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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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kratie des Geldes erstreckt ihre Herrschaft hier bis in die untersten Kreise der
Gesellschaft, und nur der ist nach hiesigem Begriff unabhängig, der durch
seine Vermögensverhältnisse im Stande ist müßig zu leben. Arbeit steht in
keinem Ansehen. Da nun selbstverständlich nur unabhängige Leute zu Volks¬
vertretern im Gemeinderath oder der Kammer gewählt werden können, so
bleibt der Geschäftsmann ausgeschlossen. Unsere Kaufleute, von denen man
verlangt, daß sie sich selbst in ihrer politischen Haltung nach ihren Kunden
richten, ziehen denn auch ihren Handel dem politischen Leben vor und küm¬
mern sich nur wenig um letzteres. So ist denn die Politik aus den engen
Kreis der Rentiers, Advocaten und höhern Beamten beschränkt.

In jedem Wahlbezirk besteht nur ein oder -- je nach der Zahl der
politischen Parteien -- mehrere Wahlvereine, die gewöhnlich nicht mehr als
dreißig Mitglieder zählen und bet Gelegenheit einer Wahl den Kandidaten
bestimmen. Die Wähler werden durch Plakate, fliegende Blätter und Zei¬
tungsartikel in ehrlicher und unehrlicher Weise bearbeitet, wobei Kirchthurms-
politik die Hauptrolle spielt. Ob der Kandidat den Wählern bekannt ist
oder ihr Vertrauen genießt, thut wenig zur Sache, wenn er nur durch einen
"liberalen", "conservativen" oder "kirchlichen" Wahlverein empfohlen ist. Auf
diese Weise wird die Wahl durch Wenige die Mitglieder der Wahlvereine
-- betrieben, Volksvertreter und Wähler bleiben sich meistens völlig fremd.
Zwar kann man den Abgeordneten aus seinen Reden und Handlungen in
der Kammer kennen lernen, aber nur äußerst Wenige geben sich die Mühe,
die Verhandlungen der Generalstaaten zu lesen, und der Deputirte, der im
Haag nur mit Seinesgleichen umgeht, bleibt den Verhältnissen und Bedürf¬
nissen seiner Wähler fremd genug.

Ist einmal die Wahl des Vertreters erfolgt, dann ruht das "Wähler¬
volk" bis zur nächsten Gelegenheit aus und bekümmert sich so wenig wie
möglich um den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten, um dieselben später
im vorkommenden Fall nach der Darstellung der Wahlvereine zu beurtheilen.
Leider ist unsere Bürgerclasse durch mangelhafte Bildung auch wenig im
Stande, sich ein selbständiges Urtheil über die Handlungen unserer Vertretung
zu bilden, und so kommt es, daß unsere politischen Einrichtungen, um die uns
manche andere Nation mit Recht beneidet, einem Volk zu Gute kommen,
welche dieselben durchaus nicht in rechter Weise zu würdigen weiß. Eine
organische Fortbildung unserer Zustände durch Intelligenz und treibende
Kraft im Volke selbst ist daher nicht möglich, und unsere Einrichtungen
erhalten dadurch einen stereotypen, versteinerten Character. Der Buchstabe
unserer geschriebenen Verfassung wird als ein unantastbares Heiligthum betrachtet.
Das Bedürfniß volksthümlicher Entwickelung besteht nicht, es macht sich


Grenzboten II. 1870. 35

kratie des Geldes erstreckt ihre Herrschaft hier bis in die untersten Kreise der
Gesellschaft, und nur der ist nach hiesigem Begriff unabhängig, der durch
seine Vermögensverhältnisse im Stande ist müßig zu leben. Arbeit steht in
keinem Ansehen. Da nun selbstverständlich nur unabhängige Leute zu Volks¬
vertretern im Gemeinderath oder der Kammer gewählt werden können, so
bleibt der Geschäftsmann ausgeschlossen. Unsere Kaufleute, von denen man
verlangt, daß sie sich selbst in ihrer politischen Haltung nach ihren Kunden
richten, ziehen denn auch ihren Handel dem politischen Leben vor und küm¬
mern sich nur wenig um letzteres. So ist denn die Politik aus den engen
Kreis der Rentiers, Advocaten und höhern Beamten beschränkt.

In jedem Wahlbezirk besteht nur ein oder — je nach der Zahl der
politischen Parteien — mehrere Wahlvereine, die gewöhnlich nicht mehr als
dreißig Mitglieder zählen und bet Gelegenheit einer Wahl den Kandidaten
bestimmen. Die Wähler werden durch Plakate, fliegende Blätter und Zei¬
tungsartikel in ehrlicher und unehrlicher Weise bearbeitet, wobei Kirchthurms-
politik die Hauptrolle spielt. Ob der Kandidat den Wählern bekannt ist
oder ihr Vertrauen genießt, thut wenig zur Sache, wenn er nur durch einen
„liberalen", „conservativen" oder „kirchlichen" Wahlverein empfohlen ist. Auf
diese Weise wird die Wahl durch Wenige die Mitglieder der Wahlvereine
— betrieben, Volksvertreter und Wähler bleiben sich meistens völlig fremd.
Zwar kann man den Abgeordneten aus seinen Reden und Handlungen in
der Kammer kennen lernen, aber nur äußerst Wenige geben sich die Mühe,
die Verhandlungen der Generalstaaten zu lesen, und der Deputirte, der im
Haag nur mit Seinesgleichen umgeht, bleibt den Verhältnissen und Bedürf¬
nissen seiner Wähler fremd genug.

Ist einmal die Wahl des Vertreters erfolgt, dann ruht das „Wähler¬
volk" bis zur nächsten Gelegenheit aus und bekümmert sich so wenig wie
möglich um den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten, um dieselben später
im vorkommenden Fall nach der Darstellung der Wahlvereine zu beurtheilen.
Leider ist unsere Bürgerclasse durch mangelhafte Bildung auch wenig im
Stande, sich ein selbständiges Urtheil über die Handlungen unserer Vertretung
zu bilden, und so kommt es, daß unsere politischen Einrichtungen, um die uns
manche andere Nation mit Recht beneidet, einem Volk zu Gute kommen,
welche dieselben durchaus nicht in rechter Weise zu würdigen weiß. Eine
organische Fortbildung unserer Zustände durch Intelligenz und treibende
Kraft im Volke selbst ist daher nicht möglich, und unsere Einrichtungen
erhalten dadurch einen stereotypen, versteinerten Character. Der Buchstabe
unserer geschriebenen Verfassung wird als ein unantastbares Heiligthum betrachtet.
Das Bedürfniß volksthümlicher Entwickelung besteht nicht, es macht sich


Grenzboten II. 1870. 35
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/279>, abgerufen am 01.09.2024.