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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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überziehen lassen. Historisch politisch hat Sicilien, alle Zeiten miteinander
verglichen, nur ausnahmsweise zu Italien gehört. Natürlich wäre es Thor¬
heit, die unzähligen Bezüge zu bestreiten, die stets zwischen dem Süden des
Festlandes und der Insel obgewaltet haben, denn Meere und Meerengen
sind keine Grenzen oder sollten es wenigstens nicht sein. Durch die Meer¬
enge von Messina ziehen sich dieselben Kalkapenninen nach Sicilien hinüber,
dieselben Thiere und Pflanzen leben auf ihnen, das Klima und die Producte
entsprechen denen des neapolitanischen Südens. In der Urzeit wanderten
aus der calabrischen Halbinsel die Siculer in das Eiland hinüber, und wie
wichtig gerade sie sür dasselbe wurden, zeigt, daß von den vielen Namen der
Insel der von ihnen herrührende bis heut geblieben ist. Ebenso wohnten die
griechischen Colonien, welche mit ihrer Civilisation das ganze Alterthum und
nicht am mindesten diese Gestade beherrschten, auf beiden Seiten der Meer¬
enge und waren durch gleiche Cultur, durch tausendfältige Verbindungen ver¬
knüpft und fühlten sich wie Glieder Eines Volkes. Später herrschten die
byzantinischen Imperatoren zugleich über beide Ländergebiete, und von Apulien
und Calabrien setzte das reisige Heldengeschlecht der normännischen Ritter¬
herzöge nach der Insel erobernd über. -- Gleichwohl sind die Strudel der
Charybdis und die Strömungen des Färö meist nicht eine Völkerbrücke, son¬
dern eine Völkerscheide gewesen und zu allen Zeiten war der insulare Cha¬
rakter der meerumbrandeten Trinacria das vorherrschende Element. Den
Römern hörte Italien bei Rhegium auf und Sicilien ward ihre erste Pro¬
vinz; die Heerhaufen der Langobarden standen am Fretum Sieulum still; die
Araber, welche in Sicilien herrschten, griffen nur auf kurze Zeit und in ge'
ringen Maße auf das Festland über, in der über 400 Jahre währenden
Zeit zuerst aragonesischer, dann spanischer Herrschaft war Sicilien und wäh¬
rend der zweiten Hälfte Neapel durch wenig mehr als durch Personalunion
mit Spanien verbunden und wurde durch Vicekönige regiert, und noch in
bourvonischer Zeit bildete das Felseneiland ein eigenes Königreich. Eine
wirkliche engere Vereinigung mit Italien oder Theilen desselben hat nur drei
Mal stattgefunden, einmal während der kurzen gothischen Periode, dann unter
der normannischen und hohenstaufischen Dynastie, in welcher Zeit sich auch
zuerst die einheitliche Sprache ausbildete, und endlich, wenn man will, zuletzt
unter den Bourbonen. Das Resultat der geschichtlichen Entwickelung, wie
es sich in dem Volksbewußtsein darstellt, ist immer, daß das patriotische Ge¬
fühl sich auf das reZnv beschränkt, worunter jeder Insulaner nur Sicilien
versteht, daß der Italiarw nicht minder wie der Inglese und ?raneess in die
Kategorie der ?orestisri gehört, und die das jetzige Italien durchziehende
Bewegung über die Frage der Autonomie, das Streben, die einzelnen Pro¬
vinzen mit beinahe souveräner Selbstregierung auszustatten und etwa wie


überziehen lassen. Historisch politisch hat Sicilien, alle Zeiten miteinander
verglichen, nur ausnahmsweise zu Italien gehört. Natürlich wäre es Thor¬
heit, die unzähligen Bezüge zu bestreiten, die stets zwischen dem Süden des
Festlandes und der Insel obgewaltet haben, denn Meere und Meerengen
sind keine Grenzen oder sollten es wenigstens nicht sein. Durch die Meer¬
enge von Messina ziehen sich dieselben Kalkapenninen nach Sicilien hinüber,
dieselben Thiere und Pflanzen leben auf ihnen, das Klima und die Producte
entsprechen denen des neapolitanischen Südens. In der Urzeit wanderten
aus der calabrischen Halbinsel die Siculer in das Eiland hinüber, und wie
wichtig gerade sie sür dasselbe wurden, zeigt, daß von den vielen Namen der
Insel der von ihnen herrührende bis heut geblieben ist. Ebenso wohnten die
griechischen Colonien, welche mit ihrer Civilisation das ganze Alterthum und
nicht am mindesten diese Gestade beherrschten, auf beiden Seiten der Meer¬
enge und waren durch gleiche Cultur, durch tausendfältige Verbindungen ver¬
knüpft und fühlten sich wie Glieder Eines Volkes. Später herrschten die
byzantinischen Imperatoren zugleich über beide Ländergebiete, und von Apulien
und Calabrien setzte das reisige Heldengeschlecht der normännischen Ritter¬
herzöge nach der Insel erobernd über. — Gleichwohl sind die Strudel der
Charybdis und die Strömungen des Färö meist nicht eine Völkerbrücke, son¬
dern eine Völkerscheide gewesen und zu allen Zeiten war der insulare Cha¬
rakter der meerumbrandeten Trinacria das vorherrschende Element. Den
Römern hörte Italien bei Rhegium auf und Sicilien ward ihre erste Pro¬
vinz; die Heerhaufen der Langobarden standen am Fretum Sieulum still; die
Araber, welche in Sicilien herrschten, griffen nur auf kurze Zeit und in ge'
ringen Maße auf das Festland über, in der über 400 Jahre währenden
Zeit zuerst aragonesischer, dann spanischer Herrschaft war Sicilien und wäh¬
rend der zweiten Hälfte Neapel durch wenig mehr als durch Personalunion
mit Spanien verbunden und wurde durch Vicekönige regiert, und noch in
bourvonischer Zeit bildete das Felseneiland ein eigenes Königreich. Eine
wirkliche engere Vereinigung mit Italien oder Theilen desselben hat nur drei
Mal stattgefunden, einmal während der kurzen gothischen Periode, dann unter
der normannischen und hohenstaufischen Dynastie, in welcher Zeit sich auch
zuerst die einheitliche Sprache ausbildete, und endlich, wenn man will, zuletzt
unter den Bourbonen. Das Resultat der geschichtlichen Entwickelung, wie
es sich in dem Volksbewußtsein darstellt, ist immer, daß das patriotische Ge¬
fühl sich auf das reZnv beschränkt, worunter jeder Insulaner nur Sicilien
versteht, daß der Italiarw nicht minder wie der Inglese und ?raneess in die
Kategorie der ?orestisri gehört, und die das jetzige Italien durchziehende
Bewegung über die Frage der Autonomie, das Streben, die einzelnen Pro¬
vinzen mit beinahe souveräner Selbstregierung auszustatten und etwa wie


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[0368] überziehen lassen. Historisch politisch hat Sicilien, alle Zeiten miteinander verglichen, nur ausnahmsweise zu Italien gehört. Natürlich wäre es Thor¬ heit, die unzähligen Bezüge zu bestreiten, die stets zwischen dem Süden des Festlandes und der Insel obgewaltet haben, denn Meere und Meerengen sind keine Grenzen oder sollten es wenigstens nicht sein. Durch die Meer¬ enge von Messina ziehen sich dieselben Kalkapenninen nach Sicilien hinüber, dieselben Thiere und Pflanzen leben auf ihnen, das Klima und die Producte entsprechen denen des neapolitanischen Südens. In der Urzeit wanderten aus der calabrischen Halbinsel die Siculer in das Eiland hinüber, und wie wichtig gerade sie sür dasselbe wurden, zeigt, daß von den vielen Namen der Insel der von ihnen herrührende bis heut geblieben ist. Ebenso wohnten die griechischen Colonien, welche mit ihrer Civilisation das ganze Alterthum und nicht am mindesten diese Gestade beherrschten, auf beiden Seiten der Meer¬ enge und waren durch gleiche Cultur, durch tausendfältige Verbindungen ver¬ knüpft und fühlten sich wie Glieder Eines Volkes. Später herrschten die byzantinischen Imperatoren zugleich über beide Ländergebiete, und von Apulien und Calabrien setzte das reisige Heldengeschlecht der normännischen Ritter¬ herzöge nach der Insel erobernd über. — Gleichwohl sind die Strudel der Charybdis und die Strömungen des Färö meist nicht eine Völkerbrücke, son¬ dern eine Völkerscheide gewesen und zu allen Zeiten war der insulare Cha¬ rakter der meerumbrandeten Trinacria das vorherrschende Element. Den Römern hörte Italien bei Rhegium auf und Sicilien ward ihre erste Pro¬ vinz; die Heerhaufen der Langobarden standen am Fretum Sieulum still; die Araber, welche in Sicilien herrschten, griffen nur auf kurze Zeit und in ge' ringen Maße auf das Festland über, in der über 400 Jahre währenden Zeit zuerst aragonesischer, dann spanischer Herrschaft war Sicilien und wäh¬ rend der zweiten Hälfte Neapel durch wenig mehr als durch Personalunion mit Spanien verbunden und wurde durch Vicekönige regiert, und noch in bourvonischer Zeit bildete das Felseneiland ein eigenes Königreich. Eine wirkliche engere Vereinigung mit Italien oder Theilen desselben hat nur drei Mal stattgefunden, einmal während der kurzen gothischen Periode, dann unter der normannischen und hohenstaufischen Dynastie, in welcher Zeit sich auch zuerst die einheitliche Sprache ausbildete, und endlich, wenn man will, zuletzt unter den Bourbonen. Das Resultat der geschichtlichen Entwickelung, wie es sich in dem Volksbewußtsein darstellt, ist immer, daß das patriotische Ge¬ fühl sich auf das reZnv beschränkt, worunter jeder Insulaner nur Sicilien versteht, daß der Italiarw nicht minder wie der Inglese und ?raneess in die Kategorie der ?orestisri gehört, und die das jetzige Italien durchziehende Bewegung über die Frage der Autonomie, das Streben, die einzelnen Pro¬ vinzen mit beinahe souveräner Selbstregierung auszustatten und etwa wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/368>, abgerufen am 27.07.2024.