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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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neue. Dazu kommt, daß fünf Achtel der Abgeordneten aus Juristen und
die übrigen meist aus sogenannten Specialitäten für indische und Militär-
Angelegenheiten bestehen.

Diese große Zahl Gesetzeskundiger verhindert aber nicht, daß unsere
Justiz sehr viel zu wünschen übrig läßt. Nicht gerade, daß unsere Gesetze
schlecht sind -- wir haben den Code Napoleon mit einigen Abänderun¬
gen -- aber unsere Justizpflege ist schlecht. Schon vor beinahe zehn
Jahren wurde ein Gesetz zu einer neuen Gerichtsorganisation votirt, aber bis
heute noch nicht zur Ausführung gebracht. Die Schrtftgelehrten unserer
Kammern würden es jedem Justizminister sehr übel nehmen, wollte er das von
ihnen beschlossene Gesetz in Wirksamkeit setzen. Manche nöthige Veränderung
unseres Gesetzbuches kommt ebenfalls nicht zu Stande, da man sich über den
Modus, wie sie zu bewirken sei, nicht einigen kann. Wir leben also ähnlich
wie der Patient, der dahinschwand, während die Doctoren über die Zweck¬
mäßigkeit der Mittel stritten. Wenn steh die Irrungen der Gerichtshöfe in
kurzer Zeit und in wichtigen Fällen so oft wiederholen, wie es bei
uns in den letzten Jahren der Fall gewesen, und wenn die Schlachtopfer der
Justiz durch die königliche Gnade gegen die Gerichte beschützt werden müssen,
dann verliert der Bürger das kostbare Gefühl der Sicherheit.

Drei eclatante Fälle solcher richterlicher Irrungen haben sehr viel Auf¬
sehen erregt. Vor ungefähr zwei Jahren wurde ein Mann wegen Mißhand¬
lung angeklagt, die er in der Uebereilung begangen hatte und zu 5 Jahren
entehrender Zuchthausstrafe verurtheilt. Eine halbe Stunde nach dem Spruch
überzeugte sich der Gerichtshof selbst, daß er nur zu einer correctionellen
Gefängnißstrafe hätte verurtheilen dürfen; aber eine Revision oder Vernich¬
tung des Urtheils war nicht möglich, und eine Veränderung der Strafe auf
dem Gnadenwege konnte das Entehrende des Spruchs nicht wegnehmen.
Ein zweiter Fall war im verflossenen Sommer, wo ein fünfzehnjähriges
Mädchen wegen Brandstiftung zum Tode verurtheilt wurde. Diese ver¬
kommene Person hatte aus Unwissenheit ihr Alter auf 22 Jahre angegeben,
und der Gerichtshof fällte unter Annahme voller Zurechnungsfähigkeit sein
Urtheil. Zufällig kam mehrere Monate später heraus, daß die Ver-
urtheilte noch ein Kind war und schon wegen ihrer Jugend nicht zum
Tode verurtheilt'werden durfte; außerdem hatten die Richter die Unter¬
suchung wegen der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten sehr oberflächlich
behandelt. Zwar war die Verurtheilte schon vor dieser Entdeckung von der
Krone zu gelinderer Strafe begnadigt, aber der Fall erregte die allgemeinste
Aufmerksamkeit und die zweite Kammer erwirkte eine vollständige Begnadi¬
gung. Es gilt dieser Fall bet uns als eine neuere Mahnung zur Abschaf¬
fung der Todesstrafe. Zwar werden thatsächlich schon lange keine Todes-


neue. Dazu kommt, daß fünf Achtel der Abgeordneten aus Juristen und
die übrigen meist aus sogenannten Specialitäten für indische und Militär-
Angelegenheiten bestehen.

Diese große Zahl Gesetzeskundiger verhindert aber nicht, daß unsere
Justiz sehr viel zu wünschen übrig läßt. Nicht gerade, daß unsere Gesetze
schlecht sind — wir haben den Code Napoleon mit einigen Abänderun¬
gen — aber unsere Justizpflege ist schlecht. Schon vor beinahe zehn
Jahren wurde ein Gesetz zu einer neuen Gerichtsorganisation votirt, aber bis
heute noch nicht zur Ausführung gebracht. Die Schrtftgelehrten unserer
Kammern würden es jedem Justizminister sehr übel nehmen, wollte er das von
ihnen beschlossene Gesetz in Wirksamkeit setzen. Manche nöthige Veränderung
unseres Gesetzbuches kommt ebenfalls nicht zu Stande, da man sich über den
Modus, wie sie zu bewirken sei, nicht einigen kann. Wir leben also ähnlich
wie der Patient, der dahinschwand, während die Doctoren über die Zweck¬
mäßigkeit der Mittel stritten. Wenn steh die Irrungen der Gerichtshöfe in
kurzer Zeit und in wichtigen Fällen so oft wiederholen, wie es bei
uns in den letzten Jahren der Fall gewesen, und wenn die Schlachtopfer der
Justiz durch die königliche Gnade gegen die Gerichte beschützt werden müssen,
dann verliert der Bürger das kostbare Gefühl der Sicherheit.

Drei eclatante Fälle solcher richterlicher Irrungen haben sehr viel Auf¬
sehen erregt. Vor ungefähr zwei Jahren wurde ein Mann wegen Mißhand¬
lung angeklagt, die er in der Uebereilung begangen hatte und zu 5 Jahren
entehrender Zuchthausstrafe verurtheilt. Eine halbe Stunde nach dem Spruch
überzeugte sich der Gerichtshof selbst, daß er nur zu einer correctionellen
Gefängnißstrafe hätte verurtheilen dürfen; aber eine Revision oder Vernich¬
tung des Urtheils war nicht möglich, und eine Veränderung der Strafe auf
dem Gnadenwege konnte das Entehrende des Spruchs nicht wegnehmen.
Ein zweiter Fall war im verflossenen Sommer, wo ein fünfzehnjähriges
Mädchen wegen Brandstiftung zum Tode verurtheilt wurde. Diese ver¬
kommene Person hatte aus Unwissenheit ihr Alter auf 22 Jahre angegeben,
und der Gerichtshof fällte unter Annahme voller Zurechnungsfähigkeit sein
Urtheil. Zufällig kam mehrere Monate später heraus, daß die Ver-
urtheilte noch ein Kind war und schon wegen ihrer Jugend nicht zum
Tode verurtheilt'werden durfte; außerdem hatten die Richter die Unter¬
suchung wegen der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten sehr oberflächlich
behandelt. Zwar war die Verurtheilte schon vor dieser Entdeckung von der
Krone zu gelinderer Strafe begnadigt, aber der Fall erregte die allgemeinste
Aufmerksamkeit und die zweite Kammer erwirkte eine vollständige Begnadi¬
gung. Es gilt dieser Fall bet uns als eine neuere Mahnung zur Abschaf¬
fung der Todesstrafe. Zwar werden thatsächlich schon lange keine Todes-


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[0277] neue. Dazu kommt, daß fünf Achtel der Abgeordneten aus Juristen und die übrigen meist aus sogenannten Specialitäten für indische und Militär- Angelegenheiten bestehen. Diese große Zahl Gesetzeskundiger verhindert aber nicht, daß unsere Justiz sehr viel zu wünschen übrig läßt. Nicht gerade, daß unsere Gesetze schlecht sind — wir haben den Code Napoleon mit einigen Abänderun¬ gen — aber unsere Justizpflege ist schlecht. Schon vor beinahe zehn Jahren wurde ein Gesetz zu einer neuen Gerichtsorganisation votirt, aber bis heute noch nicht zur Ausführung gebracht. Die Schrtftgelehrten unserer Kammern würden es jedem Justizminister sehr übel nehmen, wollte er das von ihnen beschlossene Gesetz in Wirksamkeit setzen. Manche nöthige Veränderung unseres Gesetzbuches kommt ebenfalls nicht zu Stande, da man sich über den Modus, wie sie zu bewirken sei, nicht einigen kann. Wir leben also ähnlich wie der Patient, der dahinschwand, während die Doctoren über die Zweck¬ mäßigkeit der Mittel stritten. Wenn steh die Irrungen der Gerichtshöfe in kurzer Zeit und in wichtigen Fällen so oft wiederholen, wie es bei uns in den letzten Jahren der Fall gewesen, und wenn die Schlachtopfer der Justiz durch die königliche Gnade gegen die Gerichte beschützt werden müssen, dann verliert der Bürger das kostbare Gefühl der Sicherheit. Drei eclatante Fälle solcher richterlicher Irrungen haben sehr viel Auf¬ sehen erregt. Vor ungefähr zwei Jahren wurde ein Mann wegen Mißhand¬ lung angeklagt, die er in der Uebereilung begangen hatte und zu 5 Jahren entehrender Zuchthausstrafe verurtheilt. Eine halbe Stunde nach dem Spruch überzeugte sich der Gerichtshof selbst, daß er nur zu einer correctionellen Gefängnißstrafe hätte verurtheilen dürfen; aber eine Revision oder Vernich¬ tung des Urtheils war nicht möglich, und eine Veränderung der Strafe auf dem Gnadenwege konnte das Entehrende des Spruchs nicht wegnehmen. Ein zweiter Fall war im verflossenen Sommer, wo ein fünfzehnjähriges Mädchen wegen Brandstiftung zum Tode verurtheilt wurde. Diese ver¬ kommene Person hatte aus Unwissenheit ihr Alter auf 22 Jahre angegeben, und der Gerichtshof fällte unter Annahme voller Zurechnungsfähigkeit sein Urtheil. Zufällig kam mehrere Monate später heraus, daß die Ver- urtheilte noch ein Kind war und schon wegen ihrer Jugend nicht zum Tode verurtheilt'werden durfte; außerdem hatten die Richter die Unter¬ suchung wegen der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten sehr oberflächlich behandelt. Zwar war die Verurtheilte schon vor dieser Entdeckung von der Krone zu gelinderer Strafe begnadigt, aber der Fall erregte die allgemeinste Aufmerksamkeit und die zweite Kammer erwirkte eine vollständige Begnadi¬ gung. Es gilt dieser Fall bet uns als eine neuere Mahnung zur Abschaf¬ fung der Todesstrafe. Zwar werden thatsächlich schon lange keine Todes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/277>, abgerufen am 27.07.2024.