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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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selten bei Einzelnen fühlbar, im Allgemeinen ist man blind für die notorischen
Mängel unserer Constitution. Geht England auf dem Wege fortwährender
Ausbildung seiner Verfassung vorwärts, trachtet man in Frankreich danach,
die Ideen des Jahres 1789 zur Wirklichkeit zu machen, und ist man in
Deutschland mit der Neubildung des gesammten Staatsbaues bemüht, hier
glaubt man auf der Höhe angekommen zu sein. Derselbe Sinn, der den
Verfall unserer Republik der Vereinigten Niederlande verschuldete, ist noch
überall zu spüren.

Daß unsere politischen Einrichtungen trotzdem sind, was sie wirklich sind,
freisinnig und ein großer Schutz für bürgerliche Freiheit und geschäftlichen
Verkehr, das haben wir der Energie einzelner ausgezeichneter Männer, nicht
weniger der klugen Haltung des Hauses Oranien zu danken.

Eine stärkere Wechselwirkung zwischen Verfassung und Volk ist nur durch
bessere Erziehung, wissenschaftlichere Bildung des Volkes zu erzielen. Die
Mittel dazu -- bessere Schulen -- sind erst seit einigen Jahren genügend
beschafft, und wir müssen uns noch einige Zeit gedulden, ehe wir die Ein¬
wirkung derselben erkennen. Der Mann, der bisher den heilbringenden Fort¬
schritt repräsentirte, der Schöpfer unserer Constitution und vieler zeitgemäßer
Einrichtungen, Herr Thorbecke steht im hohen Greisenalter; bisher ist noch
Niemand im Stande gewesen, seine Aufgabe als Leiter der liberalen Partei
zu übernehmen. Einzelne sind ihm zwar mit junger Kraft vorbeigestrebt, sie
besitzen schwerlich den großartigen und freien Blick des alten Führers. In¬
zwischen warten äußerst nöthige Umbildungen, z. B. unseres elenden Steuer¬
systems, des academischen Unterrichts u. s. w. auf die Initiative einer bedeu¬
tenden Persönlichkeit. Unser jetziges Ministerium, welches zwar das Vertrauen
der Kammer im Ganzen reichlich genießt, ist sehr geeignet zur practischen
Leitung der Geschäfte, aber noch darf man zweifeln, ob ihm Muth und
Wille für große und selbständige organisatorische Aufgaben dauern wird,
denn das eben angenommene agrarische Gesetz der Colonien, die Vorlagen
zu Reform der Universitäten und des Vertheidigungssystems sind nicht vor¬
zugsweise ein eigenes Verdienst unseres Ministeriums. Das Erste war das
Product vieljähriger Berathschlagung; das Zweite zum größten Theil Erbtheil
des vorigen Ministeriums, und das Dritte ist ohne einen leitenden Gedanken,
und wird die alte Zerfahrenheit in unsern Militärsachen nur aufs neue
gesetzlich festzustellen.


selten bei Einzelnen fühlbar, im Allgemeinen ist man blind für die notorischen
Mängel unserer Constitution. Geht England auf dem Wege fortwährender
Ausbildung seiner Verfassung vorwärts, trachtet man in Frankreich danach,
die Ideen des Jahres 1789 zur Wirklichkeit zu machen, und ist man in
Deutschland mit der Neubildung des gesammten Staatsbaues bemüht, hier
glaubt man auf der Höhe angekommen zu sein. Derselbe Sinn, der den
Verfall unserer Republik der Vereinigten Niederlande verschuldete, ist noch
überall zu spüren.

Daß unsere politischen Einrichtungen trotzdem sind, was sie wirklich sind,
freisinnig und ein großer Schutz für bürgerliche Freiheit und geschäftlichen
Verkehr, das haben wir der Energie einzelner ausgezeichneter Männer, nicht
weniger der klugen Haltung des Hauses Oranien zu danken.

Eine stärkere Wechselwirkung zwischen Verfassung und Volk ist nur durch
bessere Erziehung, wissenschaftlichere Bildung des Volkes zu erzielen. Die
Mittel dazu — bessere Schulen — sind erst seit einigen Jahren genügend
beschafft, und wir müssen uns noch einige Zeit gedulden, ehe wir die Ein¬
wirkung derselben erkennen. Der Mann, der bisher den heilbringenden Fort¬
schritt repräsentirte, der Schöpfer unserer Constitution und vieler zeitgemäßer
Einrichtungen, Herr Thorbecke steht im hohen Greisenalter; bisher ist noch
Niemand im Stande gewesen, seine Aufgabe als Leiter der liberalen Partei
zu übernehmen. Einzelne sind ihm zwar mit junger Kraft vorbeigestrebt, sie
besitzen schwerlich den großartigen und freien Blick des alten Führers. In¬
zwischen warten äußerst nöthige Umbildungen, z. B. unseres elenden Steuer¬
systems, des academischen Unterrichts u. s. w. auf die Initiative einer bedeu¬
tenden Persönlichkeit. Unser jetziges Ministerium, welches zwar das Vertrauen
der Kammer im Ganzen reichlich genießt, ist sehr geeignet zur practischen
Leitung der Geschäfte, aber noch darf man zweifeln, ob ihm Muth und
Wille für große und selbständige organisatorische Aufgaben dauern wird,
denn das eben angenommene agrarische Gesetz der Colonien, die Vorlagen
zu Reform der Universitäten und des Vertheidigungssystems sind nicht vor¬
zugsweise ein eigenes Verdienst unseres Ministeriums. Das Erste war das
Product vieljähriger Berathschlagung; das Zweite zum größten Theil Erbtheil
des vorigen Ministeriums, und das Dritte ist ohne einen leitenden Gedanken,
und wird die alte Zerfahrenheit in unsern Militärsachen nur aufs neue
gesetzlich festzustellen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/280>, abgerufen am 27.07.2024.