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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Von größerer Bedeutung sind in den letzten Wochen die Verhandlungen
unserer Kammern gewesen. Nachdem seit Anfang der fünfziger Jahre viel
berathschlagt und viel Unschlüssigkeit und Zerfahrenheit kundgethan wurde,
ist endlich ein Gesetz zu Stande gekommen, das als erster Schritt zur Aenderung
unserer Colonialwirthschaft anzusehen ist. Nach diesem für Ostindien bestimm¬
ten "agrarischen Gesetz" ist es den Javanen künftig möglich, individuellen
Grundbesitz zu erlangen, also in die bestehende Einrichtung des Communal-
besitzes, dieses Hemmniß der wirthschaftlichen Entwickelung, Bresche zu schießen.
Zwar wird die angebahnte Veränderung nur ganz allmälig vor sich gehen
-- denken wir daran, daß bis vor wenigen Jahren solch mittelalterlicher
Gemeinbesitz noch in unserem eigenen Lande hin und wieder vorkam, viel¬
leicht noch besteht. -- Aber die Hauptsache ist der Sieg, den die Partei in
unseren Kammern davon getragen hat, welche gesunde öconomische Grund¬
sätze man auch in Indien zur Anwendung bringen will. Leider dürfen wir
nach diesem ersten Erfolg sobald keinen zweiten erwarten, da Zusammensetzung
und Gewohnheiten unserer Kammern, sowie die Theilnahmlosigkeit unserer
Nation bei den meisten öffentlichen Angelegenheiten kaum in nächster Zukunft
Anstrengungen zu neuen Entschlüssen hoffen lassen. Der Gesetzentwurf zur
Regulirung der Zuckercultnr, der nächstens zur Berathschlagung kommen
soll, ist noch größtenteils im Geiste des alten Systems; er privilegirt den
Zwang für viele Jahre und macht die Wirkung des agrarischen Gesetzes
theilweise illusorisch.

Wir sind daran gewöhnt, daß Alles bei uns und nicht zuletzt bei un¬
serer Volksvertretung langsam geht. Zwar kann man den Kammern nicht
den Vorwurf machen, daß sie zu wenig Zeit auf ihre Arbeiten verwenden.
Die zweite Kammer hält gewöhnlich durch acht Monate ihre Sitzungen, ein
Umstand, der aus alter Tradition überkommen, aber sehr nachtheilig ist. Das
Amt eines Abgeordneten ist bei uns ein Ehrenamt, mit dem sich jede andere
Berufsthätigkeit schlecht verbindet, und das noch einigermaßen durch den
alten Glanz jener Generalstaaten verklärt wird, die ausländische Fürsten zu
ihren Söldlingen machten. Unsere Deputirten müssen deshalb vermögende
Leute sein. Die meisten derselben schlagen ihren Wohnsitz in Haag auf, und
sind sie einmal in die Hofsphäre gelangt, dann wenden sie Alles an, um bei
einer Erneuerungswahl ihren Sitz in der Kammer zu behalten. Dies wird
leicht, weil die Zahl befähigter Candidaten nicht groß ist. Das Festhalten
der Sitze durch die Vermögenden schließt zu sehr Talente aus unseren Kam¬
mern aus, bewahrt viele mittelmäßige Capacitäten, welche einer Coterie an¬
gehören, so daß die Familienregierung aus den Zeiten der Republik mit einiger
Verschlechterung auf unsere Zustände übertragen ist. Nur von Zeit zu Zeit
erscheint eine neue Persönlichkeit auf dem Forum und damit ein frisches Ele-


Von größerer Bedeutung sind in den letzten Wochen die Verhandlungen
unserer Kammern gewesen. Nachdem seit Anfang der fünfziger Jahre viel
berathschlagt und viel Unschlüssigkeit und Zerfahrenheit kundgethan wurde,
ist endlich ein Gesetz zu Stande gekommen, das als erster Schritt zur Aenderung
unserer Colonialwirthschaft anzusehen ist. Nach diesem für Ostindien bestimm¬
ten „agrarischen Gesetz" ist es den Javanen künftig möglich, individuellen
Grundbesitz zu erlangen, also in die bestehende Einrichtung des Communal-
besitzes, dieses Hemmniß der wirthschaftlichen Entwickelung, Bresche zu schießen.
Zwar wird die angebahnte Veränderung nur ganz allmälig vor sich gehen
— denken wir daran, daß bis vor wenigen Jahren solch mittelalterlicher
Gemeinbesitz noch in unserem eigenen Lande hin und wieder vorkam, viel¬
leicht noch besteht. — Aber die Hauptsache ist der Sieg, den die Partei in
unseren Kammern davon getragen hat, welche gesunde öconomische Grund¬
sätze man auch in Indien zur Anwendung bringen will. Leider dürfen wir
nach diesem ersten Erfolg sobald keinen zweiten erwarten, da Zusammensetzung
und Gewohnheiten unserer Kammern, sowie die Theilnahmlosigkeit unserer
Nation bei den meisten öffentlichen Angelegenheiten kaum in nächster Zukunft
Anstrengungen zu neuen Entschlüssen hoffen lassen. Der Gesetzentwurf zur
Regulirung der Zuckercultnr, der nächstens zur Berathschlagung kommen
soll, ist noch größtenteils im Geiste des alten Systems; er privilegirt den
Zwang für viele Jahre und macht die Wirkung des agrarischen Gesetzes
theilweise illusorisch.

Wir sind daran gewöhnt, daß Alles bei uns und nicht zuletzt bei un¬
serer Volksvertretung langsam geht. Zwar kann man den Kammern nicht
den Vorwurf machen, daß sie zu wenig Zeit auf ihre Arbeiten verwenden.
Die zweite Kammer hält gewöhnlich durch acht Monate ihre Sitzungen, ein
Umstand, der aus alter Tradition überkommen, aber sehr nachtheilig ist. Das
Amt eines Abgeordneten ist bei uns ein Ehrenamt, mit dem sich jede andere
Berufsthätigkeit schlecht verbindet, und das noch einigermaßen durch den
alten Glanz jener Generalstaaten verklärt wird, die ausländische Fürsten zu
ihren Söldlingen machten. Unsere Deputirten müssen deshalb vermögende
Leute sein. Die meisten derselben schlagen ihren Wohnsitz in Haag auf, und
sind sie einmal in die Hofsphäre gelangt, dann wenden sie Alles an, um bei
einer Erneuerungswahl ihren Sitz in der Kammer zu behalten. Dies wird
leicht, weil die Zahl befähigter Candidaten nicht groß ist. Das Festhalten
der Sitze durch die Vermögenden schließt zu sehr Talente aus unseren Kam¬
mern aus, bewahrt viele mittelmäßige Capacitäten, welche einer Coterie an¬
gehören, so daß die Familienregierung aus den Zeiten der Republik mit einiger
Verschlechterung auf unsere Zustände übertragen ist. Nur von Zeit zu Zeit
erscheint eine neue Persönlichkeit auf dem Forum und damit ein frisches Ele-


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[0276] Von größerer Bedeutung sind in den letzten Wochen die Verhandlungen unserer Kammern gewesen. Nachdem seit Anfang der fünfziger Jahre viel berathschlagt und viel Unschlüssigkeit und Zerfahrenheit kundgethan wurde, ist endlich ein Gesetz zu Stande gekommen, das als erster Schritt zur Aenderung unserer Colonialwirthschaft anzusehen ist. Nach diesem für Ostindien bestimm¬ ten „agrarischen Gesetz" ist es den Javanen künftig möglich, individuellen Grundbesitz zu erlangen, also in die bestehende Einrichtung des Communal- besitzes, dieses Hemmniß der wirthschaftlichen Entwickelung, Bresche zu schießen. Zwar wird die angebahnte Veränderung nur ganz allmälig vor sich gehen — denken wir daran, daß bis vor wenigen Jahren solch mittelalterlicher Gemeinbesitz noch in unserem eigenen Lande hin und wieder vorkam, viel¬ leicht noch besteht. — Aber die Hauptsache ist der Sieg, den die Partei in unseren Kammern davon getragen hat, welche gesunde öconomische Grund¬ sätze man auch in Indien zur Anwendung bringen will. Leider dürfen wir nach diesem ersten Erfolg sobald keinen zweiten erwarten, da Zusammensetzung und Gewohnheiten unserer Kammern, sowie die Theilnahmlosigkeit unserer Nation bei den meisten öffentlichen Angelegenheiten kaum in nächster Zukunft Anstrengungen zu neuen Entschlüssen hoffen lassen. Der Gesetzentwurf zur Regulirung der Zuckercultnr, der nächstens zur Berathschlagung kommen soll, ist noch größtenteils im Geiste des alten Systems; er privilegirt den Zwang für viele Jahre und macht die Wirkung des agrarischen Gesetzes theilweise illusorisch. Wir sind daran gewöhnt, daß Alles bei uns und nicht zuletzt bei un¬ serer Volksvertretung langsam geht. Zwar kann man den Kammern nicht den Vorwurf machen, daß sie zu wenig Zeit auf ihre Arbeiten verwenden. Die zweite Kammer hält gewöhnlich durch acht Monate ihre Sitzungen, ein Umstand, der aus alter Tradition überkommen, aber sehr nachtheilig ist. Das Amt eines Abgeordneten ist bei uns ein Ehrenamt, mit dem sich jede andere Berufsthätigkeit schlecht verbindet, und das noch einigermaßen durch den alten Glanz jener Generalstaaten verklärt wird, die ausländische Fürsten zu ihren Söldlingen machten. Unsere Deputirten müssen deshalb vermögende Leute sein. Die meisten derselben schlagen ihren Wohnsitz in Haag auf, und sind sie einmal in die Hofsphäre gelangt, dann wenden sie Alles an, um bei einer Erneuerungswahl ihren Sitz in der Kammer zu behalten. Dies wird leicht, weil die Zahl befähigter Candidaten nicht groß ist. Das Festhalten der Sitze durch die Vermögenden schließt zu sehr Talente aus unseren Kam¬ mern aus, bewahrt viele mittelmäßige Capacitäten, welche einer Coterie an¬ gehören, so daß die Familienregierung aus den Zeiten der Republik mit einiger Verschlechterung auf unsere Zustände übertragen ist. Nur von Zeit zu Zeit erscheint eine neue Persönlichkeit auf dem Forum und damit ein frisches Ele-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/276>, abgerufen am 27.07.2024.