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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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des früheren Lebens zu erspähen suchen, in denen der Lebende am liebsten
sich und seine Tüchtigkeit erkennt.

Zuerst sah der Deutsche in der Vergangenheit nur die Schlachten und
die Schwertschläge seiner Helden, allmälig suchte er den verständigen Zusam¬
menhang der auffälligen Ereignisse; seit er dem fürstlichen Status diente,
wurde ihm die Geschichte zu einer großen Staatsaction der Politiker in Har¬
nisch und Alongenperücke; seit ihn die Schönseligkeit erreicht hatte, das "Natür¬
liche" im englischen Landschaftsgarten und die Freude am Origineller, begann
er sich etwas um die Literaturgeschichte seines Volkes zu kümmern, las ver¬
wundert aus den Nibelungen, und fand die Sprüche, Beispiele und Fabeln
des Mittelalters merkwürdig. Dann kam die größte innere Wandlung der
Deutschen, zur Zeit Jenen. Kant's, der französischen Revolution und der Be¬
kanntschaft mit Shakespeare das fast plötzliche, einem Wunder gleiche Er¬
wachen eines neuen historischen Sinnes: Verständniß für das Charakte¬
ristische fremden Volksthums, eine erhebende und beglückende Ahnung von
der innern Gesetzlichkeit im Verlauf jedes nationalen Lebens. Seitdem suchte
Man die Lieder und Poesien aller Völker. Sagen, Rcchtsbräuche, Sprachge¬
setze und Schrift. Eine von der frühern radical verschiedene Methode, Ge¬
schichte zu schreiben, begann. Wolf streicht den alten blinden Vater Homer
aus dem Titel der Ilias und Odyssee und Niebuhr verfaßt eine römische Ge¬
schichte, worin er Romulus und Remus mit ihrer Wölfin, die länger als
2000 Jahre jedem Schulknaben eingebläut worden waren, mit einem souve¬
ränen Federstrich gänzlich aus der Weltgeschichte entfernt. Und wäh¬
rend die gesteigerte Kenntniß fremden Volkslebens einen unermeßlichen Strom
von neuen Anschauungen und Genüssen, von Combinationen und hohen
Ideen in unsere Seelen leitete, arbeiteten die Naturwissenschaften, die uner¬
müdlichen Regulatoren unseres Denkens, um uns die Sinne zu schärfen,
die Methode der Beobachtungen zu verbessern. Wir lernten anders sehen,
das Bedürfniß nach historischer Wahrheit wurde ein weit feineres. Eine
neue großartige Kritik und Sammlung aller alten Schriftdenkmäler begann,
^- wir sind noch mitten darin. Und seitdem hat jedes Jahrzehnt unserer
Geschichtswissenschaft zu den vorhandenen neue Aufgaben gebracht. Unermeßlich
Vieles aus alter Vergangenheit und fremden Welttheilen wurde neu entdeckt
und rastlos Deutung des Unverständlichen gewagt. Und wieder die schnelle
Entfaltung des modernen Verkehrslebens brachte zugleich mit den neuen
Problemen für unsere Politiker auch sür unsere Historikers neues Verständniß.
Seit der französischen Revolution wurde die Staatsverfassung von Rom und
Griechenland wichtig, seit den Eisenbahnen und den Dampfschiffen Untersuch"",
gen über Handel, Verkehr und Production alter Zeit, seit dem Aufblühen unserer
Städte und der Kräftigung des Bürgerthums umfangreiche Forschungen


des früheren Lebens zu erspähen suchen, in denen der Lebende am liebsten
sich und seine Tüchtigkeit erkennt.

Zuerst sah der Deutsche in der Vergangenheit nur die Schlachten und
die Schwertschläge seiner Helden, allmälig suchte er den verständigen Zusam¬
menhang der auffälligen Ereignisse; seit er dem fürstlichen Status diente,
wurde ihm die Geschichte zu einer großen Staatsaction der Politiker in Har¬
nisch und Alongenperücke; seit ihn die Schönseligkeit erreicht hatte, das „Natür¬
liche" im englischen Landschaftsgarten und die Freude am Origineller, begann
er sich etwas um die Literaturgeschichte seines Volkes zu kümmern, las ver¬
wundert aus den Nibelungen, und fand die Sprüche, Beispiele und Fabeln
des Mittelalters merkwürdig. Dann kam die größte innere Wandlung der
Deutschen, zur Zeit Jenen. Kant's, der französischen Revolution und der Be¬
kanntschaft mit Shakespeare das fast plötzliche, einem Wunder gleiche Er¬
wachen eines neuen historischen Sinnes: Verständniß für das Charakte¬
ristische fremden Volksthums, eine erhebende und beglückende Ahnung von
der innern Gesetzlichkeit im Verlauf jedes nationalen Lebens. Seitdem suchte
Man die Lieder und Poesien aller Völker. Sagen, Rcchtsbräuche, Sprachge¬
setze und Schrift. Eine von der frühern radical verschiedene Methode, Ge¬
schichte zu schreiben, begann. Wolf streicht den alten blinden Vater Homer
aus dem Titel der Ilias und Odyssee und Niebuhr verfaßt eine römische Ge¬
schichte, worin er Romulus und Remus mit ihrer Wölfin, die länger als
2000 Jahre jedem Schulknaben eingebläut worden waren, mit einem souve¬
ränen Federstrich gänzlich aus der Weltgeschichte entfernt. Und wäh¬
rend die gesteigerte Kenntniß fremden Volkslebens einen unermeßlichen Strom
von neuen Anschauungen und Genüssen, von Combinationen und hohen
Ideen in unsere Seelen leitete, arbeiteten die Naturwissenschaften, die uner¬
müdlichen Regulatoren unseres Denkens, um uns die Sinne zu schärfen,
die Methode der Beobachtungen zu verbessern. Wir lernten anders sehen,
das Bedürfniß nach historischer Wahrheit wurde ein weit feineres. Eine
neue großartige Kritik und Sammlung aller alten Schriftdenkmäler begann,
^- wir sind noch mitten darin. Und seitdem hat jedes Jahrzehnt unserer
Geschichtswissenschaft zu den vorhandenen neue Aufgaben gebracht. Unermeßlich
Vieles aus alter Vergangenheit und fremden Welttheilen wurde neu entdeckt
und rastlos Deutung des Unverständlichen gewagt. Und wieder die schnelle
Entfaltung des modernen Verkehrslebens brachte zugleich mit den neuen
Problemen für unsere Politiker auch sür unsere Historikers neues Verständniß.
Seit der französischen Revolution wurde die Staatsverfassung von Rom und
Griechenland wichtig, seit den Eisenbahnen und den Dampfschiffen Untersuch»»,
gen über Handel, Verkehr und Production alter Zeit, seit dem Aufblühen unserer
Städte und der Kräftigung des Bürgerthums umfangreiche Forschungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/317>, abgerufen am 27.07.2024.