periode unserer politischen Bildung, in der die<lb/>
deutschen Privatmenschen sich für Theilnahme am Staat eifrig rüsteten. Ein<lb/>
schwerflüssiger, fester, reiner Mann, der bestehendes Recht und die sittlichen<lb/>
Forderungen der Nation an den Staat mit maßvollen und strengem Urtheil<lb/>
und doch in heißer Empfindung mit einander zu gesellen verstand. Einer<lb/>
der besten Deutschen durch lauteren Sinn und inniges Gemüth, stolz und<lb/>
edel in seinen Gedanken, unsträflich in seinem Thun, der den Zeitgenossen<lb/>
wie ein unbestechlicher Richter über ihre Gedanken und Thaten erschien.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0411] Aber auch in diesem Fall sucht die Folgezeit unablässig hinter der Dichtung den Dichter, hinter der Arbeit den Erfinder. Denn nicht das Geschaffene an sich, sondern Geist. Gemüth. Charakter des Schaffenden, die wir daraus er¬ kennen, machen uns die Werke vergangener Menschen vertraulich. In diesem Sinne schreiben wir rastlos Geschichten der Philosophie, der bildenden Kunst, der Literatur, weil wir das Bedürfniß haben, zu verstehen, wie Lehre und Kunstwerk geworden sind zuerst in den Menschen und dann in den Charak¬ teren höherer Ordnung, den Völkern. Die beste bildende und lebenspendende Wirkung des erhaltenen Werkes beruht immer in dem persönlichen Verkehr, der uns dadurch mit dem Werkmeister wird. Seine imponirende Eigenart, seine Gedanken, die Farbe, welche aus seinem Gemüth in das Werk über¬ geht, sind uns das reizvollste. Dem deutschen Gelehrten wird leicht, einzelne Unrichtigkeiten und be¬ schränktes Gesichtsfeld in den Werken Macaulay's nachzuweisen, unsere Me- thode historischer Kritik ist unzweifelhaft die bessere. Und doch wird der Eng¬ länder für alle Zeit als einer der größten Geschichtsschreiber gelten, und eine unermeßlich größere Wirkung auf die Bildung der späteren ausüben, als andere nicht weniger glänzende und in vieler Forschung genauere Dar- stellungen derselben Geschichte. Warum? Weil in der Größe, der männ- Uchen Festigkeit seines Wesens, der wundervollen Dialektik seines politisch ge¬ schulten Geistes ein unwiderstehlicher Zauber liegt, er zieht den Leser zu sich w die heitere, reine, wohlthuende Lust eines hochsinnigen Mannes. So sehr suchen wir den Menschen in der Geschichte, daß wir den Charakter noch dann «eben, wenn seine Werke uns ganz geschwunden sind. Was blieb von dem jün- geren Cato zurück? nicht die Partei, der er treu war, nicht seine Reden, die uns fast gänzlich verloren sind, machen die Schattengestalt uns so rührend, sein Ethos ist es allein, sein merkwürdiger Charakter in einer argen Zeit. Und wenn es jemals einen Mann gegeben hat. der vorzugsweise durch seinen Charakter auf die Zeitgenossen wirkte, und den Abdruck seines Wesens veredelnd in die Seelen des jüngeren Geschlechtes legte, so war dies der stille ernste Gelehrte, dessen Lebensgeschichte wir hier empfehlen. So wird er auch fortleben in der deutschen Geschichte, als das Idealbild, und als ein typisches Bild aus der ersten Periode unserer politischen Bildung, in der die deutschen Privatmenschen sich für Theilnahme am Staat eifrig rüsteten. Ein schwerflüssiger, fester, reiner Mann, der bestehendes Recht und die sittlichen Forderungen der Nation an den Staat mit maßvollen und strengem Urtheil und doch in heißer Empfindung mit einander zu gesellen verstand. Einer der besten Deutschen durch lauteren Sinn und inniges Gemüth, stolz und edel in seinen Gedanken, unsträflich in seinem Thun, der den Zeitgenossen wie ein unbestechlicher Richter über ihre Gedanken und Thaten erschien.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/411
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/411>, abgerufen am 18.12.2024.