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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Mus, er hat sich eher noch vermehrt, obgleich oder vielmehr weil die Mehr¬
heit eine noch geringere geworden. Mit den Volkskundgebungen zu Gunsten
der Demokraten bei den öfteren Referendum-Abstimmungen ging es seither
immer äseroseenän und die letzte Stimmgabe vom 24. April d. I. hat
wieder ein bedeutendes Minus gegen die frühern zu Tage gefördert, ja das
Fabrikgesetz, auf welches man als aus einen Köder für die Arbeiterclasse zur
Zeit des Revisionssturmes ein ganz besonderes Gewicht gelegt hatte, wurde
verworfen, da eben diese Classe sich in ihrer Mehrheit gegen dasselbe aus-
sprach, und das Steuergesetz ging nur mit knapper Majorität durch.

Bemerkenswerth ist aber auch die große Zahl derer, die sich beim letzten
Referendum der Abstimmung enthielten. Denn bei dem Eifer, mit welchem
von den Führern der Demokratie ihr Anhang zur Wahlurne getrieben
zu werden pflegt, darf man es keineswegs für zufällig oder für ein Zeichen
der Erschlaffung ansehen, daß die Zahl der Stimmender so gering ge¬
wesen. Hätte die zahlreiche Bevölkerung der Stadt und des linken See¬
ufers sich nicht von der muthlosen Reflexion zu sehr beherrschen lassen, ihre
Stimmgebung gegen die Demokraten sei doch eine vergebliche, so wäre ohne
Zweifel auch das wichtige Steuergesetz verworfen worden und die Führer der
letzteren Partei wären in die größte Verlegenheit gekommen. Es kann in
dieser Beziehung der liberalen Partei der Vorwurf nicht erspart werden, daß
sie hier einen großen Fehler begangen, die Ihrigen nicht mit aller Energie
zur allgemeinen Theilnahme an dem Votum anzufeuern.

Die Demokraten hatten ihre Agitation mit großen Versprechungen be¬
gonnen, ja selbst mit poesiereichen Idealen, welche letztere jedoch schon wäh¬
rend der ersten Anfänge der Bewegung von dem trüben Wellenschlag der
zum Theil künstlich erregten Volksletdenschaften verschlungen oder in häßliche
Zerrbilder verwandelt wurden. Von den Versprechungen waren gerade die
schönsten von vornherein praktisch unausführbar, andere bringen jetzt, nach¬
dem sie gehalten sind, mehr Lasten als Vortheile. Dies ist der Grund,
warum so Viele, welche sich bisher der Bewegung angeschlossen, jetzt, da sie
doch auch sich scheuen, ins andere Lager überzugehen und gegen die neuen,
einst aus Parteiprincipien geforderten Gesetze zu stimmen, sich des Votums
enthalten. Während die Demokraten früher bei jeder Gelegenheit mit ihren
60,000 Stimmen prahlten, dürfen sie jetzt jeder Abstimmung nur mit einem
gewissen Bangen entgegenblicken. Während jene zunehmende Enthaltung
als ein Beweis der bet der Menge allmälig eintretenden ruhigeren Ueber-
legung und Prüfung und als ein Schwinden der Parteileidenschaft an¬
gesehen werden muß, wirkt diese Wahrnehmung bei den Führern der Demo¬
kraten in umgekehrtem Sinne: ihre Gereiztheit nimmt zu und ihre Leiden-


Mus, er hat sich eher noch vermehrt, obgleich oder vielmehr weil die Mehr¬
heit eine noch geringere geworden. Mit den Volkskundgebungen zu Gunsten
der Demokraten bei den öfteren Referendum-Abstimmungen ging es seither
immer äseroseenän und die letzte Stimmgabe vom 24. April d. I. hat
wieder ein bedeutendes Minus gegen die frühern zu Tage gefördert, ja das
Fabrikgesetz, auf welches man als aus einen Köder für die Arbeiterclasse zur
Zeit des Revisionssturmes ein ganz besonderes Gewicht gelegt hatte, wurde
verworfen, da eben diese Classe sich in ihrer Mehrheit gegen dasselbe aus-
sprach, und das Steuergesetz ging nur mit knapper Majorität durch.

Bemerkenswerth ist aber auch die große Zahl derer, die sich beim letzten
Referendum der Abstimmung enthielten. Denn bei dem Eifer, mit welchem
von den Führern der Demokratie ihr Anhang zur Wahlurne getrieben
zu werden pflegt, darf man es keineswegs für zufällig oder für ein Zeichen
der Erschlaffung ansehen, daß die Zahl der Stimmender so gering ge¬
wesen. Hätte die zahlreiche Bevölkerung der Stadt und des linken See¬
ufers sich nicht von der muthlosen Reflexion zu sehr beherrschen lassen, ihre
Stimmgebung gegen die Demokraten sei doch eine vergebliche, so wäre ohne
Zweifel auch das wichtige Steuergesetz verworfen worden und die Führer der
letzteren Partei wären in die größte Verlegenheit gekommen. Es kann in
dieser Beziehung der liberalen Partei der Vorwurf nicht erspart werden, daß
sie hier einen großen Fehler begangen, die Ihrigen nicht mit aller Energie
zur allgemeinen Theilnahme an dem Votum anzufeuern.

Die Demokraten hatten ihre Agitation mit großen Versprechungen be¬
gonnen, ja selbst mit poesiereichen Idealen, welche letztere jedoch schon wäh¬
rend der ersten Anfänge der Bewegung von dem trüben Wellenschlag der
zum Theil künstlich erregten Volksletdenschaften verschlungen oder in häßliche
Zerrbilder verwandelt wurden. Von den Versprechungen waren gerade die
schönsten von vornherein praktisch unausführbar, andere bringen jetzt, nach¬
dem sie gehalten sind, mehr Lasten als Vortheile. Dies ist der Grund,
warum so Viele, welche sich bisher der Bewegung angeschlossen, jetzt, da sie
doch auch sich scheuen, ins andere Lager überzugehen und gegen die neuen,
einst aus Parteiprincipien geforderten Gesetze zu stimmen, sich des Votums
enthalten. Während die Demokraten früher bei jeder Gelegenheit mit ihren
60,000 Stimmen prahlten, dürfen sie jetzt jeder Abstimmung nur mit einem
gewissen Bangen entgegenblicken. Während jene zunehmende Enthaltung
als ein Beweis der bet der Menge allmälig eintretenden ruhigeren Ueber-
legung und Prüfung und als ein Schwinden der Parteileidenschaft an¬
gesehen werden muß, wirkt diese Wahrnehmung bei den Führern der Demo¬
kraten in umgekehrtem Sinne: ihre Gereiztheit nimmt zu und ihre Leiden-


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[0309] Mus, er hat sich eher noch vermehrt, obgleich oder vielmehr weil die Mehr¬ heit eine noch geringere geworden. Mit den Volkskundgebungen zu Gunsten der Demokraten bei den öfteren Referendum-Abstimmungen ging es seither immer äseroseenän und die letzte Stimmgabe vom 24. April d. I. hat wieder ein bedeutendes Minus gegen die frühern zu Tage gefördert, ja das Fabrikgesetz, auf welches man als aus einen Köder für die Arbeiterclasse zur Zeit des Revisionssturmes ein ganz besonderes Gewicht gelegt hatte, wurde verworfen, da eben diese Classe sich in ihrer Mehrheit gegen dasselbe aus- sprach, und das Steuergesetz ging nur mit knapper Majorität durch. Bemerkenswerth ist aber auch die große Zahl derer, die sich beim letzten Referendum der Abstimmung enthielten. Denn bei dem Eifer, mit welchem von den Führern der Demokratie ihr Anhang zur Wahlurne getrieben zu werden pflegt, darf man es keineswegs für zufällig oder für ein Zeichen der Erschlaffung ansehen, daß die Zahl der Stimmender so gering ge¬ wesen. Hätte die zahlreiche Bevölkerung der Stadt und des linken See¬ ufers sich nicht von der muthlosen Reflexion zu sehr beherrschen lassen, ihre Stimmgebung gegen die Demokraten sei doch eine vergebliche, so wäre ohne Zweifel auch das wichtige Steuergesetz verworfen worden und die Führer der letzteren Partei wären in die größte Verlegenheit gekommen. Es kann in dieser Beziehung der liberalen Partei der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie hier einen großen Fehler begangen, die Ihrigen nicht mit aller Energie zur allgemeinen Theilnahme an dem Votum anzufeuern. Die Demokraten hatten ihre Agitation mit großen Versprechungen be¬ gonnen, ja selbst mit poesiereichen Idealen, welche letztere jedoch schon wäh¬ rend der ersten Anfänge der Bewegung von dem trüben Wellenschlag der zum Theil künstlich erregten Volksletdenschaften verschlungen oder in häßliche Zerrbilder verwandelt wurden. Von den Versprechungen waren gerade die schönsten von vornherein praktisch unausführbar, andere bringen jetzt, nach¬ dem sie gehalten sind, mehr Lasten als Vortheile. Dies ist der Grund, warum so Viele, welche sich bisher der Bewegung angeschlossen, jetzt, da sie doch auch sich scheuen, ins andere Lager überzugehen und gegen die neuen, einst aus Parteiprincipien geforderten Gesetze zu stimmen, sich des Votums enthalten. Während die Demokraten früher bei jeder Gelegenheit mit ihren 60,000 Stimmen prahlten, dürfen sie jetzt jeder Abstimmung nur mit einem gewissen Bangen entgegenblicken. Während jene zunehmende Enthaltung als ein Beweis der bet der Menge allmälig eintretenden ruhigeren Ueber- legung und Prüfung und als ein Schwinden der Parteileidenschaft an¬ gesehen werden muß, wirkt diese Wahrnehmung bei den Führern der Demo¬ kraten in umgekehrtem Sinne: ihre Gereiztheit nimmt zu und ihre Leiden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/309>, abgerufen am 27.07.2024.