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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Unterdeß lebt die Nation, während dies geschrieben wird, in der letzten
Verhängntßvollen Woche des Reichstages, in der Zeit, wo das Schicksal der
wichtigsten Gesetzvorlagen entschieden wird, wo die Partei-Gegensätze sich bis
zum Aeußersten spannen, wo beim Namensaufruf jedes Ja oder Nein der
Abstimmenden mit starker Aufregung erwartet, mit Geräusch begrüßt wird.
Dies aber ist auch die Woche, wo über dem Getöse der Parteimeinungen
dem gesunden Menschenverstand und Gewissen der Volksvertreter die größten
Zumuthungen gestellt werden.

Noch nie seit der Reichstag des Norddeutschen Bundes besteht, war
die Erregung so groß, als Montag den 23. beim Beginn der entscheidenden
Lesung des Strafgesetzbuches. Alle Parteien hatten ihre abwesenden Mitglie-
der einberufen. Sonnengebräunte Gutsbesitzer der Rechten waren der bevor¬
stehenden Schafschur entrissen worden, ein Berne Polen war auf den Hilfe¬
ruf der Linken zugeschwärmt, sogar die Socialisten saßen zu trotzigen Protesten
gerüstet in ihrer Ecke und Graf Bismarck war aus seinem Krankenzimmer
nach Berlin ausgebrochen, um bei der entscheidenden Schlacht wieder einmal
das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale zu legen.

Diese Spannung vor der Entscheidung war nicht unnatürlich, das neue
Strafgesetzbuch wird, wenn die Vereinbarung gelingt, auf einem besonders
wichtigen Rechtsgebiet eine Einheit für 30 Millionen schaffen, es wird der
größte innere Fortschritt der Bundesautorität seit der Constituirung sein,
es soll die Obmacht des Bundes gegenüber einigen Staaten erweisen,
welche von Preußen bis dahin mit besonderer Rücksicht behandelt wor¬
den sind.

Auch für den Reichstag handelte es sich darum, ob die angestrengte
Arbeit der Session resultatlos sein und ob vor den neuen Wahlen die Ver¬
sammlung ihren Wählern den Eindruck innerer Zwiste und unzureichender
Einwirkung auf die Regierung machen sollte. Alle geheimen Gegner des
Bundes waren vereint, das Gesetz zu Falle zu bringen, viele Bundestreue
standen in schwerer Sorge, weil sie in einigen Punkten der Regierung die
Zugeständnisse nicht machen konnten, welche nöthig waren, um das Gesetz
zu sichern.

Es war vor allen Paragraph 1 des Gesetzes, die große Frage ob Todes¬
strafe oder nicht, warum es sich handelte. Noch einmal wurde gut und
würdig verhandelt. Die Reden der Minister Graf Bismarck und v. Leonhardt
für die Vorlage, des Grafen Schwerin und Miquel's für den Compromiß
und Laster's gegen den Compromiß sind sämmtlich von erstem Range,
sie sind treffliche Zusammenstellungen der wichtigen Gründe, welche sich
für und wider die Annahme des Gesetzes sagen lassen. Die Abstimmung
ergab ein geringes Mehr für Todesstrafe bei überlegten Mord. Nach


41*

Unterdeß lebt die Nation, während dies geschrieben wird, in der letzten
Verhängntßvollen Woche des Reichstages, in der Zeit, wo das Schicksal der
wichtigsten Gesetzvorlagen entschieden wird, wo die Partei-Gegensätze sich bis
zum Aeußersten spannen, wo beim Namensaufruf jedes Ja oder Nein der
Abstimmenden mit starker Aufregung erwartet, mit Geräusch begrüßt wird.
Dies aber ist auch die Woche, wo über dem Getöse der Parteimeinungen
dem gesunden Menschenverstand und Gewissen der Volksvertreter die größten
Zumuthungen gestellt werden.

Noch nie seit der Reichstag des Norddeutschen Bundes besteht, war
die Erregung so groß, als Montag den 23. beim Beginn der entscheidenden
Lesung des Strafgesetzbuches. Alle Parteien hatten ihre abwesenden Mitglie-
der einberufen. Sonnengebräunte Gutsbesitzer der Rechten waren der bevor¬
stehenden Schafschur entrissen worden, ein Berne Polen war auf den Hilfe¬
ruf der Linken zugeschwärmt, sogar die Socialisten saßen zu trotzigen Protesten
gerüstet in ihrer Ecke und Graf Bismarck war aus seinem Krankenzimmer
nach Berlin ausgebrochen, um bei der entscheidenden Schlacht wieder einmal
das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale zu legen.

Diese Spannung vor der Entscheidung war nicht unnatürlich, das neue
Strafgesetzbuch wird, wenn die Vereinbarung gelingt, auf einem besonders
wichtigen Rechtsgebiet eine Einheit für 30 Millionen schaffen, es wird der
größte innere Fortschritt der Bundesautorität seit der Constituirung sein,
es soll die Obmacht des Bundes gegenüber einigen Staaten erweisen,
welche von Preußen bis dahin mit besonderer Rücksicht behandelt wor¬
den sind.

Auch für den Reichstag handelte es sich darum, ob die angestrengte
Arbeit der Session resultatlos sein und ob vor den neuen Wahlen die Ver¬
sammlung ihren Wählern den Eindruck innerer Zwiste und unzureichender
Einwirkung auf die Regierung machen sollte. Alle geheimen Gegner des
Bundes waren vereint, das Gesetz zu Falle zu bringen, viele Bundestreue
standen in schwerer Sorge, weil sie in einigen Punkten der Regierung die
Zugeständnisse nicht machen konnten, welche nöthig waren, um das Gesetz
zu sichern.

Es war vor allen Paragraph 1 des Gesetzes, die große Frage ob Todes¬
strafe oder nicht, warum es sich handelte. Noch einmal wurde gut und
würdig verhandelt. Die Reden der Minister Graf Bismarck und v. Leonhardt
für die Vorlage, des Grafen Schwerin und Miquel's für den Compromiß
und Laster's gegen den Compromiß sind sämmtlich von erstem Range,
sie sind treffliche Zusammenstellungen der wichtigen Gründe, welche sich
für und wider die Annahme des Gesetzes sagen lassen. Die Abstimmung
ergab ein geringes Mehr für Todesstrafe bei überlegten Mord. Nach


41*
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[0329] Unterdeß lebt die Nation, während dies geschrieben wird, in der letzten Verhängntßvollen Woche des Reichstages, in der Zeit, wo das Schicksal der wichtigsten Gesetzvorlagen entschieden wird, wo die Partei-Gegensätze sich bis zum Aeußersten spannen, wo beim Namensaufruf jedes Ja oder Nein der Abstimmenden mit starker Aufregung erwartet, mit Geräusch begrüßt wird. Dies aber ist auch die Woche, wo über dem Getöse der Parteimeinungen dem gesunden Menschenverstand und Gewissen der Volksvertreter die größten Zumuthungen gestellt werden. Noch nie seit der Reichstag des Norddeutschen Bundes besteht, war die Erregung so groß, als Montag den 23. beim Beginn der entscheidenden Lesung des Strafgesetzbuches. Alle Parteien hatten ihre abwesenden Mitglie- der einberufen. Sonnengebräunte Gutsbesitzer der Rechten waren der bevor¬ stehenden Schafschur entrissen worden, ein Berne Polen war auf den Hilfe¬ ruf der Linken zugeschwärmt, sogar die Socialisten saßen zu trotzigen Protesten gerüstet in ihrer Ecke und Graf Bismarck war aus seinem Krankenzimmer nach Berlin ausgebrochen, um bei der entscheidenden Schlacht wieder einmal das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale zu legen. Diese Spannung vor der Entscheidung war nicht unnatürlich, das neue Strafgesetzbuch wird, wenn die Vereinbarung gelingt, auf einem besonders wichtigen Rechtsgebiet eine Einheit für 30 Millionen schaffen, es wird der größte innere Fortschritt der Bundesautorität seit der Constituirung sein, es soll die Obmacht des Bundes gegenüber einigen Staaten erweisen, welche von Preußen bis dahin mit besonderer Rücksicht behandelt wor¬ den sind. Auch für den Reichstag handelte es sich darum, ob die angestrengte Arbeit der Session resultatlos sein und ob vor den neuen Wahlen die Ver¬ sammlung ihren Wählern den Eindruck innerer Zwiste und unzureichender Einwirkung auf die Regierung machen sollte. Alle geheimen Gegner des Bundes waren vereint, das Gesetz zu Falle zu bringen, viele Bundestreue standen in schwerer Sorge, weil sie in einigen Punkten der Regierung die Zugeständnisse nicht machen konnten, welche nöthig waren, um das Gesetz zu sichern. Es war vor allen Paragraph 1 des Gesetzes, die große Frage ob Todes¬ strafe oder nicht, warum es sich handelte. Noch einmal wurde gut und würdig verhandelt. Die Reden der Minister Graf Bismarck und v. Leonhardt für die Vorlage, des Grafen Schwerin und Miquel's für den Compromiß und Laster's gegen den Compromiß sind sämmtlich von erstem Range, sie sind treffliche Zusammenstellungen der wichtigen Gründe, welche sich für und wider die Annahme des Gesetzes sagen lassen. Die Abstimmung ergab ein geringes Mehr für Todesstrafe bei überlegten Mord. Nach 41*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/329>, abgerufen am 18.12.2024.